Ein Familienausflug
Sie befanden sich auf dem Weg nach Hangen, einem kleinen Dorf, im nördlichen Hessen. Es war der 14. Juli und gleichzeitig der erste Tag der Sommerferien. Frank Kaufmann saß hinter dem Steuer seiner alten VW Passat und wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Es war heiß - hier im Wagen bestimmt an die 30° C. Neben ihm fummelte seine Frau Miriam an den Knöpfen des Radios herum.
Und auf dem Rücksitz legte Jonas den Kopf schief. Frank sah die Augen seines elfjährigen Sohns durch den Rückspiegel. Sie drückten Langeweile und Wut aus. Vor 30 Kilometern hatte er noch vor sich hingejammert und ihm Vorwürfe gemacht, dass er sie noch nicht zu seiner Tante gebracht hatte. Dies hatte er schließlich aufgegeben - nicht zuletzt durch ein paar eindringliche Worte seines Vaters.
"Scheiße, ich krieg den Sender nicht ordentlich rein", rief Miriam entnervt aus.
"So etwas sagt man nicht!", kam die Jonas' Stimme vom hinteren Teil des Wagens. Sein altkluges Geschwätz, seine endlosen Belehrungen und seine Besserwisserei gingen Frank schon seit einigen Monaten auf die Nerven. Zu jedem Thema schien sein Sohn etwas beizutragen zu haben. Frank wusste nicht, wo er das her hatte, zweifelte aber nicht daran, dass die neue Schule, die Jonas seit letztem Jahr besuchte, etwas damit zu tun hatte.
Er spürte in sich den Drang, seinen Sohn anzuschreien. Erschrecken, fand er, wie ein wenig Stress einem aufs Gemüt schlagen konnte. Aber war es wirklich nur ein wenig Stress gewesen?
Nein, entschied er. Es war eine ganze Menge Stress, wenn man früher von der Arbeit abhauen musste (was ihm einen gehörigen Anschiss vom Chef eingebracht hatte), um noch vor Einbruch der Dunkelheit seinen Sohn bei seiner zwei Jahre älteren Schwester abzuliefern, die ihr Leben lang auf einen herabgeschaut hatte. Seit vier Stunden waren sie bereits unterwegs. Vier Stunden an einem der heißesten Tage, den die Bundesrepublick in diesem Jahrhundert erlebt hatte. Und immer wieder diese verdammten Pausen. Dreimal hatte er auf Raststätten halten müssen, weil Miriam darauf bestanden hatte. Drei Pausen, die sie über eine halbe Stunde gekostet hatten. Alles nur, weil seine Schwester Jonas versprochen hatte, dass er in den Ferien ein Wochenende bei ihr und ihrem Mann verbringen durfte. Er hasste sie, und verstand nicht, warum Jonas sie so vergötterte. Zweimal im Jahr tauchte sie bei den Kaufmanns auf - kurz nach Weihnachten und an Jonas' Geburtstag - verteilte teure Geschenke und zeigte allen, die das Pech hatten, in ihre Nähe zu kommen, ihr übertriebenes Lächeln. Schon in seiner Kindheit hatte er seine ältere Schwester nicht ausstehen können. Sie war schon damals eine falsche Schlange gewesen. In München waren sie beide aufgewachsen, bis sie ihren Mann im Urlaub an der Nordsee kennen gelernt hatte. Nachdem die Heirat erfolgt war (bei der ihre Mutter schamlose Tränen vergossen hatte), zogen die beiden ins ländliche Hessen, wo sie noch heute lebten. Robert, ihr Mann, war angesehener Arzt, der es, dank seiner Kenntnisse in der Herzchirugie, auf Titelblätter mehrerer Fachmagazine geschaft hatte. Er verdiente eine Menge Geld, so dass Theresia den liebenlangen Tag auf der Couch verbringen konnte. Sie hatte schon immer Glück gehabt. Während er sich auf dem Gymnasium abgerackert hatte, war sie auf Parties gegangen und hatte die Realschule nach der Neunten abgebrochen. Von ihm hatten seine Eltern eine Menge verlangt, Theresia war auch mit der Fünfern im Zeugnis noch geliebt worden.
"Irgendwie schaffen wir es nicht!", stellte Miriam auf dem Beifahrersitz fest. Für einen Moment fragte er sich, was sie damit wohl meinte, bis er schließlich still über sich selbst lachen musste.
"Gib mir noch eine Viertelstunde", sagte er. "Nur noch eine Viertelstunde und wir stehen auf dem Parkplatz meiner Schwester." Keiner der restlichen Familienmitglieder erwiderte etwas darauf. Frank konnte schnell zornig werden, besonders, wenn man an seinen Fähigkeiten als Autofahrer zweifelte.
Rechts von der Landstraße verlief eine Straße, die höchstens die Bezeichnung Feldweg verdient hatte, durch Felder von hohem Mais und Getreide. Und vor einem dieser Felder - so weit entfernt, dass er es nicht genau bestimmen konnte - ragte etwas in die Höhe, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Er wusste nicht, warum er es machte, aber er riss das Lenkrad nach rechts und fuhr in den Feldweg ein.
Neben ihm schrie Miriam vor Erstaunen und Entsetzen auf. Er achtete nicht weiter darauf, sondern fixierte das Ding, das ihn so plötzlich fasziniert hatte, mit seinen Augen.
"Verdammt, was tust du da?", fauchte sie ihn an, als der Schrecken aus ihren Gliedern gefahren war. Und in ihrer Stimme hörte Frank etwas, das er schon seit ein paar Jahren manchmal heraushören konnte: Hätte ich mich doch nie mit dir eingelassen, sondern stattdessen mit Mike mein Bett geteilt!
Er bemerkte, wie sie ihn ansah und wie hasserfüllt ihr Gesichtsausdruck war. Vor diesem Ausdruck hatte er sich stets gefürchtet, nun stellte er - nicht ohne Genugtuung - fest, dass er ihn kalt ließ.
Sicherlich erwartete sie von ihm eine Antwort, doch er würde ihr keine geben, entschied er. Mochte sie ihn doch verlassen, mochte sie doch in ihrem Haus hocken und ihrer geliebten Jugendliebe mit dem hässlichen Namen Mike nachweinen, während sie auf ihren neuen Stecher wartete! Es war Frank einerlei.
Für ihn zählte nur noch das schwarze Etwas, das er vor sich am Horizont sah. In den letzten Augenblicken hatte er eine Veränderung durchgemacht. In Franks Denken hatte sich etwas Grundsätzliches geändert. Die letzten zwanzig Jahre war er ein treusorgender Familienvater gewesen, mit allen nur vorstellbaren Klisches behaftet. Er hatte ein solides Leben geführt, mit festem Job und vielen Stunden vor dem heimischen Fernseher, immer auf Sicherheit bedacht. Das, was er jetzt tat, war wie eine Rebellion, und er fühlte sich gut dabei. Er kam sich in diesem Moment vor, wie seine Wunschvorstellung von einem Mann über vierzig, als er noch mitten in der Pupertät gesteckt hatte.
Frank drückte das Gaspedal weiter runter und fuhr mit gut hundert km/h den schmalen Feldweg entlang.
"Du Idiot, bist du jetzt total durchgedreht!", schrie Miriam ihn an.
Es fehlte nicht viel, und es wäre ihm unmöglich gewesen, seine Hand noch länger am Steuer zu behalten, anstatt sie ihr geballt ins Gesicht zu schlagen. Nur mit Mühe gelang es Frank, sich zurück zu halten. Er hatte nicht vor, eine Frau zu schlagen - jedenfalls nicht so lange sein Sohn es mit ansehen würde.
"Halt's Maul!", erwiderte er desshalb nur. Er glaubte zu spüren, wie Jonas auf dem Rücksitz die Augen aufriss, und wie seine Frau für einen Moment aufhörte zu atmen.
"Was hast du da gesagt?", fragte Miriam. Ihre Stimme klang verwirrt, und Frank musste feststellen, dass ihm das gefiel.
"Ich habe gesagt..." Vor ihm hatte das Etwas nun genauer Gestalt angenommen. Es war eindeutig ein Kreuz, das da in den Himmel ragte, und das ihn so fasziniert hatte. Ein Kreuz... aber da war noch etwas Anderes.
"Oh, mein Gott!", hauchte Miriam, die es auch gemerkt haben musste. Irgendwie schaffte er es seinen Blick von dem Objekt abzuwenden und einen kurzen Blick auf seine Frau zu erhaschen. Was er sah, ließ ihn jedliges Gefühl der Freiheit und der Verwegenheit vergessen. In ihren Augen sah er das bloße Entsetzen. Niemals hätte eine Schauspielerin diesen Gesichtsausdruck hinbekommen, es war schrecklich. Die Angst ergriff Besitz von ihm.
Als Frank wieder nach vorne blickte, erkannte er, was ihr Entsetzen ausgelöst hatte: An dem Kreuz hing ein Mensch. Schon zuvor hatte er gesehen, dass sich etwas an dem Kreuz befand, doch er hatte gedacht, es handele sich um eine Puppe. Einen billigen Scherz, den Jugendliche sich erlaubt hatten, oder um die Werbung für ein Theaterstück, das sich um die letzten Stationen Jesu drehte. Aber jetzt war es eindeutig: Es war ein Mensch, der dort, drei Meter über dem Boden, auf die Kornfelder niedersah.
Durch den leichten Wind bewegten sich seine langen Haare und Teile seiner Kleidung. Frank konnte nicht wissen, ob es sich um einen Toten handelte, zweifelte aber nicht im Geringsten daran.
Er trat auf die Bremse und kam ca. 50 Meter vor dem Kreuz zum stehen. Weder Miriam noch Jonas sagten ein Wort. Bedrückende Stille herrschte im Wagen. Stille, die er die gesamte Fahrt über vermisst hatte, und die er nun verfluchte.
Später sollte er einem Polizeibeamten berichten, dass er nicht genau wüsste, wie lange sie so in ihrem Passat verharrt und das grausige Schauspiel, das sich ihnen bot, mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination betrachtet hatten. Miriam war es schließlich, die das Schweigen beendete und die einzigen beiden Fragen stellte, die in diesem Moment von Bedeutung zu sein schienen: "Was ist hier geschehen? Frank, was tun wir jetzt?"
Auf die erste Frage wusste er keine Antwort, im Bezug auf die zweite konnte es nur eine geben: "Die Polizei", sagte er trocken.
"Polizei?", fragte Miriam. "Was soll die Polizei hiermit zu..."
"Ich meine, du sollst mit deinem Handy die Polizei benachrichtigen." Er sagte es klar und deutlich, und dennoch hörte er sich an, als wäre er abwesend. Als ginge es nur um Kleinigkeiten und seine Ehefrau hätte nur eine ihrer vielen belanglosen Fragen gestellt. Er hätte nicht gedacht, dass er in einer solchen Situation die Ruhe bewahren könnte. Während Miriam das Handschuhfach öffnete und daraus ihr Handy entnahm, hörte er seinen Sohn weinen. Das laute Schluchzen, das er dabei regelmäßig ausstieß, ging Frank durch Mark und Bein. Wie durch einen Reflex ging seine Hand zum Türgriff. Seine Frau war noch damit beschäftigt, die 110 einzutippen (mehrere Male gab sie die falsche Nummer ein, da ihre Finger zitterten als hätte sie einen epileptischen Anfall), da setzte er den ersten Fuß aus dem Wagen. Und noch eher sie es richtig regestriert hatte, war er aus dem Auto gestiegen und stand nun vor dem Kreuz, das sich wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten in den abendlichen Himmel erstreckte. Unbeschreibliche Schönheit umhüllte es, die er verzweifelt mit allen Sinnen zu erfassen versuchte, was ihm aber nicht gelang. Ein Gefühl erfasste ihn - es war eine Mischung aus Melancholie und Freude, und es ließ ihn Tränen in die Augen steigen. Vorbei waren sein Entsetzen und die Angst, die er verspürt hatte.
Frank betrachtete den Menschen, den man an das Holzkreuz genagelt hatte (wie den Erlöser im Neuen Testamant) mehr mit Faszination, als mit Unbehagen und Schrecken. Es war ein Mann, der die Fünfzig überschritten hatte. Tiefe Falten zogen sich durch sein Gesicht, dessen Mund von einem grau-schwarzen Vollbart umgeben war. In ihm hatten sich eine Vielzahl an Pollen verfangen. Das Haar des Mannes war vollständig ergraut. Fettig hing es ihm bis zur Brust. Der leichte Wind wehte Stränen immer wieder vor die geschlossenen Augen.
Frank starrte auf diese Augen und es war ihm, als würden sie sich unter den Lidern bewegen.
Er erwartete fest, dass sie sich öffneten und einen Blick entblösten, der ihn mit Wahnsinn erfüllen würde. Nicht, dass er sich davor gefürchtet hätte - dazu war das Bild viel zu faszinierend. Ein Zauber lag über diesem Bild, Wozu auch die schwarze Robe des Gekreuzigten einen Teil beitrug. Sie bedeckte den ganzen Körper bis zu den nackten Füßen und war mit dem Gewand eines Priesters zu vergleichen.
Von einiger Entfernung hörte Frank die aufgeregte Stimme seiner Ehefrau, die einer Telefonistin der Polizei zu erklären versuchte, was hier vor sich ging. Die selbe Aufgeregtheit hatte in ihrer Stimme gelegen, als sie zusammen mit Frank und ihren Eltern die Organisation ihrer Hochzeit geplant hatte.
So hätte sie auch bei eurem ersten Fick geglungen, wenn sie nicht dein Schwanz in ihrem Mund ihr das Sprechen unmöglich gemacht hätte, dachte er gleichgültig. Von seinem Sohn hörte er weiterhin nur ein Schluchzen.
Frank machte ein paar Schritte nach vorne. Jetzt konnte er den Verwesungsgeruch wahrnehmen, der von der Leiche ausging, die in der unbarmherzigen Hitze hatte braten müssen. Es war auszuhalten, befand er und widmete sich der Stelle, an der man den übereinander liegenden Füßen einen Nagel durchs Fleisch geschlagen hatte. Nun, vielleicht traf es die Bezeichnung Bolzen besser. Um das Eisen des Nagels/Bolzen befand sich ein großer Fleck getrockneten Blutes. Es hatte nichts mehr von seiner einstigen roten Farbe, sondern war braun.
Sein Blick führte ihn zu den Grasbüscheln unter dem Kreuz. Auch sie hatten die Farbe von getrocknetem Blut angenommen.
Aus irgendeiner Himmelsrichtung hörte Frank eine Krähe, die die Melancholie dieses Augenblicks unterstrich. Er sah von den Büscheln auf und seine Augen wanderten zum Himmel, der hinter den Kornfeldern langsam die Abendröte annahm. Noch einmal hörte er die Krähe schreien, diesmal glaubte er sagen zu können, dass ihre Stimme aus dem Weizenfeld westlich von ihm ertönte.
Als sich eine Hand sanft auf seine rechte Schulter legte, schloss er für einen Moment seine Augen. In der Dunkelheit wanderte der Umriss des Kreuzes auf seiner Netzhaut. Er öfffnete sie wieder und drehte sich um. Es war Miriam und ihre Mundwinkel zuckten wild. Tränen flossen an ihren Wangen hinunter. Dieser Anblick ließ ihm jeglichen Hass auf sie vergessen. Mehr noch, er bewirkte, dass seine Liebe zu ihr größer war, als jemals zuvor in den Jahren, die sie miteinander geteilt hatten. Miriam sah ihn an (Frank kam es so vor, als würde sie sich zwingen müssen, nicht einen kurzen Blick auf den gekreuzigten Mann zu werfen), und der Drang sie zu umarmen raubte ihm einen Augenblick den Atem. Er schlang die Arme um seine Frau und drückte sie fest an sich.
"Wir können auch am Ende der Straße auf die Polizei warten", sagte sie ihm ins Ohr. "Lass uns von diesem Ort verschwinden!"