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Ein Fant

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02.11.2001
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Ein Fant

Ich hatte ihn nicht gleich erkannt.
Er stand vor einer Wand aus grauem Beton. Fresskörbe waren auf dieser in der Höhe seiner Schultern angebracht. Riesige, rostige Stahlgestelle. Es roch säuerlich. Nach seinem Urin, dem fauligen Obst, dem Gras.
Ich hatte ihn nicht gleich erkannt.
Seine Haut hatte die Farbe der Wand dahinter. Er stand ruhig da. Am Zittern der Ohren konnte ich seine Atmung ahnen. Ein Bulle von beachtlicher Größe. Sein linker Stoßzahn war in der Mitte abgebrochen. Das Weiß war wie Schnee. Ich war bis zur Absperrung gegangen. Ein Wassergraben trennte uns. Ich sah an seinen Säulenbeinen die Kette blitzen. Er konnte keine zwei Schritte machen. Er hätte alle Kraft dazu aufbringen müssen, die Kettenglieder zu sprengen. Wusste er, dass er es schaffen konnte?
Wusste er von der Schwäche, die uns Menschen innewohnte? Ahnte er diese und dass wir nur aufgrund dieser Schwäche Betonwände und Absperrungen bauten? Kannte er seine Stärke oder hatte man ihm diese Kenntnis bereits herausgeprügelt?
Mehlschwalben stießen vom Himmel. Wusste der Bulle von der Weite des Raumes über ihm?

Ein Fant, Mami, ein Fant.
Oh, großer Fant. Mami, Fant alleine?

Kinder reckten ihre Hälse. Der Bulle wurde unruhig.
Er begann mit dem Rüssel den Boden abzutasten. Sie hatten ihm irgendwann seine Seele genommen. Dieses stolze Tier tastet nach seiner Seele, dachte ich. Der Kopf ruckte auf und ab.
Auf und ab.
Ein Auf und Ab in stereotypen Bewegungen.
Sie hatten ihm auch irgendwann seine Erinnerung genommen. Den Geruch von früher. Den Geruch des Savannengrases nach dem Aussetzen des Regens. Den Geruch eines nahenden Löwenrudels. Den Geruch seiner Mutter. Sie hatten ihm auch das genommen. Es gab nichts mehr für ihn. So dachte ich. Ich konnte gegen die Bitterkeit, die ich in mir fühlte, nichts tun. Ich konnte ganz einfach nichts dagegen tun. Ich stand nur da. Ich wollte nicht weggehen von ihm.

Fant, Mami, Fant. Fant. Uuuhh.
Der kleine Junge war nicht zu bändigen.
Die Augen des Bullen. Ich sah sie. Ich sah mitten in seine Augen und musste den Kopf senken. Scham war es. Deshalb hielt ich seinem Blick nicht stand.

Der kleine Junge schleckte wie toll an seinem Eis. Seine Finger waren davon bereits verschmiert, doch er schrie weiter, gestikulierte mit den Armen.
Ein Eisverkäufer schrie.
Eis, Eis, schrie er.
Alles rundum schrie.
Die Mehlschwalben schrieen.
Der Himmel, in dem sie auf und ab turnten, schrie.
Der Bulle schnaubte, schlug mit dem Rüssel gegen die Fußketten.

Ich schirmte die Augen ab. Es kam kaum Sonne dorthin, dort wo der Bulle stand. Die Schatten hatten sich bei ihm eingenistet. Er verschmolz mit der Wand. Daraus leuchtete der abgebrochene Zahn. Der Eisverkäufer schrie noch immer. Es wurde unerträglich. Warum nannte man diese Todeslager Tiergärten? Warum tun wir ihnen das an? Ich sah nicht mehr viel von ihm.
Er war in dieses Betongrau eingetaucht. Ich spürte sein Herz schlagen. Afrika. Sein Herz schlug. Das haben sie ihm nicht herausgerissen. Ich spürte es wie Schläge auf eine Buschtrommel. Die Betonwand vibrierte davon. Er hatte seine Seele ertasten wollen, ganz behutsam mit dem Rüssel den zerschundenen Erdboden abgetastet. Er hatte eine dicke Haut, die Ketten hatten sich darauf, darin, darum wie zerbrechlicher Billigschmuck gelegt. Er hatte seine Seele nicht gefunden. Es musste so gewesen sein. Er musste blind sein vor Angst, mit der Betonwand als Partnerin, an der er sich reiben konnte, die er mit seinem Geruch vollrieb, immer wieder.

Mami, die Affen! Affen!

Wen meinte der kleine Junge? Uns, die wir hier standen, die den Uringeruch eines Gefangenenhauses einatmeten? Oder meinte er unsere Vorfahren, die tatsächlich irgendwo in irgendwelchen sterilen Käfigen schrieen? Jetzt konnte ich es deutlich hören.
Sie schrieen sich die Angst zu, von einem Käfig zum nächsten.
Der Garten war voll mit Tieren, mit Schreien, mit Qual und Warten auf die Erlösung.
Das Eis hatte der kleine Junge über den Stoff seiner Hose verteilt. Ein Bummelzug fuhr vorbei. Fröhliche Menschen mit ihrer Brut saßen darin. Luftballone wurden gehalten.
Der Eisverkäufer schrie. Eis, Eis, schrie er.
Im Himmel war ein Gitter von Kondensstreifen gezeichnet. Weiße Kreidestriche in hellem Blau.
Ich wusste den Bullen mit der Wand verschmolzen. Ich konnte nichts tun.
Was tat ich hier?
Ich versuchte, den Ausgang zu finden.

 

Hallo Aqualung!

Ein nachdenklicher, beschämender Text. Du beschreibst die Situation so gut, dass man sich in den Text hineingezogen fühlt. Die Begeisterung des Kindes, das Rufen des Eisverkäufers, der ganze Trubel und dennoch diese innere, sehr persönliche Begegnung mit einem Individuum, dessen Seele gebrochen wurde durch Gleichgültigkeit und Unverständnis. Der Elefant hat aufgegeben, gegen sein würdeloses Schicksal anzukämpfen...Es ist schlimm, wie gedankenlos wir zu unserer eigenen Unterhaltung mit stolzen und individullen Kreaturen umgehen, um sie zu beherrschen. Danke für den Text, Aqua. Gott-sei-dank merken es immer mehr Zoos und bauen die Gehege aus,um den Tieren wenigstes etwas von der genommenen Freiheit zurückzugeben.

Schöne Grüße, Anne

 

Großartig Aqualung, du schreibst als ob du einen Krimi schreibst, oder eben auch vom Sterben berichtest.
Woooww. So richtig gut fand ich schon, wie du erwähnst, dass man ihm alles genommen hat. Dann der Eisverkäufer, blind, der immer wieder dazwischenquarkt, eher störend, aber gut.
"Sie schrieen sich die Angst zu, von einem Käfig zum anderen" das ist auch sehr gut. Tja, sowas, da fehlt es mir.
"Im Himmel ein gitter von Kondensstreifen". Jeder weiss was gemeint ist. Genau richtig an das Ende paciert, am Anfang hätte sich wieder jeder gefragt, "was ist". Ja, Aqua, während ich die Leute gerade kille, und sogar noch ein Lächeln dabei einigen entlocke,streust du mal wieder was wirklich brutales ein, ohne Lächeln.

Das ist mal wieder sehr aussergewöhnlich, ohne Übertreibung.

Liebe Grüsse Stefan

 

Danke für deine Kritik, Maus.
Ich hasse Tiergärten, Zoos, Gehege aller Art.
Es muss möglich sein, dass wir das nicht mehr länger brauchen. Ich weiß nur nicht, ob da Hoffnung besteht.
Den Fant gibt es wirklich. In München an der Isar. Im weltweit gepriesenen Tiergarten. Im Affenhaus kannst du über Lautsprecherboxen die Zillertaler Schürzenjäger hören. Alle Kinder lachen dort und halten Eis in ihren Händen.

Arche!!
Ich hab tatsächlich vom Sterben geschrieben. Vom Sterben in kleinen Schritten. Kinder wissen davon nichts, haben dafür noch keine Schuld. Es sind die "Großen", die alles kaputtmachen mit ihrer Ignoranz und Blödheit. Ich danke dir, dass du dieselbe Aussage in dieser Geschichte findest.

Liebe Grüße an euch beide - Aqua

 

Lieber Aqualung,

als ich vor einiger Zeit mit Freunden aus Süddeutschland Hagenbecks Tierpark besuchte, ging es mir genauso bedrückend wie dir. Ich habe mich nicht daran erfreuen können, die Tiere zu sehen. Überall hatte ich das Gefühl, das du auch beschreibst: ich habe mich dafür geschämt, dass wir Menschen so unbarmherzig mit den Tieren umgehen. Überall war es zu klein für die Geschöpfe.
Deine gelungene Beschreibung der Scham, die dein Protagonist empfindet, die trifft mir tief ins Herz und spricht mir aus der Seele.

Lieben Gruß
Lakita

 

Ja, Lak,

es ist ein unglaublich beschämendes Gefühl, an den Käfigen und Gehegen vorbeizuschlendern. Ich weiß, daß ich bei Familien mit Kindern hier nicht punkten werde. Ich weiß aber - und das nimmt mir niemand -, daß ich nicht falsch liege.
In den meisten Zirkussen wurde von Tierdressur bereits Abstand genommen. Trotzdem kommen die Leute weiterhin.
Es gibt noch zu wenige Nationalparks. Es muß möglich sein, den Luchs in den Alpen, den Elefant in Afrika und den Jaguar in Brasilien zu sehen.

Ansonsten gibts ja Fotos und das Internet.

Liebe Grüße an dich - Aqua

 

Stimmt Aqua,

wenn der Zirkuslöwe ausgedient hat, weil er zu alt geworden ist, wird er getötet.
Es sei denn, er wird von einer Privatinitiative, von denen es gottlob mehrere gibt, bei sich aufgenommen und darf dort in einem Gehege weiterleben.
Das sind die Schattenseiten, die so keiner recht sehen mag, wenn er Zirkusluft schnuppern geht.

Lieben Gruß
Lakita

 

Bin ganz deiner Meinung, Lak.
Schon die Bezeichnung "Zirkuslöwe" ist sowas von krank.
Ähnlich dem Ausdruck "Tanzbär". Mir fällt dazu noch "Versuchskaninchen" ein. Das wiederrum gäbe ein anderes nettes Thema. "Deckhengst" ist ähnlich gelagert. Alles Ausdrücke, die von Menschen geschaffen wurden und gegen die Natur sind.

Liebe Grüße - Aqua

 

und dann und wann, ein weisser elephant.
hi aqua,
jede gute seite hat eine dunkle seite! die erfahrung für die kinder in den zoos, exotische tiere ganz nah zu erleben, ist wirklich nicht zu unterschätzen. dafür nimmt man "gerne" weniger rücksicht auf die tiere. ich muss aber sagen, dass die tierparks i.r. sich schon mühe geben, den gesetzlichen bestimmungen der tierhaltung nachzukommen. wenn es da aber einen elefant gibt, der nur angekettet an der wand verweilt, dann überlegt man sich bestimmt nicht zu unrecht, ob so ein grosses tier mit diesem klitzekleinen lebensraum zurechtkommt. elefanten sind wandertiere. tja, aber sie können die elefanten ja nicht im zoo herumwandern lassen.
die geschichte selbst ist wirklich gut geschrieben. sehr angenehm pathetisch. das ende .. nun, welches andere ende hätte funktionieren können ausser die ohnmächtige flucht?!
fazit: sehr gut geschriebener gefühlseindruck in einem (zu) sehr beliebten thema!
bye
barde

 

hi Aqua,

das ist jetzt blöd, weil ich habe von deiner Geschichte nur den Anfang und den Schluß gelesen.
Ich kann sowas nicht lesen. Ich kann sowas nicht sehen. Deswegen ist meine Mutter auch nie mit mir in Tierhandlungen gegangen, ich habe immer alle Käfigtüren aufgemacht.
Käfige und Tiere- das paßt nicht zusammen.

Jedenfalls: Der Anfang und der Schluß haben mir gefallen, weil bildlich und auf jeden Fall so gut daß ich nicht weiterlesen wollte.
Hat ja auch noch keiner geschafft. :-)

liebe Grüße, alex.

 

Lieber Aqua!

Ich habe Deine Geschichte mit gemischten Gefühlen gelesen. Einerseits hast Du vollkommen Recht mit dem was Du schreibst.
Andererseits muß man aber auch sehen, daß dieses Bild nicht mehr für alle Tiergärten gilt. Man versucht mittlerweile in vielen Tiergärten, den Tieren so weit es geht eine artgerechte Umgebung/Lebensweise zu geben, zu ermöglichen.
Klar, jetzt kann man sagen, daß es ja gar nicht notwendig ist, Tiere in Zoos zu halten.

Aber: Viele Tierarten leben heute nur mehr in Tiergärten und sind aus der Natur bereits verschwunden. Manche Leute versuchen, ihnen wieder eine Umgebung in der Natur zurückzuerobern, zum Beispiel durch Kauf von Regenwald. Bis es soweit ist, ist deren einzige Überlebenschance im Tiergarten.
Auch ist man bemüht, Tiere die vom Aussterben bedroht sind, mittels Zucht in Tiergärten und Aussetzen in der Natur am Leben zu halten.

Leider ist das heute so. Wir Menschen haben die Natur zerstört und wir sind dafür verantwortlich, sie wieder zu reparieren.

Aqua, Du weißt sicher, was Pechlaner alles in Schönbrunn macht. - Das läßt sich aber nur finanzieren, wenn auch Geld hereinkommt. Geld kommt, wenn die Menschen in den Tiergarten gehen, wo sie ja auch vor Augen geführt bekommen, welche der Tierarten heute eigentlich nicht mehr leben... Und erst, wenn man sieht, welch robust wirkende Tiere davon betroffen sind, kann man sich wirklich ein Bild machen, wie weit es mit unserer Umwelt schon ist.

In fortschrittliche Tiergärten zu gehen, hat demnach sehr wohl Sinn und unterstützt die Arterhaltung. ;)

Alles liebe,
Susi

 

Hallo Aqualung,

dass es immer noch diese Parks gibt und diese Zoos empfinde ich als einen großen Skanda.
Wie du das Thema anpackst ist sehr gut.
Der Eisverkäufer ist mir irgendwie auf den Magen geschlagen. Ihn scheint alles nicht zu interessieren!
Die Geschichte spricht einwandfrei. Jeder versteht, was gemeint ist!

Gut gemacht Aqualung.

Lukasch

 

Ganz einfach toll von euch allen, daß ihr diese Geschichte auch zu eurem Thema macht.
Ehrlich gesagt, ich hab mir auch viel Feedback gewünscht. Es ist zuuu wichtig.

Hi Barde,
klar freuen sich "unsere lieben Kleinen", wenn sie exotische Tiere fast hautnah erleben dürfen. Der Blickkontakt und das manches Mal berühren dürfen nimmt die Scheu, fördert Verständnis. Ich sehe das als einzigen positiven Punkt. Alles drumherum ist rabenschwarz.

Hi Alex,
versuch dich auch am Mittelteil. Ohne dem kein Anfang und kein Ende. Wir sind einer Meinung, Alex.

Hallo Susi,
du hast teilweise Recht. Manche Tierarten können nur überleben, weil es die relative Sicherheit der Tiergärten ermöglicht. Allerdings stülpt sich mir bei dem Begriff "artgerechte Tierhaltung" der Magen um. Tierhaltung funktioniert besser bei Nutzvieh, aber auch da oftmals auf Kosten der geschundenen Kreatur.
Mein Aufruf, ganz laut und eindringlich:
Meidet Tiergärten!
Zu Schönbrunn: Pechlaner vermarktet sich und "seine" Tiere unglaublich gut. Es geht hier um volle Kassen, nicht um die dahindämmernden Insassen.

Hi Lukasch,

der Eisverkäufer schreit, um seinen Umsatz zu steigern, ist Teil des ausbeutenden Systems eines Tiergartens. Deine Worte sind meine Gedanken.

Ich danke euch dafür, daß ihr soviele Gedanken hergebt für etwas, das nur dadurch zu ändern sein wird, wenn man darüber spricht. Wenn es sozusagen in aller Munde ist, steht Taten nichts im Wege.

Liebe Grüße - Aqualung

 

Allerdings stülpt sich mir bei dem Begriff "artgerechte Tierhaltung" der Magen um.
Mir schon, wenn ich sehe, wie manche Menschen gehalten werden.

 

Hallo Susi,

ja, das ist vollkommen richtig.
Dein Einwand wäre wert, darüber grundsätzlich zu diskutieren. Aber lass uns bei den Tieren bleiben.
Die sind die wirklich Wehrlosen. Wenn sie tatsächlich beißen, bricht ihnen der Mensch die Zähne aus, kettet sie an, nur weil sie sich artgerecht verhalten haben.
Es ist wirklich zum Nachdenken.

Schau in Sonstiges. Habs doch noch geschafft.
Liebe Grüße - Aqua

 

Hallo Aqualung,
heftig wieder mal, ganz heftig. Und gut!
Auch das Gitter der Kondensstreifen. Mußte an Rilkes Panther denken.
Danke für den Text
*********Merlinwolf**********

 

Danke fürs lesen, Merlinwolf.
Hatte beim Schreiben Rilkes Gedicht im Kopf.
Das ist gnadenlos schön, ja.

Liebe Grüße - Aqua

 

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