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Ein Flug durch graue Wolken
Liebe Mama,
genau 2 Jahre sind vergangen, seit wir zum letzen Mal in dein lachendes Gesicht blicken durften und die Wärme um dich herum gespürt haben, die du uns gegeben hast, wenn wir traurig oder verärgert waren, du Ben und mich zu Bett gebracht hast oder unten im Wohnzimmer saßt und Papas Geschichten gelesen hast.
Wir haben heute im Krankenhaus deinen Geburtstag gefeiert, obwohl man von Feiern nicht wirklich sprechen kann, Papa hat geweint und Ben konnte nicht in dein Zimmer gehen, seit dein Herz vor einigen Wochen einen Aussetzer hatte passiert ihm das öfters.
Er hat solche Angst, dass du aufhören könntest zu atmen.
Dabei sollte er das alles nicht durchmachen, er ist doch erst sieben Jahre alt aber seit du eingeschlafen bist, ist ein anderer Mensch aus ihm geworden, ich hab ihn zuvor nie so ernst gesehen und es passiert selten, dass wir zu dritt zusammen sitzen und lachen können.
Wir haben uns verändert und entfernen uns immer mehr voneinander, weil es keinen Menschen mehr gibt, der uns zusammenführt, uns zeigt wie sehr wir uns eigentlich lieben und brauchen.
Wir vermissen dich so schrecklich und es wäre so wundervoll, wenn du einfach wieder aufwachen und mit uns leben könntest.
Doch selbst wenn du erwachst, wird es anders als früher sein, zwei Jahre sind eine lange Zeit und wir haben uns verändert.
Papa hat aufgehört zu schreiben, ich versuche ihn immer wieder zu ermuntern, weil ich weiß, dass es ihn auf andere Gedanken bringt, doch oftmals sitzt er nur stundenlang vor der Schreibmaschine und starrt mit leerem Blick auf die Tasten.
Er weint und trinkt oft.
An manchen Tagen ist er so betrunken, dass er morgens nicht aus dem Bett kommt, um mit uns zusammen zu frühstücken, dabei ist das die einzige Zeit an der wir zusammensitzen können.
Ich versuche es meist vor Ben zu verheimlichen, doch ich schaffe es nicht immer und dann ist er oft sehr enttäuscht und redet manchmal tagelang nicht mit ihm.
Ich hasse Papa dafür, dass er das macht, er sollte uns ein gutes Vorbild sein, uns die Kraft und den Mut zusprechen, den wir in dieser Zeit brauchen aber vielleicht ist das auch zu viel verlangt. Jeder trauert hier auf seine Weise.
Oh Mama, ich wünsche dir alles Gute zum zweiundvierzigsten Geburtstag und hoffe, dass du dort, wo du bist, ein besseres Leben führst als wir hier. Aber es würde uns um einiges leichter fallen, wenn du dich entscheiden könntest nicht nur im ewigen Schlaf zu ruhen.
Denn selbst wenn du sterben solltest, musst du wissen, dass der Verlust eines Menschen manchmal leichter zu ertragen ist, als nur die Angst davor, ihn zu verlieren.
Papa würde nie die Verantwortung dafür tragen können, die Geräte abzuschalten.
Datum: 22. Juni 2002
Deine dich immer liebende Tochter,
Anna Piper Fisher
Mit einer sorgsamen Handbewegung faltete Anna den Brief zusammen und holte einen Stapel zusammengeschnürter Zettel aus dem oberen Fach ihrer Schreibtischschublade heraus. Es war eine Ansammlung von Schreiben, die sie in den vergangenen zwei Jahren an ihre Mutter verfasst hatte, in der Hoffnung, dass sie eines Tages in der Lage sein würde, sie zu lesen und zu erfahren, was in ihrer Abwesenheit geschehen ist.
Sie klappte den Brief erneut auf und überflog den Text ein weiteres Mal, stolperte am Ende jedoch kurz über eine Stelle „Denn selbst wenn du sterben solltest, musst du wissen, dass der Verlust eines Menschen manchmal leichter zu ertragen ist, als nur die Angst davor ihn zu verlieren.“ Sollte ihre Mutter wirklich eines Tages erwachen, wusste sie nicht, wie sie auf die Stelle reagieren würde, ob sie wohlmöglich verletzt sein würde.
Aber es war ein Beschluss von ihr gewesen alles, was sie dachte in jeder Form niederzuschreiben und das war die schmerzliche Wahrheit.
Sie faltete den Brief wieder vorsichtig zusammen und drückten ihn auf den Stapel weiterer Zettel, sorgfältig nahm sie das Band, schnürte das Paket wieder zusammen und verstaute es zurück in ihrer Schublade. Mit einem unausgesprochenen Seufzen auf den Lippen lehnte sie sich zurück und massierte mit den Handflächen ihre Schläfen, von draußen her tönte ein Zwitschern aus den Bäumen in das Dachzimmer hinauf.
Langsam schweiften ihre Gedanken an den trostlosen Morgen zurück, die Art wie ihr Bruder ängstlich durch das Seitenfenster in das Krankenzimmer ihrer Mutter gelugt hatte, hatte ihrem Herzen einen kurzen Stich versetzt, doch trotzdem hatte sie sich nicht getraut ihn zu berühren, auch wenn ihr Inneres verlangte seinen verletzlichen Körper in die Arme zu nehmen und ihm zuzuflüstern, dass alles wieder gut werden würde.
Sie hatte immer noch mitten in der Tür gestanden, als sich ein kleiner Lichtschimmer durch die sterilen Vorhänge gestohlen und auf das Gesicht ihrer Mutter gelegt hatte.
In dem Licht sah die Haut ihrer Mutter plötzlich blass und faltig aus, Schatten betonten die hageren Wangenknochen und die eingefallenen Augenhöhlen.
In dem Moment hätte Anna glauben können, ihre Mutter sei endgültig von ihnen gegangen, wäre da nicht ihr stetig piepsender Herzschlag gewesen, der sie nach längeren Nachtwachen sogar noch bis in ihren Schlaf verfolgt hatte.
Auf einem klapprigen Holzstuhl gegenüber dem Krankenbett ihrer Mutter hatte ihr Vater gesessen, den Kopf verloren in seinen Armbeugen. Die Schultern auf und ab bebend hatte sie ein leises Murmeln vernehmen können und glaubte, ihrem Vater bei einem Gebet zu beobachten. Sie hatte Benjamin vorsichtig an die Hand genommen und ihn langsam wegführen wollen, doch ihr Bruder war mitten im Flur zwischen einem Gewirr aus Krankenschwestern und Patienten stehengeblieben, hatte sie aus seinen blassblauen Augen ernst angesehen und geflüstert: „Sie wird sterben, oder?“
Ruckartig brach Anna ihre Gedanken ab und lief zum Fenster am anderen Ende des Zimmers, mit einem Mal kam es ihr so vor, als würde jemand ihr ein Seil um den Hals binden und es mit dem Versuch ihr die Luft abzuschnüren langsam immer fester und fester zusammenziehen. Keuchend riss sie das Fenster auf und streckte, die Luft scharf in sich einsaugend, ihren Oberkörper aus dem Fenster heraus.
Mit trüben Augen ließ sie ihren Blick durch die Landschaft schweifen. Sie blickte hinaus in den grauen Himmel, auf das feuchte, klebrige Gras und die nassen Baumwipfel. Sie zählte die Tropfen, die auf ihre Finger prasselten, blickte durch das Fenster der Nachbarn und suchte nach dem alten Käfer ihres Vaters, bis sie wieder das Gefühl hatte normal atmen zu können.
Der Regen platschte schon seit Tagen und umhüllte die ganze Stadt mit einer schweren, feuchten Dunstwolke. Kühle Luft drang durch das offene Fenster in ihr Zimmer und mit geschlossenen Augen lehnte sie sich über den Fenstersims und ließ das kalte Nass auf ihr Gesicht und den offenen Mund prasseln.
Sie wollte die Tatsachevergessen, dass ihre Mutter seit zwei Jahren im Koma lag und dass diese einzige Begebenheit eine Lawine ins Rollen gebracht hatte, die ihr ganzes Leben auf drastische Weise verändert hatte.
Sie hasste die neue Wohnung, in die sie eingezogen waren, weil ihr Vater allein nicht genug Gehalt bekam, um die Miete für ihr altes Haus zu bezahlen. Sie hasste die nackten, weißen Wände, den Geruch von Alkohol, der immer aus dem Raum ihres Vaters drang und die bedrückende Stille die überall herrschte, wo auch immer sie war. Das Schweigen ihrer Mitschüler, das Schweigen ihres Vaters, das Schweigen ihrer Mutter. Sie wollte schreien und weinen, sich umarmen lassen und wie ein kleines Baby zusammenrollen, doch sie tat es nicht. Sie hatte nicht geweint, als sie von dem Unfall erfahren hatte, auch nicht, als man ihr sagte, dass es ungewiss sei, ob ihre Mutter je wieder aufwachen würde. Sie hatte es nicht getan und würde es auch nicht tun, es wurde von ihr verlangt, dass sie es nicht tat. Wer würde sich um Benjamin kümmern, wenn sie den Kopf verlor, genauso wie ihr Vater.
Womöglich würden sie wieder umziehen müssen, wenn ihr Vater weiter die Mahnungen ignorierte, die wegen seines Übermaßes an Alkoholkonsum eintrafen.
Würden sie ihre Mutter in eine andere Stadt verlegen?
Insgeheim hatte sie manchmal das Gefühl, selbst Benjamin zu hassen, weil er, anders als sie, imstande war seine Trauer zu zeigen und sich trösten zu lassen, doch sie wusste, dass der Gedanke schrecklich war und versuchte, ihn erregt aus ihrem Kopf verschwinden zu lassen.
„Verfickte Welt “, flüsterte sie, schloss ihre Augen wieder und breitete die Arme aus, als wären es Flügel. Vor zwei Jahren war ihre Welt perfekt gewesen.
Unten im Flur rasselte ein Schlüsselbund und Anna hörte Benjamins tapsige Schritte die Treppe herauf kommen, langsam drehte sie sich auf ihrer Matratze um und griff nach dem Wecker. Drei Uhr nachmittags.
Sie stand auf und fasste sich in die Haare, sie waren immer noch nass und auf der Matratze war ein kleiner dunkelblauer Fleck entstanden. Benjamin ging in die Küche und sie hörte ihn mehrere Schränke auf und zu klappen. Sie waren schon seit Tagen nicht mehr einkaufen gewesen. Sie öffnete die Tür und sah sich nach ihrem Bruder um, der sich gerade über den Esstisch beugte und zwischen den Papptellern nach der Chipstüte suchte, die er gestern noch aufgemacht hatte. Eine Tasse verfing sich in seinen Ärmeln und fiel mit einem lauten, klirrenden Geräusch auf den Boden. Er hielt angespannt inne und aus einem der anliegenden Räume kam ein lautes, gebrülltes „Ruhe!“. Benjamin zitterte.
Anna lief an ihm vorbei und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter, dann öffnete sie langsam die Tür zu dem Schlafzimmer ihres Vaters.
„Anna. “, ihr Vater schaute sie aus trüben Augen an. Er hatte die gleiche Augenfarbe wie sie, ein intensives Dunkelgrün.
„Anna. “, flüsterte er und zeigte ihr mit der Hand sich ihm zu nähern. Sie ließ die Türklinke los und ging mit zusammengepresstem Mund auf ihren Vater zu, er stand auf und umarmte sie wie einen guten, alten Freund. Mit einem zittrigen Lächeln strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Regungslos stand sie da und blickte aus dem Fenster, sie konnte riechen, dass er getrunken hatte, wusste jedoch dass er kurzzeitig bei klaren Verstandes war.
„Du siehst aus wie deine Mutter “.
Bedrückt ließ Anna ihre gefühlslose Fassade für einen kurzen Moment fallen und für den Bruchteil einer Sekunde schauten sich Vater und Tochter in die Augen.
Sie konnte die Trauer von seinem Gesicht ablesen, seine Wut und den schmerzlichen Wunsch wieder wie früher zu leben.
Doch dann schob sich wieder eine Mauer zwischen sie und Beide blickten aneinander vorbei.
Tonlos hob sie ihre Hände und befreite sich aus der Umarmung ihres Vaters. „Wir haben kein Essen mehr “, flüsterte sie mit erstickter Stimme und blickte wieder auf die mottenzerfressenen Vorhänge am Fenster. Dann drehte sie sich um und ging in Richtung Tür. „Nein, verlass mich nicht, nicht wie deine Mutter.“
Anna hielt inne und drehte sich langsam um, sie sah wie seine Augen wieder hinter einem trüben Schleier verschwanden.
„Mama hat uns nicht verlassen, noch nicht, anders als du. Seelisch ist sie wahrscheinlich mehr bei uns, als du es je nach dem Unfall warst.“. Ihr Vater spuckte auf den Boden und rief mit aggressiver Stimme: „Deine Mutter ist tot!“ Sie zuckte zusammen und neben ihr hörte sie, wie Benjamin schluchzend in sein Zimmer rannte. „Meine Mutter lebt!“ Mit wütendem Blick starrte sie ihren Vater an und biss sich dabei so heftig auf die Lippe, dass sie das Blut auf ihrer Zunge schmecken konnte. „ Dann sag mir, was deine Mutter von den Toten unterscheidet!“, mit einem wirren Lachen auf dem Mund blickte er sie wieder an. „Sie atmet “, flüsterte sie, drehte sich schnell um und riss die Tür hinter sich zu.
Während sie ihr Gesicht zum Flur hin wandte und versuchte ihren panischen Herzschlag zu beruhigen, hörte sie wie ihr Vater im Zimmer hinter ihr höhnisch vor sich hin gluckste.
Mit zusammengedrückten Augen ließ sie sich langsam an der Tür heruntergleiten und zog ihre Knie an sich. Im Nebenzimmer hörte sie ihren Bruder schluchzen.
Mit einem Mal schwoll das Glucksen ihres Vaters zu einem boshaften Lachen an und er schrie laut: „Sie atmet, Anna, sie atmet! Deine tote Mutter atmet!“
Anna presste sich die Hände an die Ohren und drückte sich keuchend an die Tür. Lautlos schluchzte sie vor sich hin. Ohne Tränen, als hätte sie das Weinen verlernt.