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Ein fremdes Lächeln

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23.07.2001
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Ein fremdes Lächeln

Ein fremdes Lächeln
Die CD und die anderen Unterlagen halte ich in einer schwarzen Mappe unter den Arm geklemmt. Ich meine, Thomas hätte auch warten können, bis ich wieder im Büro bin. Aber er wollte zu Hause arbeiten und ich wollte sie ihm lieber bringen, als daß er sie abholt. Mir ist aufgefallen, daß er, immer wenn er bei uns ist, Julia so seltsam ansieht.
So sieht ein Mann kein elfjähriges Mädchen an, so, wie er es tut.
Er hatte vorgeschlagen, ich solle Julia doch mitbringen und wir könnten dann zusammen frühstücken. Ich gehe allein. Nie würde ich Julia freiwillig diesen Blicken aussetzen.
Bald stehe ich vor seinem Haus. Es ist klein, weiß und hat einen blühenden Vorgarten. Die Sonne läßt die Farben der Blüten leuchten. Das Dach glänzt wie rotes Glas, die grünen Läden wie Smaragd.
Alles ist still.
Ich drücke den Klingelknopf rechts neben dem Eingang. Kein Geräusch, keine Schritte. Niemand öffnet. Ich bemerke einen Spalt, die Tür ist nur angelehnt.
Es öffnet sich ein heller Flur. Die Tür am Ende steht offen und Sonnenlicht flutet von dort herein. Thomas erscheint und winkt mir zu. „Komm rein, wir haben den Tisch gedeckt. Alles ist vorbereitet.“
Mir ist seltsam. Die Stille, dieses Licht. Alles wirkt ruhig und friedlich, aber ich fühle mich alarmiert.
Ich gehe durch den Flur, Thomas lächelt. Er nimmt mir die schwarze Mappe ab, und ich betrete den Raum.
Alles ist weiß, die Wände, die Möbel, die Vorhänge an den Fenstern, die den Blick auf die Blütenpracht des Gartens freigeben. Auch im Raum sind überall Blumen. Sie stehen auf Sockeln angerichtet überall im Raum.
In der Mitte der runde Tisch ist für Drei gedeckt.
Thomas tritt zu mir und macht eine einladende Geste. „Nimm Platz, wir sind gleich fertig.“
Die Tür zu einem Nebenraum steht offen. Von dort höre ich Geschirr klappern und Gläser klingen.
Eine Bewegung läßt mich aufmerksam werden und im selben Moment eine Stimme: „Dein Gast ist schon da! Wie schön, dann sollten wir uns zu Tisch begeben.“
Ich verliere den Boden unter den Füßen.
Ich schaue in Julias fremdes Lächeln. Sie trägt ein Tablett herein und stellt es auf den Tisch. Lähmung. Das Entsetzen kommt nicht schnell. Mein Inneres ist leer. Seltsam aber unaufhörlich erfüllt mich eine gnadenlose Verzweiflung. Ich schreie nicht. Ich will, aber es geht nicht. Ich bewege mich nicht. Eine Macht hält mich in ihren Klauen. Ich will zu meinem Kind. „Julia!“ Leise schwingt ihr Name durch den Raum. Sie lächelt immer noch und scheint nicht zu verstehen.
Thomas tritt vor. „Es ist nicht Julia.“ Thomas hat es nicht gesagt und doch kommen diese Worte von ihm. Auch er lächelt. Ich will zu meinem Kind. Ich werde gehalten.
„Eine Kopie! Nicht Julia!“ Wieder Worte, die nicht gesprochen wurden.
„Wer ist Julia? Wer ist echt?“ Mein Kind ist einmalig. Niemand hat das Recht es neu zu schaffen.
Ich drohe zu zerbrechen. Endlich löst sich ein Ton aus meinem Innern. Ich schreie ihren Namen. Nebel ziehen durch mein Bewußtsein. Der Raum verschwimmt.
Ich spüre eine Berührung, ein Streicheln an der Wange, vertraut und zärtlich. Ich spüre Luft und Frische.
Ein Traum! Die Erkenntnis zieht durch mein Bewußtsein, wie tröstende Medizin.
Ich werde ruhiger und schaue in das besorgte Gesicht meines Mannes. Ich erkenne die vertraute Umgebung, das Bett, den Schrank, die Bilder. Fahles Mondlicht schimmert durch die Ritzen am Fenster.
Gott sei Dank!

Ich stehe vor dem großen dunklen Haus. Eine Wolke hat sich vor den Mond geschoben. Hinter einem Fenster brennt Licht. Es ist kein helles Licht, nur ein Schimmer. Ich schaue mich um. Die Straße ist hell. Laternen beleuchten das nasse Pflaster. Die Fassaden der Häuser reflektieren den Schein. In den Schatten müssen die Eingänge sein. Nur das große Haus liegt im Dunkel. Wie ein düsterer schwarzer Schemen ragt es empor.
Ich trete näher. Ich habe Angst, aber es geht um Julia.
Die beiden mächtigen Flügel der Eingangstür hängen an riesigen, eisernen Angeln. Das schwarze Holz ist mit sonderbaren, geschmiedeten Ornamenten verziert. Flügel, Klauen, Fratzen. Bedroht mich die Tür? Als ich meine Hand nach dem Ring des Türklopfers ausstrecke, öffnen sich beide Flügel unter leisem Ächzen nach innen. Sie geben den Blick frei in eine dunkle Halle, in der die Schatten zu leben scheinen. Ich fürchte mich, aber ich trete ein. Mich umfängt Dunkelheit, die lebt, sich bewegt, schwingt und bebt. Ich spüre es. Dunkle Nebel ziehen entlang den Wänden aus rohem Stein. Schwarz ist nicht einfach nur schwarz.
An der rückwärtigen Wand, jeweils zur Rechten und zur Linken, schwingen sich zwei mächtige Treppen zu einer Galerie hinauf. Über einer der zahlreichen Türen brennt schwach die einzige Lichtquelle. Meine Schritte machen kein Geräusch. Die Stufen sind aus Stein aber kein Klacken, Schaben oder Schleifen zieht durch den Raum.
Alles ist still.
Ich gehe an Türen vorbei. Jede einzelne weckt in mir ein anderes Gefühl der Angst oder des Unwohlseins. Ich gehe weiter. Jetzt stehe ich unter der Lampe, die von oben auf mich herunterstrahlt, mich zu durchleuchten scheint. Ein Wächter, der bis in die Seele schauen kann.
Ich greife nach der Klinke, doch die Tür ist verschlossen. Mit der Faust hämmere ich gegen das stabile Holz. Der Schall meiner Schläge klingt dumpf, wie durch Watte und erreicht kaum mein Ohr.
Der Griff bewegt sich und der Durchgang öffnet sich mit leisem Knarren. Innen ist es dunkel. Doch nicht so dunkel, wie in der Halle. Die Tür bewegt sich weiter. Am Ende der Halle scheint ein Licht zu sein. Nach und nach gibt die Tür den Weg zur Gänze frei. Aus dem tiefen Raum tritt eine kleine Person, gekleidet mit einem roten Mantel. Sie bedeutet mir, zu folgen. Zögernd setze ich einen Schritt vor den anderen. Die Person winkt. Ich soll mich beeilen. Ich bin nicht schnell genug. Die Person wendet sich um uns schaut mich an........ Julia.
Die Panik läßt die Welt um mich her zu einem Wirbel werden. Ich stemme mich dagegen. Julia. Ich schreie, will nach ihr greifen. Eine weitere Gestalt schiebt sich zwischen uns. Es ist.... Julia und eine Dritte. Ich drohe, in einen Wahnsinn zu kippen. Ich schreie, presse die Hände vor mein Gesicht. Ich schlage um mich, werde gepackt. Ich wehre mich. Dann die Stimme, vertraut, sanft, besorgt. Der Wirbel läßt nach. Ich gleite aus einem Druck heraus, der mich gefangenhielt. Alles wird langsam klar. Ich spüre eine Hand an meiner Schulter, zärtliches Streicheln. Ich öffne meine Augen, bin wieder da. Mein Mann lächelt. „Du hast geträumt.“ Worte, die Erleichterung in meine Seele strömen lassen.
„Ein schlimmer Traum. Es ging wieder um Julia.“ Ich spreche ganz leise. So, als könnte eine laute Stimme böse Geister wecken.
„Wo ist Julia?“ Mein Mann sieht mich verständnislos an. „Sie ist in ihrem Zimmer. Wo sollte sie denn sonst mitten in der Nacht sein?“ Wir hören tapsige Schritte und schauen zur Tür. Dort steht Julia in ihrem grünen Schlafanzug mit den bunten Blüten darauf und reibt sich die Augen. „Ich muß mal zur Toilette.“ Ich lächle sie an. „Natürlich, Schatz. Und dann schlaf schön weiter.“
Sie bleibt in der Tür stehen und schaut verständnislos. „Können Sie mir sagen, wo das Bad ist?“

 

Hallo Dreimeier!

Da steckt viel drinnen! Meine Tochter ist fast elf und daher habe ich vielleicht mehr in die Geschichte hineininterpretiert, als du wahrscheinlich beabsichtigt hast.

Einerseits lese ich da einen fiktionalen Text, in dem ein Traum zur erschreckenden Realität wird.
Andererseits erkenne ich auch ein Problem, eine Angst, die sicher viele Eltern haben:

"So sieht ein Mann kein elfjähriges Mädchen an, so, wie er es tut." - du weißt, wovon ich rede?

Und ein weiterer Punkt ist die ständige Veränderung, die in diesem Alter mit einem Kind vor sich geht. Innerlich: Tja, mit welcher von den vielen "Julias" haben wir es heute wieder zu tun? und äußerlich: "Nie würde ich Julia freiwillig diesen Blicken aussetzen."

Welche Erfahrungen und Erlebnisse macht "Julia"? Bin ich damit einverstanden? Kann ich es verhindern?

"Ich soll mich beeilen. Ich bin nicht schnell genug."

Denn schließlich bin ich doch allein mit meinem Problem:

"Mein Mann sieht mich verständnislos an."

Vielseitig auslegbar, berührend und noch dazu packend geschrieben, dein Text!

Liebe Grüße
Babs

 

Hallo Dreimeier, Deine Mischung aus Traum und Wirklichkeit ergibt eine absolut spannende Story. Noch dazu das heikle Thema "Vergewaltigung". Ich finde die Geschichte in jeder Beziehung gelungen. Vielen Dank dafür. Ernst

 

Hi Dreimeier

ließ sich gut lesen, wenngleich auch eine gewisse verwirrung bleibt...wenn das beabsichtigt war, isses gelungen.
Ich persönlich habe das gefühl gewonnen dass es Julia nicht mehr gibt...oder dass da eine Form von Bedrohung im Raume steht, die noch nicht wirklich sichtbar ist, vielleicht eigene Traumata, Verunsicherung, oder gerade geschehenes ???

Wie gesagt, die Verwirrung am Ende überwiegt...
mfg
Lord

 

Hallo Barbara,
Hallo Ernst,
Hallo Lord,

Real betrachtet lebt das Mädchen noch und das soll auch die nächsten 100 Jahre min. so bleiben.
Julia hat natürlich in Wirklichkeit einen anderen Namen. Sie hat heute mit ihrer Freundin Nudeln gekocht, dabei eine Riesensauerei angerichtet und ist im Moment dabei, den Dreck weg zu machen.

Tatsächlich ist diese Geschichte ein Traum, den meine Frau hatte. Deshalb auch die, für mich ja merkwürdige Position aus einer Frau heraus.
Ich muß auch erklären, daß es diesen Thomas nicht gibt. Weder ein Arbeitskollege noch ein anderer Bekannter von uns hat sich je anstößig benommen.
In Träumen wird halt eine Menge verarbeitet. Begegnungen mit Menschen auf der Straße, Beobachtungen, alle Ängste, die man so um das eigene Kind täglich hat.
Unsere Tochter ist elf und mit der zunehmenden Selbständigkeit, werden die Ängste nicht weniger. Es werden nur Andere. Man kann sich wirklich da reinsteigern. Ich glaube Barbara weiß wie das ist.
Bis zu einer Vergewaltigung hatte ich diese Geschichte allerdings nicht gesehen.
Ich denke, daß dieser Traum Liebe und Furcht zu und um das eigene Kind ausdrückt und vor allem die Einzigartigkeit, die man dem eigenen Kind gegenüber empfindet und damit auch die Unantastbarkeit.

Der Schluß hatte aber nichts mit dem Traum zu tun. Der ist mir eben so eingefallen und sollte schon verwirren. Hat er ja wohl auch.

Also: Danke fürs Lesen und für Eure Gedanken.
Gruß Manfred

 

"Ich denke, daß dieser Traum Liebe und Furcht zu und um das eigene Kind ausdrückt und vor allem die Einzigartigkeit, die man dem eigenen Kind gegenüber empfindet und damit auch die Unantastbarkeit."

...noch dazu, wenn man nur ein einziges Kind hat...?

 

Genau.
Und wenn die Eltern dann noch älter sind als so der Durchschnitt.
Wir sind wohl sehr empfindlich. Das Kind darf es aber nicht so deutlich merken und da ist es dann mit den Freiheiten ein echtes Problem.

 

Hi .
Na denn bin ich ja beruhigt...
Ich wünsche Diesem Kind ein langes , glückliches leben.
Als Erwachsener macht man sich verstärkt Gedanken, wenn man mit jüngeren zu tun hat, was deren Seelische Unversehrtheit angeht, und was man schon von anderen Erwachsenen durch seine offen gezeigte Zuneigung(und nur diese) als Motiv unterstellt bekommt...
Lord

 

Hallo Dreimeier,

mir hat Deine Geschichte gut gefallen. Gut formuliert, flüssig geschrieben. Geht einem unter die Haut. Verwirrt auch, aber das sollte sie ja.

Im Augenblick rätsele ich noch über den letzten Satz: " 'Können Sie mir sagen, wo das Bad ist?' "

Man weiß ja nie so genau, um welches Kind es gerade geht. Ist es ganz am Schluss ein fremdes Kind, wenn es die Eltern (oder zumindest die Frau) siezt?

Gruß

Christian

 

Hallo Lord,
Hallo criss,
@Lord:
Mir geht es genauso. Ich sehe Kinder, finde sie entzückend, sehe sie nur an und freue mich einfach, weil sie da sind. Nicht mehr. Im selben Augenblick bekomme ich ein unsicheres Gefühl, weil ich denke: Was geht in den anderen Leuten vor, wenn sie mich so sehen? Eine blöde Situation, aber doch verständlich. Ich selbst habe auch des öfteren angehalten und beobachtet, wenn ich ein Kind allein auf der Straße gesehen habe und in deren Nähe z.B. ein einzelner Mann ging. Wenn es den Kindern dadurch mehr Sicherheit gibt? Warum nicht?
Ich habe schon des öfteren gesagt, daß ich Niemanden böse sein würde, wenn er/sie mir sein Kind nicht anvertrauen will, weil ich ein Mann bin. Das muß Jeder selbst entscheiden. Über Niemanden leuchtet eine Lampe mit der Aufschrift: Kinderschänder oder: Harmlos.
Ist mir allerdings noch nie passiert und ich würde mit dann schon Gedanken machen, wie ich so wirke, aber man kann doch niemanden verübeln, daß er sein Kind schützen will.
@criss:
Da muß der Leser selbst zu einem Schluß kommen.
Es gibt ja auch noch die Möglichkeit, daß der Traum noch nicht beendet ist und auch das Erwachen nur geträumt wurde, u.s.w. u.s.w....Wann ist der Traum überhaupt zu Ende?
Ich liebe es, wenn am Ende einer Geschichte etwas offen bleibt.
Es darf allerdings nicht so sein, daß man sich ärgert überhaupt gelesen zu haben, weil eben alles offen und unbefriedigend bleibt. Ich hoffe es war hier nicht der Fall.
Viele Grüße
Manfred

 

Hallo Junkie Dreimeier!

Solange Du nicht wirklich einer wirst ...

Zum Schluss Deiner Geschichte: Das offene Ende macht hier gerade den Reiz aus. Unbefriedigend ist das (hier) keinesfalls.

Wobei ich niemandem einen nicht enden wollenden (Alb)traum wünsche ...

Viele Grüße

Christian

 

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