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Ein Fall für die Klinik
Ich erwachte morgens um vier von einem ohrenbetäubenden Piepen. Sofort hechtete ich an den PC - jemand hatte etwas gepostet!
Ich kritisierte die Geschichte nicht einmal. Nach dem Lesen der ersten drei Sätze beschloss ich, sie dem Korrektur-Center zu schenken und legte mich wieder ins Bett.
Kaum, dass ich eingeschlafen war, so schien es mir, brach erneut jenes Piepen los. Dieses Mal war die Geschichte leider ortographisch einwandfrei, sodass ich mich gezwungen sah, sie durchzukorrigieren. Morgens um sechs klingelte dann der Wecker.
In der Schule rannte ich alle zwanzig Minuten aufs Klo, natürlich führte mein Weg mich jedes Mal am einzigen, öffentlich zugänglichen, internetfähigen PC vorbei.
Eine Geschichte, eine Geschichte!
Ich druckte sie rasch aus und schmuggelte sie unter meinem Pullover ins Klassenzimmer, wo sie mir die langweilige Matheklausur versüßte. Ich hatte auch wirklich viel zu verbessern, dieses Mal. Meine Kritik war gar nicht sarkastisch und ich fischte jede Verbesserungsmöglichkeit aus dem Text. In der nächsten Stunde gab ich sie meinem Deutschlehrer, der das Thema meiner Facharbeit daraufhin spontan von "Kurzgeschichten" in "Kurzgeschichten" änderte.
Die beiden Sportstunden schwänzte ich. Wir spielten Volleyball - das war viel zu gefährlich für meine Finger. Was, wenn ich nie wieder tippen könnte?
Während meines halbstündigen Heimwegs hatten doch tatsächlich wieder drei Mitglieder Kurzgeschichten gepostet. Deshalb hier jetzt ein Aufruf an jene:
Lasst mich doch in Ruhe!
Ich habe doch wirklich etwas Besseres zu tun, als euren Kram zu lesen! Ich habe neben dem Lesen auch noch andere Interessen!
Zum Beispiel organisiere ich gerade eine Lesung! Ich muss das San Francisco Symphony Orchestra anwerben und es dann als „mediale Untermalung“ dem Webmaster in die Kostenabrechnung unterjubeln!
Als ich gerade mit deren Manager telefonierte, wurde schon wieder eine neue Geschichte gepostet, eine Märchen-Persiflage. Zum Glück war sie weder schlecht noch lang, sodass ich sie in einem Rutsch durchlesen konnte, aber der Manager hat sich sehr über meine geistesabwesenden Antworten gewundert. Jetzt habe ich etwa zehn Minuten des Gespräches nicht mitbekommen, und wer ist Schuld daran? Na? Na? Ich weiß es!
Oder – ich überarbeite meinen Roman! Denkt ihr denn, das wäre nicht mit Arbeit verbunden? Das verdammte Ding hat hundertvierzig Seiten, und mit jeder überarbeiteten Seite mehr fällt mir auf, was das für ein dilettantischer Stümperkram ist. Dass so etwas wirklich von mir sein soll, kann ich mir mittlerweile nicht mehr vorstellen. Aber jetzt, wo es schon mal auf meiner Platte liegt, kann ich es ja auch gleich auf ein angemessenes literarisches Niveau heben und veröffentlichen.
Dann wäre da noch diese Deutsch-Facharbeit... Natürlich werde ich bei der Arbeit immer wieder von Neupostings unterbrochen und von wütenden Mitgliedern, die der Meinung sind, ihre Kurzgeschichten wären unter "Fantasy" viel besser aufgehoben als in "Sonstiges", "Horror" oder "Philosophisches". Okay, ich gebe zu, der Mensch, den ich in Horror verschoben hatte, hatte wahrscheinlich Recht - aber ich habe mich vor lauter Rechtschreibfehlrn so gegruselt, dass ich Anderen, die das gern tun, auch die Gelegenheit dazu geben wollte.
Da kommt mir eine Idee für eine neue Story - und ich bin mit Deutsch immer noch nicht weiter...
Natürlich wurde ich beim Story-Schreiben gestört. Das Telefon klingelte, es war mein Freund, der mich zum Essen einladen wollte. Zähneknirschend warf ich die angefangene Arbeit in die Ecke und machte mich schön, in meiner Handtasche versteckte ich aber heimlich einige Geschichten-Ausdrucke. Dann kritisiere ich eben auf dem Klo... er darf sich wirklich nicht beschweren, wenn ich eine halbe Stunde auf dem WC verbringe, Frauen tun so etwas nun mal.
Wirklich, dieser Kerl ist so etwas von aufdringlich! Immer stiehlt er mir meine kostbare Zeit...
Warum ich überhaupt mit ihm zusammen bin?
Er arbeitet bei Heyne! In leitender Position!
Es wurde doch ein bisschen später, bis ich zu Hause war. Genauer gesagt, es war drei Uhr! Er hat mich einfach betrunken gemacht und mich zu sich nach Hause geschleppt, wo... nun, Reich-Ranicki würde die Beschreibung der folgenden Stunden als "erotischen Unsinn" einstufen, deshalb spare ich sie mir. Wer schreibt schon Texte, die vor den Augen Reich-Ranickis keinen Gefallen finden?
Jedenfalls hat er nicht einmal Internet, nur Telefone. Von denen dafür gleich vier, aber das tut nichts zur Sache, als Portal auf meine Kurzgeschichtenforen sind sie nicht tragbar.
Natürlich hatte schon wieder jemand etwas gepostet. Zum Glück lallten meine Finger nicht, als ich dem Mitglied unter seine Geschichte schrieb:
"Lieber Soundso, willkommen auf Kurzgeschichten.de
Ich freue mich, dich in unserem Kreis begrüßen zu dürfen.
Folgende Rechtschreibefehler hast du gemacht
Dann kommt eine Auflistung seiner Rechtschreibefehler.
Dann eine seiner Stilfehler.
Dann eine seiner unglücklich gewählten Metaphern samt Verbesserungsvorschlägen.
"Leider bin ich zur Zeit ein bisschen (hier steht in der Originalversion dann ein Smiley), deshalb kann ich nur meinen ersten Eindruck von deiner Geschichte niederschreiben...
Um es mit den Worten von Reich-Ranicki zu sagen..."
Leider konnte ich die Kritik nicht posten, das Web-Interface faselte irgendetwas von einer Smiley-Begrenzung. Und dabei hatte ich mir solche Mühe gegeben... Ich speicherte die Kritik also einfach im Word, negierte noch schnell die roten Linien und verschwand dann im Bett.
Kaum hatte ich mein müdes Haupt auf der Matratze gebettet, als schon ohrenbetäubende Geräusche losbrachen. War das der Annäherungs-Alarm, den mein Internet-Explorer jedes Mal auslöste, wenn jemand meine Startseite betrat?
Oh nein, es war der Wecker...
Auf dem Weg zur Schule dachte ich grimmig über diese Geschichten von Tamara und dem Illusionisten nach. Darin machten sie Schleichwerbung für eine so genannte Klinik, in der man von der Sucht von Kurzgeschichten geheilt werden würde... aber ich war nicht süchtig, ich hatte alles unter Kontrolle.
Jetzt musste ich es nur noch zur Kaffeemaschine in der Kantine schaffen, ohne einzuschlafen.