Ein Fant
Ich hatte ihn nicht gleich erkannt.
Er stand vor einer Wand aus grauem Beton. Fresskörbe waren auf dieser in der Höhe seiner Schultern angebracht. Riesige, rostige Stahlgestelle. Es roch säuerlich. Nach seinem Urin, dem fauligen Obst, dem Gras.
Ich hatte ihn nicht gleich erkannt.
Seine Haut hatte die Farbe der Wand dahinter. Er stand ruhig da. Am Zittern der Ohren konnte ich seine Atmung ahnen. Ein Bulle von beachtlicher Größe. Sein linker Stoßzahn war in der Mitte abgebrochen. Das Weiß war wie Schnee. Ich war bis zur Absperrung gegangen. Ein Wassergraben trennte uns. Ich sah an seinen Säulenbeinen die Kette blitzen. Er konnte keine zwei Schritte machen. Er hätte alle Kraft dazu aufbringen müssen, die Kettenglieder zu sprengen. Wusste er, dass er es schaffen konnte?
Wusste er von der Schwäche, die uns Menschen innewohnte? Ahnte er diese und dass wir nur aufgrund dieser Schwäche Betonwände und Absperrungen bauten? Kannte er seine Stärke oder hatte man ihm diese Kenntnis bereits herausgeprügelt?
Mehlschwalben stießen vom Himmel. Wusste der Bulle von der Weite des Raumes über ihm?
Ein Fant, Mami, ein Fant.
Oh, großer Fant. Mami, Fant alleine?
Kinder reckten ihre Hälse. Der Bulle wurde unruhig.
Er begann mit dem Rüssel den Boden abzutasten. Sie hatten ihm irgendwann seine Seele genommen. Dieses stolze Tier tastet nach seiner Seele, dachte ich. Der Kopf ruckte auf und ab.
Auf und ab.
Ein Auf und Ab in stereotypen Bewegungen.
Sie hatten ihm auch irgendwann seine Erinnerung genommen. Den Geruch von früher. Den Geruch des Savannengrases nach dem Aussetzen des Regens. Den Geruch eines nahenden Löwenrudels. Den Geruch seiner Mutter. Sie hatten ihm auch das genommen. Es gab nichts mehr für ihn. So dachte ich. Ich konnte gegen die Bitterkeit, die ich in mir fühlte, nichts tun. Ich konnte ganz einfach nichts dagegen tun. Ich stand nur da. Ich wollte nicht weggehen von ihm.
Fant, Mami, Fant. Fant. Uuuhh.
Der kleine Junge war nicht zu bändigen.
Die Augen des Bullen. Ich sah sie. Ich sah mitten in seine Augen und musste den Kopf senken. Scham war es. Deshalb hielt ich seinem Blick nicht stand.
Der kleine Junge schleckte wie toll an seinem Eis. Seine Finger waren davon bereits verschmiert, doch er schrie weiter, gestikulierte mit den Armen.
Ein Eisverkäufer schrie.
Eis, Eis, schrie er.
Alles rundum schrie.
Die Mehlschwalben schrieen.
Der Himmel, in dem sie auf und ab turnten, schrie.
Der Bulle schnaubte, schlug mit dem Rüssel gegen die Fußketten.
Ich schirmte die Augen ab. Es kam kaum Sonne dorthin, dort wo der Bulle stand. Die Schatten hatten sich bei ihm eingenistet. Er verschmolz mit der Wand. Daraus leuchtete der abgebrochene Zahn. Der Eisverkäufer schrie noch immer. Es wurde unerträglich. Warum nannte man diese Todeslager Tiergärten? Warum tun wir ihnen das an? Ich sah nicht mehr viel von ihm.
Er war in dieses Betongrau eingetaucht. Ich spürte sein Herz schlagen. Afrika. Sein Herz schlug. Das haben sie ihm nicht herausgerissen. Ich spürte es wie Schläge auf eine Buschtrommel. Die Betonwand vibrierte davon. Er hatte seine Seele ertasten wollen, ganz behutsam mit dem Rüssel den zerschundenen Erdboden abgetastet. Er hatte eine dicke Haut, die Ketten hatten sich darauf, darin, darum wie zerbrechlicher Billigschmuck gelegt. Er hatte seine Seele nicht gefunden. Es musste so gewesen sein. Er musste blind sein vor Angst, mit der Betonwand als Partnerin, an der er sich reiben konnte, die er mit seinem Geruch vollrieb, immer wieder.
Mami, die Affen! Affen!
Wen meinte der kleine Junge? Uns, die wir hier standen, die den Uringeruch eines Gefangenenhauses einatmeten? Oder meinte er unsere Vorfahren, die tatsächlich irgendwo in irgendwelchen sterilen Käfigen schrieen? Jetzt konnte ich es deutlich hören.
Sie schrieen sich die Angst zu, von einem Käfig zum nächsten.
Der Garten war voll mit Tieren, mit Schreien, mit Qual und Warten auf die Erlösung.
Das Eis hatte der kleine Junge über den Stoff seiner Hose verteilt. Ein Bummelzug fuhr vorbei. Fröhliche Menschen mit ihrer Brut saßen darin. Luftballone wurden gehalten.
Der Eisverkäufer schrie. Eis, Eis, schrie er.
Im Himmel war ein Gitter von Kondensstreifen gezeichnet. Weiße Kreidestriche in hellem Blau.
Ich wusste den Bullen mit der Wand verschmolzen. Ich konnte nichts tun.
Was tat ich hier?
Ich versuchte, den Ausgang zu finden.