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Ein ganz wunderbarer Obatzter
Meine Wut verlangt nach Marschschritt mit eisern beschlagenen Absätzen, meine Enttäuschung nach müdem Schlurfen. Also laufe ich normal. Nur für mein aufgepulvertes Innenleben finde ich keine goldene Mitte. Tief in mir ist die Hölle los.
Brennt meine Gattin mit einem Hallodri durch! Primas nennt er sich, erster Geiger. Ich könnte beide erwürgen, ihn zuerst. Oder die Stadt anzünden, Amok laufen, mein Theater in die Luft sprengen.
Jedoch können andere nichts dafür – ich muss es mit mir selbst ausmachen.
Auf der Brücke zieht und bläst es gewaltig. Ich ziehe die Wollmütze runter und den Kragen höher.
Janosch heißt er – wie auch sonst? Er taugt nichts. Fiedelt sich durchs Leben, nimmt’s, wie es ist oder kommt. Und dieser Strizzi spannt mir die Frau aus!
Aber verdammt, Lorena lässt sich nicht einfach ausspannen! Sie muss es so gewollt haben.
Na ja, der Janosch, fesch ist er schon, und stattlich. Der weiß, wie man auch ohne Joker Stiche macht. Ich kann’s ihm noch nicht einmal verdenken, bei einer solchen Frau.
Der Janosch und die Lorena – ein Traumpaar. Geigenartist und Sozialaktivistin.
Meine Welt ist die Kunst, sind die großen Gefühle, die Auseinandersetzung mit allem, was unser Leben ausmacht. Aber Leute wie Janosch wollen keine Fragen stellen, keine Probleme lösen; eher machen sie welche. Sie bleiben flach und setzten auf bewährte Tricks.
Auf sentimentalen Scheißdreck! Geigengewimmer und Geschluchze. Das verklebt das Gehirn, macht kluge Menschen zu Idioten. Und wenn dieser Wundergeiger ein schmerzverzerrtes Gesicht macht, weil rote Rosen keine Treue garantieren, dabei die Zähne blitzen lässt, auch die Augen, sich das schweißverklebte Haar aus der Stirn streicht, das blauschwarze – und im nächsten Moment einen rasenden Csárdás hinlegt, dann knickt bei dieser Mischung aus Sensibilität und Rage jede Frau ein. Und ja, damit kann ich leider nicht dienen. Ich bin Verstandesmensch.
Habe andere Qualitäten: Ich bin prominent, wohlhabend, verlässlich. Frauen suchen so etwas.
Und wenn sie’s haben, machen sie’s kaputt.
Eine Diplom-Soziologin erliegt dem Schmachten seiner Fiedel, dem Hundeblick der sanften Augen – der tiefbraunen Augen dieses falschen Hundes.
Ich kenne diese Augen anders. Das war in meinem Lieblingslokal ‚Vasmacska’. Eine Männerrunde hatte sich befiedeln lassen, konnte nicht warten, bis ein Lied zu Ende war, schrie schon die nächsten Wünsche heraus. Janosch und seine Bande spielten wie die Teufel, aber als es ans Bezahlen ging, wurden sie ausgelacht. Böse gewütet hat er da. Auch im Faustkampf ist er Primas.
Um Lorena würde ich nicht mit ihm kämpfen mögen, nicht auf diese Weise. Doch mit meinen Waffen würde ich ihn schlagen, mit den Waffen des Geistes.
Für die hat sich auch Lorena entschieden.
Sie hat es auf die Uni geschafft, jetzt will sie etwas zurückgeben und helfen. Diese Einstellung finde ich bewundernswert. Lorena ist nun zuständig für die Frauen der Minderheiten in ihrem Bezirk, in unserer neuen Nachbarschaft.
Die gehen putzen oder auf dem Strich, die älteren wahrsagen oder ziehen mit den Enkeln bettelnd durch die Straßen – und sie gehen Lorena aus dem Weg, obwohl sie eine von ihnen ist. Sie wollen nicht, dass jemand im Staatsauftrag die Nase in ihre Angelegenheiten steckt. Ihr Broterwerb ist schon beschissen genug; die Weisheiten der Studierten brauchen sie nicht. Sie müssen andere Dinge wissen.
Die Männer sitzen im Hof auf ausrangierten Canapés, rauchen, spielen Karten, genießen die Nachmittagssonne. Sie könnten die herunterhängende Dachrinne reparieren, das kaputte Fenster, die schiefe Tür. Jemand könnte den Hof aufräumen, den Müll beseitigen – aber sie tun’s nicht.
Das Quirlen der Welt erreicht sie nicht, es ist ihnen egal. Sie residieren in ihrem Machtbereich und haben hier das Sagen.
Nachdem Lorena und ich hierher gezogen waren, wollte ich mich ihnen nähern, beinahe anbiedern. Lud sie ein zum Bier, zu extrascharfen Hähnchenflügeln, doch es blieb ein distanziertes Verhältnis. Gut möglich, dass sie mir mein Interesse an ihnen, am harmonischen Zusammenleben nicht abnahmen; dass ich sie nicht überzeugte. Und ehrlich gesagt, wollte ich nur Lorena damit imponieren – diese Leute kümmern mich nicht. Es gibt einen Zaun zwischen uns. Nicht zum Anfassen, aber ohnehin will keiner drübersteigen.
Nachdem ich meine Bemühungen um eine innigere Nachbarschaft eingestellt hatte, passierte nichts mehr. Zumindest nichts Positives; Enttäuschungen gibt es überall.
Ich, der Zugezogene, gehöre nicht zu ihnen – so ist es nun einmal. Und einem Gespräch auf Augenhöhe ist mein Status im Wege. Aber den will ich weder ablegen noch leugnen, ich habe zu viel dafür tun müssen.
Es war Lorenas Idee, hierher zu ziehen, ins Problemviertel der Stadt. Ich war in sie verliebt bis über beide Ohren und habe mich überreden lassen.
Und es war ja auch lustig, frischverliebt mit einer bildschönen Frau Möbel vom Flohmarkt zu holen. In diesen gefühlsträchtigen Höhenflügen haben wir sie ‚Vintage’ genannt. Vieles musste ich in der Theaterschreinerei ausbessern lassen, doch mit Lorenas Fantasie entstand ein Winzkosmos mit Schleiern im Erker, goldenen Tapeten, Bambus und Velours.
Je länger ich hier wohne, desto verunsicherter bin ich. Mein gewohnter Anspruch wird nicht erfüllt, trotzdem fühle ich mich in unserer La Bohème-Wohnung wohler als in meinem Appartement in Buda.
Vorerst habe ich es behalten. Mein Auto habe ich bei Freunden untergestellt, jetzt fahre ich einen ramponierten Lada. Liebe als Himmelsmacht. Meine Traumadresse ist das nicht. Aber dafür bekam ich meine Traumfrau.
Über zweihundert Leute zur Hochzeit! Fast ihre ganze Sippe war da.
Okay, ich hab mitgespielt. Einige überreichten unsägliche Geschenke, ein paar Geldkuverts waren dabei – andere brachten noch zehn Freunde mit und beklauten uns, nachdem sie uns beklatschten.
Lorenas Augen hatten meinen Verstand ausgeschaltet. Sie hatte mich vor allen anderen bevorzugt! Auch vor denen, die mehr zu bieten hatten, als ich – körperlich gemeint.
Ich war völlig aus dem Häuschen. Eine schönere Frau konnte ich mir nicht vorstellen. Sie hat eine wundervolle Haut, dunkler als meine, makellos, wie Samt und Seide. Sie ist groß und schlank, fast eine Idee größer als ich, und sie bewegt sich wie eine Herrscherin, geschmeidig und elegant. Sie hat eine enorme Ausstrahlung.
Da sollte keiner ihrer Wünsche unerfüllt bleiben.
Und jetzt dieses Desaster. Ich komme von der Arbeit und bin eh schon mit den Nerven am Ende; Schauspieler zu dirigieren ist Schwerstarbeit. Sehr empfindlich sind sie und hochexplosiv, rechthaberisch und zickig. Wir kommen nicht recht voran mit dem neuen Stück, das macht mich noch wahnsinnig.
Ich gehe in die blutrote Kochecke mit den Rapsfeldern und will mir einen Espresso machen. Ihr Zettel liegt auf der Kaffeedose: „Lieber Gyula, es tut mir sehr leid ...“
Ach, ich will’s gar nicht wiederholen.
Das ist völlig unmöglich. Wie stehe ich denn da? Immer in Begleitung der schönsten Frau weit und breit und nun?
Aber diese Schmach werde ich ihr heimzahlen! Nein, ich werde sie nicht schlagen – ich habe eine raffiniertere Idee. Und sie wird bis an ihr Lebensende an dieser Schuld zu tragen haben.
Das Eiswasser fließt nicht, es scheppert und schiebt, halbgefroren im schmutzigen Grau. Zähflüssig drückt es gegen die Sockel der Brückenpfeiler, aber die sind steinern und spitzgeformt wie der Bug eines Eisbrechers.
Dringen die von mir inszenierten Tragödien bis in mein Privatleben vor? Kommt das große Kismet über mich und überredet mich, von der Brücke zu springen – oder ist das mein eigener Entschluss?
Hat sie mich aus Berechnung geheiratet? Steht sie gern im Blitzlichtgeflacker? War es das Geld? Ha, dann kann sie jetzt mit ihrem Janosch durch die Kneipen ziehen!
Mit kalten Füßen und noch kälterem Herzen stehe ich übers Geländer gebeugt und der Frost haucht mir auf jede Schulter vier silberne Streifen.
Ich bin Kapitän und entscheide. Ich öffne noch einmal die Flasche, verschlucke mich, huste und japse nach Luft, als ob ich schon in den Eisfluss gesprungen wäre. Ich stelle mir die fetten Schlagzeilen vor: „Regisseur Gyula L. wählt aus Liebesleid den Freitod“, „Treulose Frau – Intendant springt in den Tod!“
Die bereiften Baumriesen der Margareteninsel erscheinen mir schemenhaft wie Mont-Saint-Michel im Dunst. Ein gigantisches Bühnenbild für meinen letzten Auftritt; knirschendes Gletscherwasser zu meinen Füßen, und diffuses Licht als maßgeschneiderte Beleuchtung für meinen Abgang. Etwas Wagner im Hintergrund wäre schön.
Der Regisseur in mir erkennt die Szenerie als ideal für den Todessprung eines düpierten Künstlers; störend ist, dass ich der Protagonist sein soll.
Flussaufwärts zunehmende Düsternis, verlorenes Land, fast unbewohnbar.
Hinter meinem Rücken die helle Millionenstadt mit Kultur und Brutalität, Falschheit und Berechnung, geplagten Menschen. Die mächtige Brücke liegt verlassen im Grau. Eine Straßenbahn fährt hinter meinem Rücken vorbei, wenige Autos nur, keine Fußgänger.
Hier wird mich niemand zurückhalten. Niemand wird mich ansprechen, ob ich es nicht noch einmal überlegen will. Ich denke an Lorena, und plötzlich packe ich das Eisengeländer bis zum Schmerz. Ich werde sie bestrafen. Janosch hat zu unserer Hochzeit gespielt – diese hinterhältigen Zwei!
Ich trinke den Rest und will wie in einem russischen Roman die Flasche mit einer melancholischen, resignierenden Geste ins eisige Geschiebe werfen.
Nein, ich will sie splittern hören! Also ziele ich auf den Granitsockel – und das Glas zerbirst, wie gleich mein Leben zerbersten wird; ich empfinde Genugtuung, die kleine Schwester der Befriedigung. Das wird Lorena noch leid tun.
Diese Geste des Wegwerfens von etwas, was man besitzt, auch wenn es nur eine ausgetrunkene Schnapsflasche ist, oder ein Leben: Da ist so viel Großmut und Souveränität dabei! Entscheidungsgewalt, Ausdruck eines starken Charakters, der auch loslassen kann – und die Weisheit des Spielers, der verstanden hat und von den Klippen springt.
Dieser geglückte Wurf ist ein befreiender Akt. Das Splittern klingt nach, erstaunlich hell und optimistisch. Plötzlich bin ich mir nicht mehr ganz sicher, ...
Ich kann mich doch auch für das Gegenteil entscheiden. Bin ein freier Mann, niemand zwingt mich zu irgendwas – auch Lorena nicht!
Nun, letztlich bin ich ein feiger Hund und kneife.
Ich werde, ich muss es mit dem Leben noch einmal versuchen. Einfach wird das nicht.
Wie ein Romancier in seiner Geschichte lebt, so lebe ich im Bühnenstück. Ich muss nur daran denken, beim Verlassen des Theaters umzuschalten.
Ein paar Scheine habe ich noch – warum sollten die nass werden? So steuere ich ‚Vasmacska’ an. Mir ist vor Hunger schlecht.
Ich kriege meinen Standardteller ‚Körözött’. Das ist ‚Obatzter’ mit reichlich Rosenpaprika, dazu dicke Brotscheiben. Schmeckt heute anders, besser, viel besser. Und sieht hübscher aus als sonst. Schnittlauch ist darüber gestreut, ein paar Radieschenscheiben und rote Zwiebelringe sind auf den Quarkberg drapiert und noch etwas Petersilie. Mir erscheint das als kleines Zeichen der Liebe in der Welt, als ein Rest von Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit, gegen die Netzwerke der gegnerischen Seite, die Multis, das Großkapital – und natürlich auch gegen den Verrat in den eigenen Reihen. Ich hab’s ja gerade selbst erfahren.
Mit gestilltem Hunger überschaue ich das Lokal. Fast jeder Tisch ist besetzt, die meisten Gäste essen. Für diese Weinschänke ist das auffällig, denn der Koch Ferenc säuft mehr, als er kocht.
Sollte er sich doch seiner Kochehre besonnen haben und sich nicht mehr dem Schnaps, sondern der Kocherei zuwenden?
Ich bin beim zweiten Krügel und stecke meine Nase durch die Küchenritze. Der Dicke ist nicht da. Eine ungemein attraktive Frau hält in ihrer Arbeit inne und dreht sich um; so begegnen sich unsere Blicke und verhakeln sich. Keine Ahnung, wie lang wir uns fasziniert angeschaut haben; als bläulicher Rauch aufsteigt, besinnt sie sich ihres Auftrags und rettet die Koteletts vor dem Verschmoren.
Ich bin schuld. Steht ja an der Tür: „Kein Zutritt!“ Diese wunderbare schlanke Frau mit dem feinen Gesicht und dicken Braunhaar schaut mich mit rollenden Augen an und lächelt dabei. Ich beauftrage den Kellner, der schönen Köchin einen Sauerkirschpalinka zu bringen.
Bald danach höre ich hinter mir eine Stimme, warm und schmeichelnd wie Samt, woher ich denn wüsste, dass dieses saugute Zeugs ihr Lieblingsgetränk sei. Jetzt, zum Feierabend, dürfe sie das ohne schlechtes Gewissen genießen.
„Sie haben Feierabend?“, frage ich überflüssigerweise. „Dann nehmen Sie doch bitte einen Moment Platz!“
Ganz selbstverständlich lässt sie sich nieder, und ich sage: „Hab’s schon am Obatzt’n gemerkt, dass der Ferenc nicht mehr da ist. War kein schlechter Kerl, aber ein Verlust ist das nicht.“
“Was haben Sie denn gemerkt?“, will sie wissen.
Sie will gelobt werden – und das tue ich reinen Herzens: „Der war nicht so klumpig wie beim Ferenc, sondern cremig und locker; und nicht wie von einem Maurer aufgehäuft, sondern elegant angerichtet und schön garniert. Das mit dem grob gemahlenen Kümmel und weißen Pfeffer haben Sie gut hingekriegt; auch die Zwiebeln waren viel feiner geschnitten. Eigentlich hat mich Ihr Obatzter wieder mit der Welt versöhnt.“
„Das klingt ja ganz wunderbar“, sagt sie. „War’s denn so schlimm?“
„Es war die Hölle!“, bestätige ich. „Ich bin wohl leicht verletzlich. Meine Frau ist mit einem Stehgeiger durchgebrannt. Den halben Abend stand ich auf der Brücke und wollte springen, aber vielleicht hat mir’s gedämmert, dass sich das nicht lohnt. Der Bauch ist oft klüger als der Kopf.“
Ich bilde mir wohl ein, dass sie prüfend auf meinen Bauch schaut.
„Jedenfalls sitzen Sie jetzt hier“, stellt sie fest und entfernt mit der Serviette etwas aus meinem Bart, „und haben Obatzt’n gegessen.“
„Der war sehr gut, aber noch besser ist, dass ich mit Ihnen zusammensitze“, fasse ich den Abend zusammen. Ich will sie in einer bestimmten Weise anschauen, vielleicht fragend-verliebt oder so, würde gern meine Hand auf ihre legen.
„Ja, das finde ich auch schön, und vielen Dank für den Sauerkirsch.“ Sie erhebt sich und sagt: „Tut mir leid, aber halb eins fährt die letzte Bahn. Ich muss los.“
„Was, wie?“, schalte ich blitzschnell, „Nehmen Sie auch die 26? Jessas, ist das schon so spät?“
„Ja, es ist Viertel nach zwölf. Aber wieso: auch die 26?“
„Na, ich muss doch auch irgendwie nach Hause“, flunkere ich.
„Und wo genau ist das, wenn ich das fragen darf?“
Mit meiner durch die Sozialarbeit meiner Frau bedingten Adresse würde ich mich unmöglich machen, und zu meiner Reserveadresse fährt keine Straßenbahn.
„In der, äh, ach wie heißt sie doch gleich“, komme ich ins Schwimmen, und gehe gleich unter: „Bin da grad erst eingezogen, ehm ...“
Sie hat so ein schönes Lachen.