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Ein Freund
Ein Freund meiner Schwiegermutter
Ich beobachtete die anderen Gäste. Ich hatte es mir auf dem roten Sofa in einer der Zimmerecken gemütlich gemacht und trank bereits den dritten Cocktail. Ich vertrug Alkohol nicht besonders gut und auch diesmal machte sich bereits ein flaues Gefühl in meinem Magen bemerkbar, das mich darauf hinwies, dass mein Maß fast erreicht war.
Ich sah mich in dem großen Wohnzimmer um. An der Wand gegenüber stand ein kleiner Tresen, mit drei Barhockern. Hinter dem Tresen gab es ein Regal, das mit Flaschen und Gläsern bestückt war. Auf dem Tresen herrschte ein Durcheinander von Schüsseln mit Snacks, halb gefüllten und leeren Cocktail- und Biergläsern, Zahnstochern, Aschenbechern und Zigarettenschachteln.
Hinter dem Tresen stand der Mann meiner besten Freundin, mixte Cocktails und unterhielt sich lachend mit vier Gästen, die auf der anderen Seite des Tresens saßen und standen. Er war ein perfekter Gastgeber - charmant, witzig und unglaublich aufmerksam.
Manchmal schien es mir, als würde ich ihn bei allen Gästen gleichzeitig sehen.
Einmal näherte er sich diskret dem Pärchen, das an der Terrassentür stand und sich beim Reden an den Händen hielt und füllte ihre Sektgläser auf, die sie auf dem nahe gelegenen Fensterbrett abgestellt hatten.
Dann wieder kam er aus der Küche, auf seinen Händen balancierte er silberne Tabletts mit kleinen Leckereien und unter den Beifallsrufen der Gäste, die es sich in der Essecke bequem gemacht hatten, lud er alles vor ihnen auf dem Tisch ab.
Das nächste Mal stand er mit seiner Frau im Garten. Er hatte sie von hinten umarmt und flüsterte ihr ins Ohr. Sie lächelte und schmiegte sich enger an ihn.
Ich liebte es all diese Dinge zu beobachten. Das war überhaupt das Beste, was mir auf Partys passieren konnte. Dass niemand mich bemerkte und ich die Szenen meiner Umgebung in Ruhe beobachten, speichern und mit eigenen Gedanken erweitern und verzieren konnte.
Für die meisten Leute war es ein Albtraum, auf einer Feier allein zu stehen, denn sie dachten, sie wirkten wie Ausgestoßene, wenn sie in keine der kleinen Gruppen integriert waren. Mir war das egal, denn meine große Leidenschaft war das Schreiben. Und dazu brauchte ich immer neuen Stoff. Und auf Partys gab es genug davon. Es gab alles. Komödien, Tragödien, Liebe, Streit, und immer wieder neue Menschen. Sie aus der Ferne zu beobachten und dann einen eigenen Charakter für sie zu erfinden, brachte mir in den meisten Fällen mehr Vergnügen, als diese Leute wirklich kennen zu lernen.
Ich hatte meinen dritten Cocktail schon fast ausgetrunken, da bekam ich erneute Warnsignale meines Körpers. Diesmal waren sie schon etwas deutlicher. Mein Magen startete das Karussell und ich wusste, dass diese Bewegung seinen Inhalt in unangenehme Bahnen lenken konnte, wenn ich ihn nicht beruhigte. Ich beschloss nur noch ein paar Salzstangen zu essen und mich ganz in meine Beobachtungen und Gedanken zu vertiefen. Mein Magen begann nun auch noch damit sich zu verkrampfen und versetzte mir einige schmerzhafte Stiche.
Ich bemerkte den Mann erst, als er bereits neben mir auf der Couch Platz genommen hatte. Ich kannte ihn nicht. Er war schlank und sah gepflegt aus. Seine schwarzen Haare trug er sehr kurz und hatte sie mit Gel zurück gestrichen. Die Frisur ließ ihn ein wenig altmodisch erscheinen. Auch seine dunkelblaue Hose und das gleichfarbige Hemd machten keinen modernen Eindruck.
Er hatte klare, blaue Augen, die in seinem schmalen Gesicht leuchteten und durch den dunklen Teint etwas zu stark zum Ausdruck kamen. Aber als er mich ansah und dabei lächelte, nahmen die zahlreichen Lachfältchen um seine Augen herum jegliche Härte aus seinem Blick. Er sah nur noch fröhlich aus und blickte mich direkt an. Ich mochte ihn sofort.
„Hallo.“ sagte er. „Gefällt es dir hier?
„Ja, sehr.“ erwiderte ich. Heute Abend sind viele Leute hier, die ich nicht kenne. Das mag ich.“ Ich schaute ihn an.
„Dich kenne ich auch nicht.“
Er blickte mich an und lächelte. Er sah amüsiert aus.
„Das holen wir ja gerade nach.“
Der etwas Klischee behaftete Beginn unserer Unterhaltung brachte uns beide zum Lachen. Aufgemuntert durch diese kleine Gemeinsamkeit begannen wir ein Gespräch.
Wir hatten gerade unsere Meinung über das Thema „Weihnachtsdeko im September“ ausgetauscht, als er plötzlich sagte:
„Du wirst sterben!“
Meine Miene verfinsterte sich sofort. Arschloch, dachte ich, warum machte der Spinner so eine nette Unterhaltung kaputt.
Ich sah ihn angriffslustig an. „Müssen wir das nicht alle? Nur bin ich nicht auf eine Party gegangen, um mir von irgendeinem Spinner das Datum meines Todes, geschweige denn seine Ursache erzählen zu lassen.“
Er sah mich an und wiederholte ruhig: „Du wirst sterben! Mehr habe ich nicht gesagt. Wir unterhalten uns, wir plaudern. Alle Menschen sterben, darüber wollte ich reden.“
Ich beruhigte mich ein wenig und bereute es ein wenig, dass ich so aggressiv reagiert hatte. Andererseits fand ich seine Art und Weise, dieses für ihn offensichtlich interessante Gesprächsthema einzuleiten, sehr missglückt.
Ich bemerkte, dass er sich ein Feuerzeug vom Tisch genommen hatte. Er fing an damit herum zu spielen. Er wiederholte immer die gleichen Bewegungen. Er hielt das Feuerzeug locker zwischen Zeigefinger und Daumen und klopfte drei Mal auf seinen Oberschenkel. Dann warf er das Feuerzeug in die Luft, ließ es einen Salto schlagen und fing es wieder auf. Er schob es wieder zwischen seine Finger und begann erneut zu trommeln. Viermal diesmal, danach wieder ein Salto. Dann wieder drei Schläge. Ich sah ihm einige Zeit dabei zu. Ich kannte einen Menschen, der genau die gleiche Angewohnheit hatte. Dieselbe Anzahl an Schlägen, dieselben Salti.
Ich nutzte die Gelegenheit um etwas einzulenken.
„Mein Onkel hat den gleichen Tick wie du. Er macht es exakt auf die gleiche Weise. Seltsam. Er ist Polizist.“
Wie blöd, dachte ich. Er ist Polizist. Was wolltest du? Angeben?
Mein Gegenüber schaute mich erstaunt an. Dann blickte er auf das Feuerzeug in seinen Händen, so als würde er sich gerade erst bewusst, was er tat. Er hörte auf zu spielen und sagte nachdenklich:
„Ja, die Polizisten gehören zu den Menschen, die mich oft während ihres Jobs kennen lernen.“
Er sah mir in die Augen und fragte sehr mitfühlend: „Warum hast du Angst vor dem Tod?“
Ich gab es auf diesem Thema aus dem Weg zu gehen oder über seinen merkwürdigen Satz mit den Polizisten nach zu denken, oder darüber warum er den gleichen Tick hatte wie mein Onkel.
Ich fühlte mich müde als ich merkte, dass er mit seinen Fragen in nicht verheilten Wunden wühlte. Ich hatte dieses Ereignis nicht verarbeitet und ich hatte versucht es zu verdrängen. Es hatte nicht funktioniert. Ich entschloss mich nun, einfach darüber zu reden.
Ich blickte auf meine Hände und schloss dann die Augen. Ich spürte ihre Hände in meinen und ich hörte ihren schweren, immer langsamer werdenden Atem. Es roch nach Desinfektionsmitteln, nach Blut und nach Krankheit.
Ich öffnete die Augen wieder und wischte ein paar Tränen weg. Dann erzählte ich ihm von meiner Schwiegermutter.
„Im Februar hatten wir ihren 50. Geburtstag gefeiert. Sie hatte sich gerade von ihrem Mann getrennt, war in eine eigene Wohnung gezogen und sie war frei.“
Ich schluckte.
„Drei Monate später ging sie zum Arzt, weil sie sich nicht wohl fühlte. Der Arzt diagnostizierte Krebs und schickte sie sofort ins Krankenhaus.“
Wie immer klang dieses Wort hohl und fremdartig für mich. Krebs. Die Krankheit, die wir alle kennen, und von der alle glauben, dass sie nur anderen passieren.
„Der richtige Schock aber kam eine Woche später im Krankenhaus. Es war zu spät! Es gab für meine Schwiegermutter keine Therapie mehr.“
Diesen Tag würde ich wohl nie vergessen. Der Tag, an dem wir die Nachricht bekamen, dass sie sterben würde. Mein Mann und ich kamen spät abends aus dem Krankenhaus und waren total erschöpft. Wir setzten uns zusammen auf die Couch und hielten uns den ganzen Abend aneinander fest. Wir weinten, trösteten uns gegenseitig und weinten wieder. Irgendwann fielen wir für ein paar Stunden in einen unruhigen Schlaf.
Diesmal versuchte ich nicht, die Tränen zurück zu halten.
„Sie ist eine Woche später in meinen Armen gestorben, verstehst du? Wir konnten überhaupt nichts tun. Wir waren immer da, aber sie ist trotzdem gestorben. Sie allein.“
Es fiel mir schwer zu sprechen und ich machte eine Pause. Ich wischte mir mit den Ärmeln die Tränen aus dem Gesicht und sah in trotzig an:
„Ich weiß, ich werde auch sterben, aber ich werde immer Angst haben. Sie hatte auch Angst. Sie hat es nicht gesagt, aber ich weiß es.“
Der Mann neben mir auf der Couch lächelte. Ich konnte es kaum glauben. Dann sagte er verträumt: „Ach, Anja, wie ich Ihr Lachen liebe.“
Er sah mich an und nahm meine Hand: „Mäuschen, Anja war niemals allein. Niemand weiß das besser als du und ich. Du warst da, um sie zu verabschieden. Ich war da, um sie zu begrüßen.“
Ich starrte ihn an, als wären eben kleine grüne Schlangen aus seinen Ohren und Nasenlöchern gekrochen.
Er lächelte wieder und sagte: „Es geht ihr gut, und sie ist der Grund warum ich hier bin. Warum du hier bist. Sie hätte dir so gerne die Angst genommen, aber sie war schon zu weit weg, sie konnte dich nicht mehr erreichen. Und du wolltest sie wohl auch nicht hören.
Sie hat dich sehr geliebt, und deshalb hat sie mich gebeten, dir die Angst zu nehmen.“
Ich saß mit hängenden Schultern vor ihm und schluchzte hilflos. Dann fing ich an zu lachen. Erst nur ein Glucksen, das noch nicht von dem Schluchzen zu unterscheiden war, dann wurde mein Lachen immer klarer.
„Anja.“
„Ja, Anja.“ sagte er.
Er sah mich an: „Ich muss jetzt gehen, wir werden uns irgendwann wieder sehen. Bis dahin gebe ich dir noch einen kleinen Rat: Achte in Zukunft ein wenig darauf, was du trinkst.“
Er stand auf und ging weg. Ich blickte ihm nach. Ich fühlte mich, als hätte jemand meine offenen Wunden verbunden und ein Gefühl der Hoffnung hinterlassen.
Plötzlich hatte ich das Gefühl, als ob jemand auf meinem Brustkorb saß und ihn für Schlagzeugübungen missbrauchte. Das Gefühl wurde stärker und es machte mich wütend. Ich schlug mit meinen Händen nach dem unsichtbaren Trommler und blinzelte ein paar Mal.
Ich sah etwas Orangefarbenes. Es war grell und riesig. Ich konnte nur noch sehr verschwommen sehen und zwang mich, die Augen fest zu schließen und wieder aufzureißen, um klarer sehen zu können.
Das riesige orangefarbene Ding war eine Jacke. Und der Trommler auf meiner Brust waren zwei große Männerhände, die nun endlich genug geübt zu haben schienen.
„Hi, schön dass Sie wieder da sind.“ sagte die Jacke. „Sie sollten in Zukunft besser darauf achten, was Sie trinken!“
Ich blickte in das Gesicht über der Jacke und versuchte ein klägliches Lächeln: „Das habe ich heute schon Mal gehört.“