- Beitritt
- 04.08.2001
- Beiträge
- 1.214
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Ein fehlendes Mal
Ich bin ein gesetzestreuer Bürger. Das können Sie mir glauben, ich bin pflichtbewusst und ich weiß, was ich dem Staat schuldig bin. Ich führe mich auf, wie man es von mir erwartet und das ohne jeden Zwang.
Ich habe keine Familie. Kinder werde ich mir nie leisten können, und ich habe mich damit abgefunden, meine Gene anonym weitergeben zu müssen. Wie die meisten in diesem Land. Ich bin auch nicht böse drum, es ist wie es ist. Und immerhin haben meine Kinder eine Chance auserwählt zu werden und später einmal etwas anderes darzustellen. Kann nur hoffen, dass ihre Erbanlagen nicht so versaut sind wie meine.
Aber so ist das eben, man kann diese Sachen nicht ändern.
Ich war immer friedlich, habe niemals jemandem etwas zuleide getan. Auch wenn es mir nicht gut ging, wenn ich mal wieder keine Partnerin hatte, wenn ich allein war und sich alles aufstaute...Na, Sie wissen schon! Ich habe mich nie aufgeregt, habe alles geduldig ertragen. Was soll man machen?
Ich habe nie mehr Drogen genommen, als mir zustanden. Im Gegenteil, es gab Zeiten, da teilte ich meine Ration mit meiner Partnerin, weil der ihre entzogen worden war. So mussten wir monatelang mit einer auskommen – geht auch!
Ich schaue mir immer meine vorgeschriebenen Sendungen an und höre den mir zugewiesenen Radiosender, obwohl einem manchmal übel dabei wird, das können Sie mir glauben. Sie sind sicher für eine andere Kategorie eingeteilt, aber was ich mir manchmal für ein Geplapper und Unsinn anhören muss, da kommt einem das Würgen.
Gelegentlich bin ich versucht, mir nur die Werbung anzuhören, die so wichtig ist, um diesem Müll zu entgehen, der drum herum gesendet wird. Ich hätte was anständiges lernen sollen, dann wäre ich sicher auch besser eingestuft worden.
Aber ich wehre mich nicht!
Es ist richtig so, das hat sich bewährt, es kommt von Leuten, die klüger sind, als ich. Die werden wissen, was sie machen!
Oder nicht?!
Natürlich!
Ich gehe dann und wann arbeiten, versuche, tätig zu sein. Natürlich kann ich meinen Lebensunterhalt damit nicht tragen, wer kann das schon? Wir sind hier ja nicht im fernen Osten, wo sie alles machen und davon leben können.
Ich leiste meine gemeinnützigen Stunden – die vorgeschriebenen und noch mehr. Ohne Entlohnung, versteht sich und manchmal bekomme ich einen Job, der zwar nicht viel einbringt, neben meinem Grundbetrag aber immer noch eine kleine Aufbesserung bringt.
Ich bin ein guter Bürger, der seine Beobachtungen mitteilen will. Wenn ich Unregelmäßigkeiten bemerke – ich habe sie bis jetzt immer gemeldet.
Es war am letzten Shopping-Day. Sie wissen ja selbst, was da los ist. Die halbe Stadt ist auf den Beinen, Home-Town ist so gut wie verwaist und Buy-City quillt über vor Menschen mit einem lockeren Portemonnaie. Die Taxen sind ausgebucht, die Straßen sind ohnehin hoffnungslos überlastet und die Luft wird auch immer belebter in letzter Zeit. Wenn sie nicht so saumäßig teuer wären, würde die Masse der Leute wohl per Raumteiler reisen. Aber das Geld, das liebe Geld. Bevor man es in den Rachen dieser Partikelverformer wirft, verzichtet man auf dieses Vergnügen und reist auf die altmodische Art. Was zwar immer anstrengender wird, aber nicht mal ein Zehntel kostet.
Ich hatte mich durchgeschlagen nach Buy-City, mit all den anderen Menschen, mit erwartungsvollen Gesichtern und gefüllten Brieftaschen. Mich plagte kein besonderer Wunsch, kein Ziel oder ein bestimmter Anlass, shoppen zu gehen. Mich lockten lediglich die Sonderangebote, die Aktionen, die wieder starteten.
Also ließ ich mich treiben, ließ mich mitreißen mit dem Strom der Menschen, die von einem Gebäude zum nächsten fluteten. Von Geschäft zu Geschäft, von einem Händler zum anderen, die alle warteten, dass man sich bei ihnen umschaute und kaufte.
Ich weiß, dass die Organisation der Shopping-Days immer schwieriger wird; die Leute, die sich damit beschäftigen, werden immer stärker gefordert. Keiner hatte bei Einführung geahnt, dass diese Events so ankommen würden. Ich meine, die Leute haben nicht viel Geld, aber sie wollen was erleben. Was sollen sie auch sonst tun?
Sie haben sicher schon vom Wickley-Syndrom gehört?
Natürlich haben Sie das, schließlich ist überall davon zu hören und zu lesen. Es gibt Leute, die halten diese Krankheit für die Seuche unseres Jahrhunderts. Man sagt, die Zahlen der Abgeschossenen seien geschönt, in den offiziellen Statistiken seien längst nicht alle Infizierten aufgeführt.
Das weiß ich natürlich nicht, aber nach allem, was ich weiß, ist das Wickley-Syndrom erst im Kommen. Verzweifelt bemüht man sich, die Seuche außerhalb des Territoriums zu halten.
In den äußeren Regionen sollen ganze Landstriche öde und verwaist sein, weil die Bewohner dieser Krankheit zum Opfer fielen.
Oder sich gegenseitig abschlachteten.
Ich bin im Vorteil, es ist nicht lange her, da sah ich eine Sendung im Fernsehen über dieses Thema. Es war ein Bericht, ganz kurz nach der Entdeckung des Virus’. Ich glaube, ich hatte Wahltag und bin hängen geblieben, weil’s spannend war.
Wussten Sie, dass der Erreger über die Lungen aufgenommen, durchs Blut weitertransportiert und schließlich in die Zellen abgelagert wird? Natürlich wissen Sie das nicht, ist ja kaum etwas Genaues bekannt über die Krankheit.
Wenn der Körper sich infiziert hat, das Leiden aber noch nicht zum Ausbruch gekommen ist, lässt sich der Virus extrem schwer nachweisen. Es ist kaum möglich, selbst der Infizierte ahnt nichts von seinem Gast.
Wir alle wissen, dass die Regierung einen Weg gefunden hat, die Virulenten kurz vor dem eigentlichen Ausbruch der Krankheit, Sekunden, bevor also dieser Mensch im doppelten Sinne gefährlich wird für seine Umwelt, als solche zu identifizieren.
Die Öffentlichkeit weiß nicht, auf welche Art und Weise es gelingt, die Verseuchten zu enttarnen, selbst über große Entfernungen hinweg. Doch es scheint zu funktionieren, fast hundertprozentig perfekt.
Aber wie gesagt, das gelingt erst kurz vor dem Moment, in dem das Virus sein eigentliches Ziel erreicht. Nachdem er sich in der Zelle des Menschen soweit entwickelt und enorm vermehrt hat, dass er für seine weitere Aufgabe überlebensfähig ist, macht er sich wieder auf den Weg. Er benutzt die Blutbahn, um wieder zur Lunge zu gelangen, von dort milliarden- und abermilliardenfach ins Freie und schließlich auf unzählige neue Opfer.
Während sich also ein Teil der neugeschaffenen Viren zur Lunge aufmacht, wird ein anderer Teil ins Hirn gespült und richtet dort den Schaden an, für den das Wickley-Syndrom berüchtigt ist. Wir kennen das ja. Zunehmende Aggressionen gegen seine Mitmenschen, die in körperlicher Gewalt gipfelt, die sich schließlich – in einhundert Prozent – gegen sich selbst richtet.
Wir haben alle schon davon gehört, gebe Gott, dass ich nie einen solchen Fall zu Gesicht bekomme. Denn wenn ich Augenzeuge des Ausbruchs geworden bin, bin ich tot. Ich habe mich schon angesteckt.
Diese beiden Sachen – der Erreger gelangt in die Lunge und wird gefährlich für die Umwelt und er trifft im Gehirn ein und richtet Schaden an – geschehen gleichzeitig. Dies ist auch der Zeitpunkt, zu dem für wenige Minuten der Kranke als solcher – wenigstens für die zuständigen Organe und ihre Gerätschaften – zu identifizieren ist. Um eine Seuche zu verhindern, muss rasch gehandelt werden.
Die gelben Augen sind bekannt. Jedes Kind weiß, dass jemand, der am Wickley-Syndrom litt, im Moment seines Todes die Augenfarbe wechselt. Ich weiß den Grund nicht, aber so ist es. Das Weiße des Augapfels verfärbt sich in der Agonie ins Sattgelbe.
Ich ließ mich also mit der kauflustigen Menge treiben und hatte gar keine andere Wahl, als dorthin zu gehen, wohin meine Nachbarn strebten. Zur Linken und zur Rechten, vorn und hinten – alle dasselbe Ziel. Schieben, drängeln und zerren – der Shopping-Day eben.
Als wir aus einem Gebäude hinaus ins Freie und über den freien Platz zum nächsten Bau strebten, immer noch in peinlich engem Körperkontakt, da spürte ich eine seltsame Unruhe in mir.
Kein Sinnesorgan sprach an, zumindest kein bekanntes. Ich weiß noch, wie ich dachte, meine Nackenhaare stellten sich auf. Doch das war eine Täuschung.
Im Nachhinein bin ich mir sicher, dass es der Infraschall war, der mich und alle auf dem Parkplatz in Unruhe versetzte. Unhörbar, aber Fühlbar. Keine zehn Sekunden später hörten wir die Rotorengeräusche.
Von dem Bild der drei Helikopter, die im Tiefstflug genau auf uns zusteuerten, bis zum nächstliegenden Gedanken, waren es nur Bruchteile von Momente: Sie hatten einen gefunden.
Diese Erkenntnis schien in dem Augenblick einige tausend Menschen, die hier erstarrt standen und den Hubschraubern entgegenstierten, zu durchzucken. Sie haben wieder einen ausfindig gemacht, der sich mit dem Wickley-Erreger infiziert hat. Dies war die Prozedur. Die Jäger kamen und schlugen zu, wenn sie hundertprozentig sicher waren.
Niemand von uns wusste jetzt, wen es treffen würde, wer sich angesteckt hatte und das Ziel sein würde.
Die Helikopter kamen dichter die Rotoren schlugen bedrohlich durch die Luft, der Wind, den sie erzeugten, pfiff uns im Gesicht. Das Getöse war ohrenbetäubend, trotzdem war kaum jemand hier in der Lage, sich zu bewegen. Die Spannung auf das folgende war unbeschreiblich. Irgendjemanden würde es in den nächsten Sekunden treffen, ein armer Teufel aus unseren Reihen hatte sein Leben verwirkt.
Die Luftgefährte kam zum Stillstand, etwa drei Meter über unseren Köpfen schwebten sie wie riesige, fette Fliegen und warfen drei lange Schatten auf unsere Köpfe.
Es ist ja bekannt, was passiert.
Ein Gewehrlauf schob sich aus der Öffnung eines Helikopters. Atemlos sah ich, dass die Mündung direkt auf mich zielte, der Lauf zeigte genau in meine Richtung.
Wie ich schon sagte, ich bin ein gesetzestreuer Bürger, nie habe ich mir etwas zuschulden kommen lassen, und nun sollte ich derart mein Leben beenden müssen. Ich spürte, wie mir die Tränen aus meinen Augen quollen, Augen, die sich in Kürze quittegelb verfärben würden. Ich senkte die Lider und erwartete den Todesschuss.
Ein trockener kurzer Knall und eine Kugel pfiff an mir vorbei. Ich öffnete die Augen – das Gewehr war zurückgezogen worden.
Doch ich lebte!
Meinen Nachbarn zur Linken hatte es erwischt, er lag röchelnd auf dem Asphalt und hielt sich das Herz.
Jetzt verfiel die Menge in Panik, voller Schrecken versuchte sie zu flüchten. Die Menschen schrieen und drängelten, niemand kümmerte sich mehr um des Nachbarn Wohl. Sie fürchteten, sich anzustecken. Doch ich wusste es besser. Die Gefahr war längst vorüber, der Mann lag im Sterben, kaum noch, dass er einen Atemzug tun konnte. Nicht genug, um den Virus herauszuschleudern.
Ich kniete mich nieder und wollte ihm Trost spenden, wollte ihm helfen auf seinem letzten Weg, ein Beistand sein. Ich fühlte mich ihm verwandt, hatte ich doch vor wenigen Momenten noch gedacht, sein Schicksal übernehmen zu müssen. Doch es war zu spät, er war schon tot. Sein lebloser Blick ging in den Himmel. Ich drückte ihm die Augen zu.
Da hörte ich auch schon schwere Schritte neben mir. Männer hatten sich aus den Hubschraubern herabgelassen und liefen jetzt auf den Toten zu. Sie stießen mich beiseite und packten den Körper, zerrten ihn auf und warfen ihn in die Ladeluke eines Helikopters. Dann sprangen sie selbst hinterher und schlossen die Tür hinter sich.
Sie drehten ab und flogen davon.
Keine zwanzig Sekunden, und sie waren fort, als wären sie nie hier gewesen. Ich stand allein auf dem riesigen Platz, der das Gebäude mit den Möbeln mit dem Bauwerk für Damenmoden verband. Totenstille.
Und während die Stätte sich allmählich wieder füllte, während Menschen von allen Seiten zu mir strömten und der Lärm anschwoll, stand ich da, blickte in den Himmel und dachte darüber nach, weshalb die Augen des Toten nicht gelb gewesen waren.