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Ein Fall von Erpressung
Gegen Mittag war die meiste Arbeit erledigt, und ich konnte mich meinem Brief widmen. Wie sollte ich beginnen? Sehr geehrter Herr Möller? Nein, zu offiziell. Liebes Opfer? Zu vertraulich.
Sie Idiot,
Das war schon besser.
In Ihren Reihen befindet sich ein schwarzes Schaf. Arthur Münstermann schlägt seine Frau und die Kinder. Ich fordere Sie hiermit ultimativ auf, mir ein Schweigegeld von 50.000 Euro zu zahlen und werde Sie bezüglich der Übergabemodalitäten erneut anschreiben.
Es klang zwar etwas bürokratisch, gefiel mir aber gut. Die erfundene Anschuldigung gegen Münstermann würde Möller aufrütteln. Da war ich mir sicher. Münstermann war so gut wie erledigt, freute ich mich, und ich würde endlich seinen Posten als Experte für Wirtschaft und Finanzen einnehmen. Vor Euphorie wollte ich den Text schon ausdrucken, da fiel mir ein, dass ich mir noch einen Namen für den Verfasser ausdenken musste.
Der Bestrafer
Das war es. Perfekt! Ich druckte die Seite aus, faltete sie zweimal und legte sie zwischen die eingegangenen Briefe.
Am nächsten Tag rief Möller uns alle im kleinen Konferenzraum, dem „Rectangular Office“ zusammen. Wie üblich erklärte er, was an Arbeit anstand. In zwei kleineren Wahlkreisen mussten Kundgebungen vorbereitet werden. Ein Landrat der Regierungspartei hatte sich zum Thema Ausländerfeindlichkeit geäußert. Dazu musste dringend ein Gegenentwurf verfasst werden. Ansonsten gab es nur die übliche Wahlkampfroutine: Wurfzettel verteilen und die Basis motivieren. Dann kam er zum Thema, das mich interessierte.
„Gestern ist ein Erpresserbrief bei uns eingegangen.“ Er legte meinen Brief auf einen Projektor, und die Worte erschienen vor uns auf einer Leinwand.
Zwei Minuten herrschte Stille, in denen ich mich genüsslich zurücklehnte, und auf die Reaktionen des Teams wartete. Dann äußerte sich Frau Rauber, die Expertin für Landwirtschaft. „Gerade jetzt muss das kommen“, sagte sie, „in der heißen Phase des Wahlkampfes.“
„Wer steckt wohl dahinter“, fragte Möller und wandte sich dabei an Silvia Seitz, die das Ressort für innere Sicherheit leitete.
Warum fragt er nicht Münstermann, dachte ich und schaute vorsichtig zu ihm herüber. Aber der saß überraschend gefasst mit gefalteten Händen auf seinem Stuhl und schwieg.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Seitz, „aber ich glaube nicht, dass es jemand aus Bestäubers Team ist.“
Alle schauten sie interessiert an.
„Warum nicht?“, fragte Möller. „Bestäuber könnte doch dahinter stecken. Er merkt, dass wir in den Umfragen immer weiter aufholen, und will uns auf diese Weise sabotieren.“
Ich gab ihm innerlich recht. Edelbert Bestäuber war zwar regierender Ministerpräsident und der Spitzenkandidat der Konkurrenz, aber in diesem Jahr sah es ganz so aus, als könnten wir ihn zum ersten Mal seit mehr als zwanzig Jahren schlagen. Wenn ich nicht wüsste, wer den Brief verfasst hat, würde ich auch zuerst an ihn denken.
„Das könnte schon sein“, entgegnete Seitz, „aber dieser Bestrafer ist wahrscheinlich nicht besonders intelligent. Das spricht gegen jemanden, aus Bestäubers Team“
Ich schluckte. „Nicht besonders intelligent? Wie kommen Sie denn darauf“, fragte ich entrüstet.
„Nun, er hat Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung. Im Satz ‚Ich fordere Sie hiermit ultimativ auf, mir ein Schweigegeld von 50.000 Euro zu zahlen und werde Sie bezüglich der Übergabemodalitäten erneut anschreiben.‘ muss nach ‚zahlen‘ ein Komma stehen, denn der Nebensatz ist dann abgeschlossen.“
Frau Rauber kicherte.
„Aber sind Infinitivkonstruktionen mit ‚zu‘ nicht nach der neuen Rechtschreibregelung von den Kommapflicht befreit?“, trumpfte ich auf.
„Das schon“, sagte sie. Aber wenn am Anfang ein Komma steht, muss am Ende auch eines folgen.“
Jetzt lachten alle. Außer mir natürlich.
„Hören wir doch einmal, was Herr Münstermann dazu sagt“, unterbrach Möller das Gelächter.
Darauf war ich natürlich auch gespannt. Münstermann war schließlich der Beschuldigte. Wie würde er sich wohl herausreden? Würde er die Anschuldigungen abstreiten? Wer würde ihm dann glauben und wer nicht? Ich drehte mich zu ihm um und wartete auf seine Reaktion.
„Ich denke, das Risiko einer öffentlichen Blamage ist im Augenblick sehr groß“, sagte Münstermann. „Wir sollten auf die Forderungen des Erpressers eingehen, Herr Ministerpräsident.“
Unglaublich. Er nannte Möller schon Ministerpräsident, obwohl bis zur Wahl noch vier Wochen waren. Ein widerlicher Schleimer war er schon immer, dieser Münstermann, aber damit hatte er sich in meinen Augen komplett disqualifiziert. Vermutlich sah er genauso klar wie ich, dass Möller gar nicht anders konnte, als ihn fallen zu lassen, egal wie er sich wand. Münstermanns politische Karriere war erledigt, oder Möllers Wahlkampf war gelaufen.
„Ich glaube, Sie haben recht, Herr Münstermann“, sagte Möller.
Zuerst dachte ich, mich verhört zu haben. Aber dazu bestand eigentlich kein Grund. Es war nämlich ganz ruhig im Office, weil niemand sich zu sprechen traute. Aber konnte das wirklich sein? Verteidigte Möller tatsächlich diesen Lumpen von Münstermann, ohne überhaupt nach der Grundlage der Anschuldigungen zu fragen? Ich zweifelte auf einmal an Möllers Führungsqualitäten.
„Wäre es nicht besser“, warf ich ein und versuchte dabei möglichst unbeteiligt zu wirken, „Herrn Münstermann von der politischen Arbeit freizustellen, damit er sich persönlich und intensiv um diese unangenehme Angelegenheit kümmern kann?“ Und zur Verstärkung meines Vorschlages fügte ich hinzu: „Herr Ministerpräsident.“
„Nun, Herr Leitner“, entgegnete Möller und schaute mich dabei an, „Sie sind sicher ein hervorragender familienpolitischer Sprecher, aber diese Angelegenheit sollten Sie den Experten überlassen.“
Ich lächelte und nickte huldvoll als Reaktion auf diesen unglaublichen Affront. Familienpolitik! Musste er mich immer wieder daran erinnern, dass ich nur den Familienpolitikposten bekommen hatte, das Ressort, das normalerweise mit alleinerziehenden Quotenfrauen besetzt wurde, die die Hauptaufgabe hatten, auf Fotos des Schattenkabinetts ihre Oberweite zu präsentieren? Wusste er nicht ganz genau, dass ich der qualifizierteste Finanzexperte in seinem Team war?
„Wie Sie meinen“, sagte ich. „Dann wird es also eine Geldübergabe geben, wenn der Bestrafer sich wieder meldet.“ Innerlich plante ich schon den nächsten Brief.
Am nächsten Tag rief uns Möller wieder zusammen. Auf dem Tisch lag ein schwarzer Aktenkoffer mit Geld. „Der Erpresser hat sich gemeldet. Die Geldübergabe soll heute Nacht in dem alten Steinbruch nahe Chorweiler stattfinden.“
„Besonders erfinderisch scheint der Herr Bestrafer ja nicht zu sein“, lästerte Frau Rauber, und hatte die Lacher auf ihrer Seite. „Ein Steinbruch als Übergabeort. Das kommt doch in jedem zweiten Fernsehkrimi vor.“
Ich verzichtete darauf, zu widersprechen, denn ich war mir eines herzhaften Lachers sicher, wenn Münstermann Morgen von der Geldübergabe berichten würde. Natürlich würde er niemanden in dem Steinbruch antreffen, denn den Erpresser hatte ich ja nur erfunden. Er würde uns also stammelnd erklären müssen, dass er am Übergabeort war, aber niemand seinen Geldkoffer wollte, was aus seinem Munde natürlich vollkommen unwahrscheinlich klingen würde. Und so würde er wie ein Feigling dastehen, der sich nicht getraut hatte, seinem Bestrafer gegenüberzutreten. Damit war er endgültig disqualifiziert für die Funktion des wirtschaftspolitischen Sprechers, und ich würde der neue Wirtschaftsminister werden. Vielleicht sogar Superminister für Wirtschaft- und Finanzen.
„Ich werde das Geld persönlich übergeben“, sagte Möller.
Vor Schreck und Überraschung biss ich mir auf die Zunge. Was hatte ich da gehört? Möller, unser Ministerpräsident in spe, erklärt diese peinliche Angelegenheit zur Chefsache! Er will sich allen Ernstes persönlich in Gefahr begeben – und das wegen eines Halunken, der von Finanzpolitik soviel verstand, wie Adam und Eva von Überbevölkerung.
„Ist das nicht zu gefährlich?“, fragte ich, um ihm die Absurdität seines Vorhabens klarzumachen, und hielt mir dabei ein Taschentuch vor den Mund, damit kein Blut heraus tropfte.
„Ich tue es für meine Wähler“, antwortete Möller mit fester Stimme.
Etwas für die Wähler tun, war eine Formulierung, die Politiker in der Öffentlichkeit gerne gebrauchten. Normalerweise bedeutete es, dass man für eine Aktion kein Schmiergeld verlangen konnte, was natürlich einen ansonsten unüblichen Altruismus voraussetzte.
„Sollten wir nicht die Polizei einschalten?“, fragte Rauber.
„Um zum Gespött von Bestäubers Innenministers zu werden?“, entgegnete Möller, „Nein nein, das erledigen wir selbst.“
Ich musste wohl meinen Plan ändern.
Im Steinbruch war es wärmer als ich gedacht hatte. Der Schiefer hatte die Hitze des Tages gespeichert und gab sie jetzt, in der Nacht, an die Umgebung ab. Ich hatte einen blauen Overall angezogen, der mich garantiert unkenntlich machte, aber zu warm war. Über den Kopf hatte ich eine Skimütze gezogen. So schwitzte ich geduckt hinter einem Felsbrocken, während ich auf Möller wartete.
Endlich sah ich ihn. Er hielt den Geldkoffer in der rechten Hand und schaute auf seine Uhr. Ich hatte mir vorgenommen, ihn genau fünfzehn Minuten warten zu lassen, damit sein zweifellos vorhandener latenter Hass auf Münstermann sich noch verstärken konnte. Dann wollte ich aus meinem Versteck kommen und ihm den Koffer abnehmen.
Bestimmt würde er fürchterliche Angst vor mir haben. Schließlich spielte ich einen gemeinen Erpresser. Diese Episode würde er sein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen. Auf jeden Fall aber würde ihn die Begegnung mit dem Bestrafer von der Schuld Münstermanns überzeugen. Das war klar.
In diesem Moment sah ich einen Mann, der auf Möller zuging. Er war ungefähr so groß wie ich, schwarz gekleidet und trug einen Motorradhelm. Ich hatte natürlich gehofft, dass wir um diese Zeit ungestört blieben. Aber noch war nichts passiert. Ich konnte einfach in meinem Versteck bleiben, bis ich mit Möller wieder allein war.
„Sind Sie der Bestrafer?“, hörte ich Möller naiverweise fragen.
Ich lachte leise vor mich hin. Was mochte der Motorradfahrer wohl denken, mitten in der Nacht mit einem solchen Namen angesprochen zu werden?
„Ja“, antwortete er und fügte hinzu: „Haben Sie das Geld?“
Vor Überraschung ließ ich den Stein los, an den ich mich geklammert hatte, sodass ich einen kurzen Moment lang das Gleichgewicht verlor. Als ich wieder zu Möller schaute, übergab der gerade den Geldkoffer und wendete sich zum Gehen.
Zuerst wollte ich protestieren, aus meinem Versteck preschen und den getürkten Bestrafer zur Rede stellen. Ich war außer mir. Jemand hatte meine Idee gestohlen und bereicherte sich auf meine Kosten an der Wahlkampfkasse.
Möller war bereits außer Reichweite. Der Bestrafer wartete noch und schaute dem zukünftigen Ministerpräsidenten hinterher. Schließlich drehte er sich um und ging in die Richtung, aus der er gekommen war.
Ich musste etwas tun. Das war klar. Auf keinen Fall durfte ich diesen Trittbrettfahrer davonkommen lassen. Schließlich hechtete ich aus meinem Versteck. Der Mann ging ungefähr zwanzig Meter vor mir und drehte mir den Rücken zu. Mit seinem Helm konnte er mich nicht sehen und wahrscheinlich auch kaum hören. Ich rannte auf ihn zu, bis ich genau hinter ihm war, stieß ihm im vollen Lauf meine Faust in die rechte Nierengegend und schnappte den Koffer, den er fallen ließ. Dann rannte ich weg.
Erst Zuhause, als ich den Koffer ablegte, die Skimütze auszog und den Reißverschluss des Overalls öffnete, kam ich zum Nachdenken. Es war Münstermann, da war ich mir sicher. Ich hatte ihn an seinem Gang erkannt, jenes schleimige Schlurfen mit dem er hoffte, demnächst die Gänge des Wirtschaftsministeriums entlang trotten zu können. Der Mann entblödete sich nicht, wegen lumpiger fünfzigtausend Euro eine Scharade aufzuführen, die so leicht zu durchschauen war, wie eine Klarsichtfolie. Aber wenigstens das hatte ich ihm vergällt. Das Geld sollte er nicht bekommen.
Ich öffnete den Koffer. Aber statt der Geldbündel, die ich darin vermutete, kam mir eine schwarze Wolke entgegen. Ein öliger Farbstoff wurde durch eine kleine Explosion freigesetzt und verteilte sich auf meinem Gesicht und Oberkörper. Später fand ich heraus, dass diese Farbe nicht abwaschbar war. Ich war anscheinend in eine Falle getappt.
Morgen würde ich wohl nicht im Wahlkampfbüro erscheinen können. Macht nichts. Bestimmt brauchte Edelbert Bestäuber noch einen fähigen familienpolitischen Sprecher mit Insiderkenntnissen.