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Ein furchtbarer Tag
Ich stehe morgens auf. Das tue ich immer.
Aber an diesem Tag ist es anders als sonst. Ich habe einen Kater von dem ganzen Wein gestern Abend. Meine Zunge ist pelzig, und in meinem Kopf sitzt ein kleiner Gnom, der geduldig einen Schraubenzieher in meinen Hirnstamm bohrt.
Ich versuche also, meine Augen zu öffnen. Ich wundere mich kurz, warum da schwarze Striche vor der Welt sind, und stelle nach intensivem Nachdenken fest, dass es meine Wimpern sind.
Ich taumele ins Badezimmer und stoße mir die Hüfte am metallenen Treppengeländer. Schmerzwellen schießen durch meinen Unterkörper und verbünden sich fröhlich mit denen in meinem Kopf. Sie feiern zusammen eine Party.
Niemand sollte am Tag nach Mittsommer so früh wach sein! Und schon gar nicht, wenn er diesen Mittsommer Geburtstag hat.
Ich erinnere mich schemenhaft an Flaschen mit goldgelbem Inhalt. Meine größte Schwäche in dieser Welt ist die Zuneigung zum süßen Honigwein.
Der kleine, hässliche Gnom in meinem Kopf geht nicht weg, auch nicht, als ich einen halben Liter eiskaltes Wasser darüberschütte. Meine Augen sind immer noch nicht auf, also schminke ich sie, wenn sie sowieso schon geschlossen sind.
Natürlich rutsche ich mit dem Kajalstift ab und piekse mich in den Augenwinkel. Au, das tut weh!
Aber auch dieser Schmerz vermag mich nicht zu wecken.
Als ich schon halb die Treppe runter bin, fällt mir auf, dass ich vergessen habe, mich anzuziehen. Also wanke ich die Treppe wieder herauf und schlüpfe in einige Kleider, die ich mir in weiser Vorraussicht schon am gestrigen Morgen zurechtgelegt hatte.
Ich hatte natürlich nicht daran gedacht, die Hose so herum hinzulegen, dass sich der Knopf vorne befindet. Also wieder raus mit den Beinen, und die Hose anders herum noch mal angezogen.
Dieses Mal taumele ich voll angezogen zur Treppe. Ich schwanke auf sie zu, stolpere über irgendetwas Schreiendes und falle kopfüber die letzten Stufen entlang.
Unten angekommen, bleibe ich erst einmal liegen. Ich hoffe, ich habe mir mindestens das Genick gebrochen, sonst geht dieser verdammte Tag noch weiter!
Meine Mutter kommt angelaufen. "Schatz, hast du dir was getan?"
Ich stelle mich tot. Sie kniet sich neben mich und fühlt den Puls am Hals, versucht es dann noch einmal am Handgelenk.
Ich öffne das rechte Auge und sehe direkt auf die Katze. Sie guckt mich traurig an.
"Bnchbrdchgstlprtktz?" frage ich.
Die Katze guckt noch viel trauriger.
"Tschldgng" knurre ich und stelle mich weiter tot.
Aber meine Mutter muss irgendwie mitgekriegt haben, dass ich noch lebe. Manchmal ist sie schlauer als ich.
"Jetzt komm, raff dich auf und iss dein Frühstück!"
Essen? Mein Gott, allein bei dem Gedanken wird mir schlecht.
Der Kobold mit dem Schraubenzieher benutzt ihn als Haltestange, als ich mich aufsetze. Eine Schmerzwelle schießt durch meinen Kopf, als das Gewicht des kleinen Viechs ihn tiefer in mein armes Gehirn treibt.
Meine Mutter zerrt mich am Ärmel in die Küche und plaziert mich auf einem Stuhl.
"Wie lange warst du auf der Party gestern?" fragt sie streng.
"Bsngfrfnfrmrgns" sage ich stolz.
"Bis fünf Uhr morgens?" fragt sie entsetzt.
"Chhbgbrtstgvrdmmt!" Sämtliche Vokale scheinen aus meinem Wortschatz verschwunden zu sein.
"Wllkff"
Sie stellt mir eine Kaffeetasse hin, deren Inhalt ich mir frontal ins Gesicht schütte. Der Kaffee ist schon kalt, aber das hilft auch nichts.
"Dein Pullover! Du musst dir wohl etwas anderes anziehen!"
Ich stehe auf, wobei der Stuhl umfällt, und wanke die Treppe wieder hoch. Oben stolpere ich noch über einen Stuhl und über meinen kleinen, angeheirateten Halbbruder.
Letzteres Hindernis ist zu schwer, um es umzurennen. Mein kleiner, schmächtiger und ziemlich hässlicher Bruder klatscht gegen die Wand, und ich lande frontal auf dem Fußboden. Der Fußboden ist ziemlich hart.
Mein kleiner Bruder redet irgendwie auf mich ein. Ich ignoriere ihn und kuschele mich an den Fußboden.
Irgendwie hat der Gnom wohl einen fatalen Fehler gemacht, denn plötzlich ist mir furchtbar schlecht.
Ich will aber nicht kotzen!
Ich stehe wieder auf, lasse den kleinen Bruder an der Wand kleben und gehe in mein Zimmer. Dort ziehe ich den Pullover mit dem Kaffeefleck aus.
Das plötzliche Brennen auf meiner Haut verrät mir, dass der Kaffee doch nicht ganz so kalt war, wie er mir vorgekommen ist.
Spontat gehe ich zur Tür und drehe mehrmals den Schlüssel herum. Dann gehe ich zurück zum Bett und ziehe mir die Decke über den Kopf.
Und in allerschönster Regelmäßigkeit höre ich draußen die Stimme meiner Mutter, die sich darüber beschwert, dass Kinder auch mit neununddreißig Jahren noch genauso kindisch sind wie mit zehn.