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Ein ganz normaler Morgen
Es war ein feuchter und bedeckter Morgen. Er strahlte so viel Unbehagen aus, dass die Vögel diesen nicht einmal als würdig erachteten, von ihrem Gesang begleitet zu werden. Die Feuchtigkeit in der Luft legte sich auf die Bäume, die Häuser, den Asphalt nieder und brachte ihnen damit eine Kälte entgegen, die sie aufnahmen und weiterverbreiteten. Eine Ameise versuchte ein kleines Blatt auf ihrem Rücken in den Bau zu tragen, irrte jedoch bloß kläglich umher und verlor angesichts des Dunsts und drückenden Geruchs die Orientierung. So zog die Stille ein, machte es sich auf der Nebeldecke gemütlich und blieb dort, alles um sich herum verschlingend, liegen. Niemand wagte es, sich zu rühren. Die Fensterläden blieben geschlossen und die Geschäfte taten es ihnen gleich. Das Leben auf der Gräberfeldstraße schien stillzustehen und selbst ein talentierter Künstler vermag diese entseelte Atmosphäre nicht malen zu können.
Viele Stunden wurden diesem Bild eingeräumt, ehe die Sonne langsam emporstieg und sich etwas in das Schweigen hineinschlich. Tap Tap Tap Tap – leise und zaghaft näherten sich Schritte und gaben dem Stillleben einen Herzschlag. Die Fensterläden öffneten sich langsam und die Geschäfte gestatteten Einlass. Menschen traten aus ihren Häusern und begannen den Tag, wie jeden anderen. Der Bäcker grüßte den Metzger auf der gegenüberliegenden Straßenseite und wünschte ihm viel Kundschaft für den Tag. Die Väter verabschiedeten sich von ihren Ehefrauen und Kindern, bevor sie sich in ihr Auto setzten und zur Arbeit fuhren. Mütter brachten ihre Fangen spielenden Kinder in die Schule und unterhielten sich dabei über ihre zukünftigen Pläne oder über ihren Job, zu dem sie später noch mussten. Die Gräberfeldstraße füllte sich mit Leben, mit jedem weiteren Sonneneinstrahl verzog sich die Nebeldecke und das Unbehagen verschwand. Die zuvor so zaghaften Schritte wurden langsam rhythmischer, entschlossener, als gehörten sie dem Treiben an und das so trist gekleidete Mädchen tat entschieden einen Tritt nach dem anderen. Ihr Name war Hailee. Es war ein recht ungewöhnlicher Name, jedenfalls, was seine Schreibweise betraf. Ihre nie kennengelernten Vorfahren hießen so mit Familiennamen und Hailees Mutter, Dana, war der Ansicht gewesen, dieser solle nicht einfach so verloren gehen, weshalb er nun als Taufname in ihrer Geburtsurkunde stand. Sie selbst hasste es, einen ehemaligen Nachnamen als Vornamen zu tragen, nutze ihn selbst nie und etablierte auch in ihrem Bekannten- und Freundeskreis eigenmächtig den Spitznamen Lee. Ausschließlich ihre Mutter ließ sich von diesem Unterfangen nicht überzeugen und nannte sie weiterhin bei dem für Hailee so ungeliebten Namen.
In Lees bis dahin starres Gesicht schlich sich ein Schmunzeln ein - was für ein Sturkopf ihre Mutter doch war.
„Möchten Sie einen heißen Kaffe für unterwegs kaufen, Ma’am?“ Lee riss sich von ihrer Erinnerung los und sah auf. Ein paar Meter zu ihrer Rechten wartete ein beleibter Mann mit umgebundener Schürze und gutgelaunter Miene vor einem Laden mit der Aufschrift „Bäckerei Morgentau“ auf ihre Antwort. Hinter ihm bereitete sich die altmodisch aussehende Kaffeemaschine, neben all dem gut duftenden, wahrscheinlich noch warmen Brot und den verlockend köstlich aussehenden Teilchen, brummend auf ihren Einsatz vor. Lees Magen begann zu Knurren, doch sie wollte, nein, sie konnte nicht stehenbleiben. Heute war der Tag, an dem sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen und nicht zurückschauen würde. Sie musste weitergehen.
„Nein, vielen Dank. Einen schönen Tag, wünsche ich Ihnen!“ Mit einem entschuldigenden Lächeln, wandte sie sich wieder dem Weg vor sich zu.
„Einen schönen Tag noch, Ma’am!“, rief der Bäcker ihr hinterher und ging hinter die Auslagetheke in seinen Laden.
Ma’am...
Lee wollte zuerst nicht darauf kommen, weshalb diese Anrede in ihren Ohren so unsagbar falsch klang, doch nach nicht allzu langer Überlegung fiel ihr der Grund ein. Ihre Mutter wurde nach der Trennung von ihrem Vater immerzu Ma’am genannt. Sie war es, zu der diese Bezeichnung gehörte und nicht Lee. Nach der einvernehmlichen Scheidung ihrer Eltern verschwand Lees Vater ohne ein Wort, schickte ihnen keinerlei Lebenszeichen von sich und seither waren es bloß noch sie beide, ihre Mutter und Lee. Danach wusste niemand in ihrem Bekanntenkreis mehr so recht, wie Dana angesprochen werden sollte. Statt sie beim Namen zu nennen, wurde aus dem selbstsicheren Mrs. ein gestammeltes und geschwollenes Ma’am.
Mit der Zeit wurde aus diesen dadurch entstehenden absurden und unangenehmen Gesprächen für die beiden ein Spiel. Immer wieder verfielen sie in einen überaus übertriebenen Jargon und titulierten sich gegenseitig, wobei meist der alte Higgs, ihr Nachbar, als Vorlage galt.
Die Sonne schien durchs offene Fenster herein und eine leichte Brise ließ die transparenten, weißen Vorhänge sich aufbauschen. Es war ein schöner Tag - ein Sonntag, um genau zu sein. Dana und Lee fanden unter der Woche nicht oft die Zeit, gemeinsam zu frühstücken. Lee saß am Essenstisch ihrer Mutter gegenüber und bestrich ihr Brot ausgiebig mit Butter.
„Sind Sie in naher Zukunft mit dem Butteraufstrich fertig oder gedenken Sie ein Monument auf ihrem mickrigen Brot zu errichten, Miss Hailee?“ Mit hochgezogener Augenbraue betrachtete Dana die vielen Butterschichten auf dem Teller ihrer Tochter.
„Oh, Mrs., ähm...Ma’...Ma’am, mit dem Bau eines Monuments ist keinesfalls zu spaßen, vor allem nicht, wenn jenes aus Butter besteht! Sie ist doch erst die Grundlage, die alles Weitere zusammenhält, ähm, Mrs., ich meine, Ma’am.“ Mit ausladender Geste präsentierte Lee ihr Werk ihrer Mutter.
„Wie recht Sie doch haben, Miss Hailee. Hätten Sie denn nun die Güte, auch mir nach gefühlten Stunden die Butter zu kredenzen, damit ich mir meine eigene Grundlage aufschichten kann?“
„Ihre Einsicht erfreut mich im höchsten Maße! Bitte, nehmen Sie sich doch etwas von der Butter, Mrs., pardon, Ma’am.“ Lee reichte Dana die Butter, die sie mit einer angedeuteten Verneigung entgegennahm.
„Haben Sie Dank, Miss Hailee und Gott segne Sie.“
Beide brachen in Gelächter aus, was das Frühstück vorerst vergessen ließ.
Ein merkwürdiges Gefühl machte sich in Lees Magen breit, als würde dieser an allen Seiten durchgeknetet werden oder als würde eine zu starke Strömung sie mit sich ins offene Meer zerren wollen. Soll das jetzt immer so ablaufen? Hatte sie mit dieser Anrede die Identität ihrer Mutter übernommen und sie einfach so ersetzt? Konnte ein Mensch überhaupt durch einen anderen ausgetauscht werden?
Das anfängliche Schmunzeln auf ihren Lippen erstarb. Tränen füllten ihre Augen, verharrten am äußeren Rand, wo sie losließen und ihre Wange herabrannen. Sie fing an, im Stillen zu weinen, setzte dabei aber noch immer einen Schritt vor den anderen, ohne sich auszuruhen, durchzuatmen, abzuschalten.
Leichter Wind kam auf und trocknete Lees Tränen, wobei die Haut an den Stellen kalt wurde. Er verfing sich in ihrem schwarzen Mantel und ließ ihn um ihre Beine Wellen schlagen. Lee zog sich weiter in den um ihren Hals gewickelten, dunklen Schal zurück, um dem kalten Wind zumindest ein wenig zu entkommen. Um sie herum spielten die Kinder noch immer lachend weiter Fangen. Sie rannten von der einen Straßenseite hin zur anderen und wieder zurück, kreuzten Lees Weg und rannten zu ihren Müttern, um diese als Schutz vor dem Fänger zu gebrauchen.
Lee ließ sich nicht beirren und ging weiter, bis sie das Ende der Straße erreichte und damit dem Treiben den Rücken kehrte. Vor ihr ragte ein meterhohes, elegant geschwungenes Tor auf, an dessen Seiten wunderschöne rötliche Backsteinmauern verliefen, die dessen Imposanz hervorhoben. Seit der Beerdigung war Lee nicht mehr an diesem Ort gewesen. Sie hatte sich einfach nicht getraut, hierher zu kommen. Mit Bedacht, als könne jeder Schritt, den sie tat, den Boden verletzen, ging sie durch das Tor hindurch. Zögernd entfernte sie sich von dem am Tor hängenden Schild mit der Inschrift „Friedhof“ und näherte sich immer weiter dem Grab ihrer Mutter. Was sollte sie bloß sagen, wenn sie davor stand? Langsam kam der Gedenkstein in Sicht und Lee verringerte ihre Geschwindigkeit, unschlüssig, ob sie das wirklich tun sollte oder noch wichtiger, ob sie das wirklich wollte. Sie hatte Angst, ihrer Mutter nichts erzählen zu können und sie enttäuscht zu haben, weil sie ihr nicht schon eher einen Besuch abgestattet hatte. Mit einem mulmigen Gefühl erreichte sie den Grabstein, auf dem stand:
*23.05.1959
†08.02.2017
Eine wunderbare Mutter und Freundin.
Du fehlst mit jedem Atemzug.
Lee holte tief Luft und versuchte das Zittern aus ihrer Stimme zu nehmen, was ihr jedoch nicht gelingen sollte.
„Hey, Mum...ich bin’s...Hailee.“