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Ein fieses Arschloch ist der unbekannte Mann ganz sicher
Sein Wecker schaltete sich um kurz vor sechs ein und spielte ein altes Lied von Roy Orbison. Den Titel kannte er nicht.
Er stand auf und schlenderte in das schmale Badezimmer; die Musik spielte währenddessen noch immer, es gab keinen Grund für ihn das Radio verstummen zu lassen.
Zähne putzen und rasieren. Anschließend duschen. Das immer gleiche Ritual.
Frische Sachen hatte er sich am Vorabend zurecht gelegt. Ein weißes T-Shirt, unauffälliges Karo Hemd, ein paar Socken, rote Unter- und gediegene Stoffhose. Die Lackschuhe standen in Reih und Glied neben der Flurkommode. Sie schliefen noch.
N-TV berichtete, während der Wasserkocher sich an die Arbeit begab und das preiswerte Glas Instant Kaffee seinem allnächtlichen Schrankplatz entnommen wurde. Nur noch drei saubere Teelöffel in der Schublade; die Spülmaschine schien ihn um Beschäftigung anzulechzen. Er ignorierte sie und setzte sich auf die Holzbank.
Den ungeöffneten Fruchtjoghurt vor sich stehend, dachte er über den hereinbrechenden Tag nach. In einer halben Stunde wurde es hell und dann war er bereits unterwegs. Wohin...Gott alleine wusste es zu diesem Zeitpunkt.
Als das Wasser brodelte stand er auf und betätigte den kleinen Kippschalter, noch ehe dieser automatisch zurück in seine Grundposition sprang.
Drei wohl portionierte Häufchen gemahlener Brasilien Imitation und zwei Gramm ungezuckerter, im Natreen Paradies schwebende Erdbeerstückchen später, riss er seine glänzenden Treter brachial aus ihrem Schlaf und zog sich das Jacket über; draußen war es kalt. Anschließend verließ er die Wohnung, umschmeichelt von einem sanften Lächeln auf seinem Gesicht.
Das Treppenhaus war trotz der breiten, zur Straße gerichteten Glasfront, finster. Das schwache Licht der unter den Wolken aufgehenden Sonne bot aber dennoch genügend Sicht auf die blassen Stufen und so machte er sich elanvoll - von guten Vorsätzen vorangetrieben - auf den Weg in die Tiefgarage.
Der alte Ford Mustang stand wie ein bedrohlicher Dämon mit dem verachtenden Antlitz eines gefallenen Engels zwischen den anderen Wagen in seiner engen Lücke und wartete mit unendlicher Geduldsamkeit auf seine Erfüllung.
Erst als er die Türe zugeschlagen hatte und den angenehmen Duft der teuren Ledersitze in sich aufsaugen konnte, fühlte er sich wohl. Er streichelte das gepflegte Armaturenbrett und ließ den Motor an.
Von nun an wusste er, welches Ziel sein nächstes war.
***
Das laute Beben der Metallica Drums riss Tim aus seinem Sekundenschlaf.
Er entledigte sich der Kopfhörer und ließ den MP3 Spieler stoppen. Es war zu früh für sich drehende Bilder und alles umhüllende Übelkeit.
Der Rum war fast leer, aber wenn er sich jetzt noch den letzten Schluck gönnte, würde sich sein Magen aller Wahrscheinlichkeit nach einer drastischen komplett Entleerung unterziehen. Er wollte es nicht auf den Versuch ankommen lassen. Mit einer übertriebenen Armbewegung stieß er die Flasche hinunter und kramte dann nach seinen Zigaretten. Das war vielleicht ebenfalls nicht unbedingt die beste Idee, aber das Nikotin half ihm sich zu konzentrieren. Tim hustete unter größten Anstrengungen den hartnäckigen Schleimbrocken heraus, der den freien Weg zwischen Mund und Lunge belagerte und zündete sich eine Lucky an. Seine pfahlen Finger zitterten indess dem Radio entgegen und schalteten es ein.
Werbung.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es kurz vor sieben war; und noch ehe die Nachrichten mitsamt Verkehrsfunk einsetzten, trat er scharf auf die Bremse und kam in allerletzter Sekunde hinter seinem Vordermann zum stehen.
"Jiiiiiiihaaaaaaa! Ich reagiere wie ein Gott du Pisser! Stauende? Kein Problem für Tim, dem exzessiven Fürsten der A2!" - In diesem Augenblick erwischte ihn der dunkel blaue Ford Mustang von hinten. Es fühlte sich wie Auto Scooter fahren an, nur mit einem bleibenden, tauben Gefühl am Nasenrücken. Es dauerte noch einige weitere Augenblicke - nachdem er sein blutendes Gesicht vorsichtig vom Lenker aufgerichtet hatte - bis ihm bewusst wurde, dass er sich überhaupt nicht mehr auf der Autobahn befand.
"Scheiße Mann, wo bin ich denn die letzten Minuten gewesen?", fragte er sich in benommenen Tonfall selbst, während er im Rückspiegel bereits schemenhaft den Fahrer des Mustangs auf sich zukommen sah. Mit einer schnellen Handbewegung ließ er die Rumflasche unter dem Beifahrersitz verschwinden und setzte das glaubhafteste Lächeln auf, das ein Mensch mit schätzungsweise drei Promille im Blut zu stande bringen kann.
klopf klop
Da war jemand sauer und das mächtig. Tim ließ sich in seiner Aufrichtigkeit nicht beirren. Er suchte einen Moment nach der Fensterkurbel und fand dann den Knopf zum automatischen herunterfahren der Scheibe.
"Guten Morgen", entfuhr es ihm einen Tick zu schnell und unbetont.
"Ich hab´ hier elektrische Fensterheber in dem neuen Wagen. Vergess ich jedesmal. Scheint so als wenn wir da irgendwie aneinandergerasselt sind", lachte er bemüht, während ein warmer Schwall Blut über seine aufgequollenen Lippen lief.
Der andere Fahrer macht keinerlei Anstalten, den Satz zu kommentieren. Er blickte ihm bloß - zutiefst bösartig - in die Augen.
"Du bist so gut wie tot, Junge!", sagte er dann.
Tim starrte ungläubig zurück und versuchte einen flüchtigen Blick auf die Hände des Unbekannten zu erhaschen. Sie waren leer. Kein Messer, keine Schusswaffe. Vielleicht unter dem Jacket?
Er widerstand dem Drang, einfach auf das Gaspedal zu treten und abzuhauen. Vor allem deshalb, weil er zuvor den Motor hätte anlassen müssen und das nahm definitv zu viel Zeit in Anspruch.
"Ähm...wie bitte?"
"Du hast mein Baby beschädigt, allein das legitimiert mich dazu, dir die Kehle durchzuschneiden. Aber abgesehen davon, ein Schädelsplitter steckt ganz knapp vor den Verkrustungen deines lächerlichen Primatenhirnes fest. Gleich gibt es innere Blutungen, dann wirst du müde und Zack", der Fremde klatschte in seine Hände, " weg bist du! Ist aber auch egal jetzt, wütend werde ich später. Rutsch zur Seite und trink deinen Rum leer, solange du noch kannst. Ich muss in zehn Minuten in der Innenstadt sein. Wenn ich das jetzt wegen dir nicht mehr schaffe, dann..."
Tim überlegte, ob er sich im Delirium befand, oder eventuell doch bloß der harten Realität ins Auge sah und sich gerade mit einem vollkommen übergeschnappten Spinner unterhielt.
"Was dann, Mann?"
"Dann werde ich dich am Leben lassen und dich auf eine kleine Reise ohne Wiederkehr schicken, und jetzt rutsch rüber!"
Der Fremde packte ihn an den Schultern und schleuderte ihn mit der Leichtigkeit eines Federballes auf den anderen Sitz. - "Keine Angst meine Süße. Papa kommt gleich wieder und holt dich ab", rief der offensichtlich total verwirrte Fahrer seinem Mustang hinterher, während er - inmitten des vom Morgenverkehr überquillenden Stadtausläufers - das Gaspedal aufs grausamste quälte und durchstartete.
"Hey! Gehts vielleicht was langsamer? Ich muss gleich kotzen!"
"Halts Maul! Du bist gerade dabei, mir die beste Tour aller Zeiten zu vermasseln." - Sie bogen in eine enge Seitenstraße ein und Tim hatte das Gefühl, zusammen mit Doc Brown in einem alten Delorean zu sitzen, dessen Flux-Kompensator trotz Höchstgeschwindigkeit einfach nicht anspringen wollte.
"Mann! Wo ist mein Rum?"
"Hier...nimm einen Schluck davon", kumpelte ihn der Fremde fast an und streckte ihm einen silbernen Henkelmann entgegen.
"Was ist da drin?"
"Trink, oder lass es bleiben." - Tim trank; und bereute es sogleich.
"Ich weiss...es schmeckt furchterregend, aber dafür pumpt es deine Synapsen ganz schön an, da platzt dein Gehirn gleich doppelt so spektakulär, Äh?", zwinkerte ihm der unheimliche Kidnapper zu, während sie mit Tempo einhundertfünfzig in die Innenstadt bretterten. Etwas rumpelte unter dem Wagen.
"Verfluchte Hunde. Wissen nie ob nach rechts oder links und am Ende ist es oben drüber. Wirst du schon müde, du Arsch?"
"Ich hab´ eine scheiss Angst! Wer bist du, Mann?"
"Wenn ich dir das verrate, wirst du es mir ohnehin nicht glauben. Nenne mich einfach den Mann vom Mond."
"Was ist denn das für eine beschissene Anrede?", schrie er hysterisch, mit einem Auge die sich schnell nähernde Wand fokussierend.
"Siehst du was ich sehe? Ich hab sowas noch nie mit einem normalen Auto versucht. Bete, dass es klappt!"
"Das WAS klappt?" - Tim hielt sich die Augen zu und die Dunkelheit vor seinen Lidern wurde von einem lauten "Yeahhh" begleitet.
"Wir sind durch! Himmel, ist das geil! Wir sind mit einem verdammten Lupo durch die Backsteinwand geschmolzen! Mach deine Augen wieder auf du Angsthase. Hier...trink noch einen Schluck." - Tim trank und diesesmal bereute er nicht das geringste.
Sie schienen mit annähernder Lichtgeschwindigkeit durch den Verkehr zu morphen; hier eine Straßenbahn durchdrungen, dort ein Gebäude als Abkürzung verwendet. Das skurrile war bloß, dass sie tatsächlich Schaden anrichteten, selbst aber unberührt blieben.
"Ich konnte diesen Supermarkt noch nie leiden", rief der unheimliche Fremde euphorisch, während das Mauerwerk über den Obstständen herabregnete und zugleich noch von einer entgleisten, querstehenden U-Bahn zerfetzt wurde. - "Heute gibt es keine Rücksicht auf Verluste. Hier...trink noch etwas! Hab´ übrigens deinen Rum gefunden. Der gehört aber jetzt mir."
Tim hatte sich so weit es eben ging in seinen Sitz zurückgezogen und winselte wie ein kleines Kind; währenddessen leerte er den Rest des Henkelmanns.
Das war definitiv kein guter Morgen.
"Ich glaub ich bin leicht angeschwipst", demonstrierte sein ungewollter Chauffeur zu allem Überfluss noch die Ausweglosigkeit dieser Situation.
"Egal...wir kommen schon ans Ziel, was?"
Tim erbrach sich auf die Fußmatte.
"Weichei! Wir sind doch gleich da! Genieße die Fahrt. Schau mal, der Fluss! Lust auf einen Abstecher in den Stadtpark?", fragte er und riss im selben Moment hart das Steuer zur Seite.
Der Lupo schlug auf der Wasseroberfläche auf wie ein Schwert auf einer Orgel. Absolut unsymbiotisch und erschütternd.
"Ich will hier raus! Ich halts nicht mehr aus in dieser beschissenen Plastikschüssel, die wie Jesus übers Wasser fährt und mit einem Beifahrer der nicht mehr alle intergalaktischen Tassen im Schrank hat! Ich bereue alle meine Sünden; ich bete eine Millionen Ave Marias. Wenn du für Gott, oder für die Gegenseite arbeitest; scheissegal! Aber lass mich hier raus!" - Tim hatte sich die Knöchel an der Seitenscheibe blutig geschlagen und die Hose warm durchnässt.
"Aber, aber. Flippe doch nicht gleich aus, Junge! Wir sind doch schon da. Arschloch!"
Sie standen auf dem Friedhof.
Der unbekannte Mann stieg aus, umrundete den Wagen und öffnete Tim die Tür.
"Siehst du die Grasfläche dort drüben, zwischen den Gräbern?"
Selbstverständlich sah er sie, wenngleich auch doppelt und dreifach.
"Dort pisse ich jetzt hin. Dein Rum ist wirklich treibend."
Der seltsame Mann zog sich die Hose bis zu den Knien herunter und verrichtete wahrhaftig sein Geschäft; nicht, dass Tim etwas anderes erwartet hätte.
"Okay, jetzt bist du dran", sagte er, nachdem er seine Blase entleert hatte.
"Was?"
"Stell dich hin und warte."
"Worauf?"
"Na, auf die Müdigkeit, den Tod und so weiter. Hast du mir vorhin nicht zugehört?"
Tim schaute sich um. Es war niemand in der Nähe. Er wollte fortrennen, aber irgendwie war er aufeinmal tatsächlich müde geworden. Ein dichter Schleier vernebelte seine Sicht und seine Beine wurden weich wie Pudding.
"Doch...schon", brachte er unter größter Anstrengung heraus.
"Na dann solltest du ja wissen, was dich erwartet. Die vierundzwanzig Menschen, die du vorhin umgebracht hast, wussten es jedenfalls nicht. Junge junge, ist schon beeindruckend, was so ein Sekundenschlaf bewirken kann, wenn man das Steuer ungünstig verreisst. Ist seit langen Jahren mal wieder eine beeindruckende Massenkarambolage gewesen. Respekt! Du hast noch eine knappe Minute. Wenn dich irgendwelche letzten Worte am Gaumen kitzeln, dann wäre jetzt der ideale Zeitpunkt."
Tim konnte seine Beine kaum noch spüren; er ließ sich auf die feuchte Erde sinken.
"Ich dachte...dachte...du hast da so eine Tour wegen mir verpasst."
"Ach! Das war doch nur Gequatsche. Ich hab dir das geboten, was du selbst hättest erleben sollen, als du besoffen eingeschlafen bist."
"Was machst du denn jetzt?" - Tim konnte seine Worte und Gedanken wie Schwalben um seinen Schädel kreisen hören.
"Was soll ich wohl machen? Ich warte, bis du umkippst und fahre dann nach Hause. Hab´ noch einen Fruchtjoghurt im Kühlschrank. Du hast noch dreißig Sekunden. Soll ich dich lieber allein lassen, bei deinem bepissten Grab?"
"Jaaaa.....ich weiss nicht....mir geht es komisch."
"Schon okay. Ich gehe. Eines habe ich übrigens ernst gemeint."
"Was?", Tim sank dem madigen, nach Urin stinkendem Boden entgegen.
"Den Supermarkt konnte ich wirklich noch nie leiden. Die haben ´ne Menge Salmonellen im Angebot. Später werde ich den Geschäftsführer begleiten. Schlaf gut!"
"Ja...ein wenig Schlaf wäre...wäre...nicht..."
Ein paar Äpfel regneten durch die Seitenscheibe herein. Dann kam die querstehende U-Bahn.