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Ein Einkauf
Basti geht gern einkaufen. Ganz im Gegensatz zu seiner Mutter. Basti freut sich bereits zuhause darauf, durch die ellenlangen Gänge des Supermarkts zu laufen, keine Kurve bremst seinen Lauf, keine Ecke verlangsamt seinen Schritt, er hat Platz. Und alles um ihn herum ist bunt und köstlich.
Wenn seine Mutter die Schuhe hervorholt und er seine kleinen Füße hineinschieben soll, ist er schon voller Tatendrang, der sich kaum im Zaum halten lässt. Basti will los, er spürt jeden Muskel, jede Faser seines Körpers. Er hat Kraft. Und er hat Freude. Er weiß genau, was kommt. Seine Füße bewegen sich von ganz allein, sie sind voller Erwartung, er kann sie kaum bändigen.
Seine Mutter hat an genau dieser Stelle das erste Mal den Schweiß auf der Stirn stehen. Sie flucht still in sich hinein. Und hat ihre liebe Not, diese quirligen Füße in die Schuhe zu stecken, diese patschigen kleinen Zehen, kaum zu fassen.
Basti hat die Schuhe bewältigt, nun muss er die erste Runde drehen, da wird er am Arm zurückgezogen. Die Jacke muss noch sein, es ist frisch draussen. Aber er ist doch bereits auf halbem Weg. Wie soll er seine Arme dort hineinbekommen? Alle Kraft möchte hervorbrechen und kann doch nicht, denn seine Arme werden von einem Schraubstock gehalten und hineingezwängt in eine enge Jacke, der Reißverschluss wird hochgezogen und die zarte Haut unter seinem Kinn mit einem schwungvollen “Ratsch” zwischen zwei Metallzähnchen eingeklemmt. Seine Kraft und sein Schmerz finden einen Weg in die Welt, Basti schreit auf, dass alle Gläser in der näheren Umgebung in Schwingungen geraten. Und nun wird er hochgehoben, hat urplötzlich keinen Boden mehr unter den Füßen, fliegt im Bogen in einen Sitz, mit dem er durch harte Kunststoffschnallen verbunden wird, er schreit. Er wirft sich gegen die Bänder, die ihn in den Sitz pressen, er will doch nur laufen, er will rennen.
Seine Mutter hat Mühe, ihre Berherrschung zu wahren. Gedanken schießen ihr durch den Kopf, Gefühle gehen durch ihren ganzen Körper. Sie hasst es, einkaufen zu gehen. Bis dieses Kind im Kinderwagen sitzt und sie sich auf den Weg machen kann, ist sie bereits so erschöpft, dass sie sich am liebsten sofort hinlegen möchte. Kaum schafft sie es, ihr Kind in die Jacke zu bringen, und dann hampelt dieser Bursche so herum, dass sie ihm den Speck unter dem Kinn mit dem Reißverschluss einklemmt. Schon schreit er wieder in einer Frequenz, die ihre Ohren vor Kummer aufstöhnen lässt. Es würde sie nicht wundern, würde eines Tages das Jugendamt vor der Tür stehen. So wie dieses Kind immer schreit, als ziehe ihm bei lebendigem Leib jemand die Haut ab. Wenn er nicht immer im Kinderwagen toben würde, dann müsste man ihn auch nicht fixieren, als wäre er ein Insasse einer Heilanstalt, der seine Medikamente nicht genommen hat. Sie muss los.
Draussen sieht Basti viel von der Welt. Warum darf er all die tollen Dinge nicht anfassen? Da vorn flattert eine kleine Tüte im Wind, sie winkt ihm zu und möchte von ihm gefangen werden. Aber er kann dort nicht hin, er ist festgezurrt. Und auf dem Boden liegt ein Stein. Es ist ganz sicher der beste Stein, dem er je begegnet ist. Er versucht, ihn zu erreichen, doch seine Arme sind zu kurz. Er fühlt sich an der Jacke zurückgezogen und sitzt wieder gerade in seinem fahrbaren Gefängnis. Schon erhascht sein Blick ein neues Abenteuer. Hat der Mensch da vorn wirklich ein Eis in der Hand? Warum hat er keines für ihn? Wenn er fragen könnte, er würde sicher eins bekommen. Aber der Mensch schaut nicht einmal zu ihm herunter. Er möchte so gern auch ein Eis. Er kennt Eis, er weiß, wie kühl, wie süß und wie cremig ein Eis in seinem Mund schmilzt. Basti schreit seine Traurigkeit heraus.
Die Mutter blickt ratlos auf dieses tobende Bündel im Kinderwagen. Wellen von Ärger schlagen über ihr zusammen. Warum kann es nicht möglich sein, nur kurz einkaufen zu gehen? Warum muss jeder Einkauf ein Kraftakt von unglaublichem Ausmaß werden? Warum muss dieses Kind sich gebärden wie ein Irrer? Kann es denn nicht, wie andere Kinder auch, einfach in seinem Wagen sitzen, zufrieden alles anschauen und Ruhe geben? Welch eine Qual, mit diesem kleinen Teufel in der Welt herumzulaufen.
Basti erkennt das leuchtende Schild des Supermarkts schon aus der Ferne. Und freut sich, gleich darf er heraus aus seinem Wagen und darf laufen. Immer näher kommt das Schild und Basti zappelt und jammert, es soll schneller gehen, schneller, er kann es kaum erwarten, endlich zu rennen. Und dann hebt ihn ohne Warnung die Mutter hoch, er hat keine Bodenhaftung, er fliegt kurz, landet dann mit hartem Schlag auf den kurzen Beinchen, schlingert, sucht sein Gleichgewicht, stößt gegen ein Regal, heraus fallen einige große Pakete. Basti staunt. Solche großen Pakete mit vielen lustigen Bildchen darauf hat er noch nicht gesehen. Er tritt gegen eine Packung, diese fliegt ein Stück weiter. Sein Fuß, sein Bein haben es geschafft, dass sich dieses bunte Paket fortbewegt, wie großartig. Diesmal nimmt er ein kleines bisschen Anlauf und tritt fester. Die Packung schiebt sich etwas schneller, etwas weiter durch den Gang. Wie fein. Er geht einige Schritte zurück und versucht einen neuen Anlauf, will er doch das Paket einmal den ganzen Gang entlang schießen, bis dort hinten hin, wo die leckeren kleinen Sachen liegen, die er sich am liebsten mit beiden Händen in den Mund stecken möchte. Doch ganz unvermittelt fehlt ihm schon wieder der Boden unter den Füßen. Vor seinem Gesicht taucht das Gesicht seiner Mutter auf. Und er erschrickt.
Die Mutter schaut in das Gesicht ihres Sohnes. Sie zischt ihn an, dass sie ihn für den Rest seines Lebens im Kinderwagen festschnallen wird, wenn er sich nicht endlich beim Einkaufen benehmen würde. Ihre Stirn liegt in Falten, die Haut ist gerötet und sie spürt ein Pochen im Kopf, es kündigt sich ein heftiger Schmerz an, lange wird es nicht mehr dauern, bis er mit voller Wucht ausbricht. Und das alles nur, weil dieser kleine Satansbraten nicht wie andere Kinder still und brav an ihrer Hand gehen kann. Sie packt ihn und zieht ihn wie einen kleinen Mehlsack hinter sich her. Er windet sich und wehrt sich und sie bemüht sich nach Leibeskräften, ihn festzuhalten, ihn nicht mitten im Geschäft zu versohlen, nicht zusammenzubrechen und ein heulendes Häufchen Elend zu werden.
Basti findet es nicht schön, dass seine Mutter versucht, seinen Arm durch ziehen zu verlängern. Wobei er durch Nachdenken zu der Überzeugung kommt, sie meint es nur gut. Denn wenn sein Arm länger ist als bisher, kann er Steine von der Straße aufheben, ohne mit dem Kinderwagen kämpfen zu müssen. Es tut ein bisschen weh, was sie da tut, aber es ist zu seinem Vorteil. Er wartet noch ein kurzes Weilchen, dann merkt er, dass der Zug leichter wird. Mit einem kleinen Ausfallschritt nach rechts hat er sich befreit und läuft frohgemut endlich die langen Gänge entlang. Darauf hat er sich die ganze Zeit gefreut, genau das wollte er tun. Die Freiheit genießen, spüren, wie ihm der Gegenwind über das Gesicht streicht. Mit den Fingerspitzen berührt er im Vorbeilaufen die Kanten der Regale, benutzt sie als Wegweiser, bleibt hin und wieder an etwas hängen und zieht es mit sich.
Die Mutter schaut hinter ihrem Kind her, das eine Spur der Verwüstung durch das Geschäft zieht. Sie spurtet hinter Basti her, greift ihn wutentbrannt und brüllt ihn an: “Eh, ich knall dich gleich ab, du Teufel!”
Basti betrachtet seine Mutter. Was hat das zu bedeuten? Ihre Augen wirken so seltsam. Es sieht fast aus, als läge ein flammender Ring um ihre Pupille. Und Basti ist sich sicher, dass sie auch gar nicht mehr riecht, wie sie sonst immer riecht. Dieser Geruch nach Seife und Schweiß, vermischt mit etwas Milch und Brötchen wird gestört von etwas, das er bisher nie bemerkt hat. Nachdenklich, und ganz ohne den Drang, sich zu bewegen, beobachtet er sie noch eine kleine Weile. Die Haut auf ihrer Stirn scheint sich rechts und links knapp über den Augenbrauen zu verdicken. Basti mag die Mutter nicht mehr. Sie riecht nicht mehr wie seine Mutter, sie sieht nicht mehr aus wie seine Mutter, er fühlt sich allein und verloren. Und weil er nicht weiß, wo seine Mutter geblieben ist und wie er sie zurückbekommt, fängt er an, ganz jämmerlich zu weinen. Er schluchzt und seine Nase läuft.
Dieses erstarrte Kind in ihren Händen, sie will es nicht mehr haben. Sie will es endlich loswerden. Wohin mit dieser Teufelsbrut? Ihr Atem geht schnell, ihr Herz schlägt wild und sie spürt die Kante, sie spürt den Abgrund. Noch einen Schritt weiter und sie wird mit Basti in die Hölle stürzen. Gemeinsam werden sie versinken im Chaos, sie fühlt die Gewalt, die sich unerbittlich in ihrem Inneren einen Weg bahnt, den Hass, unbändig.
Dann dringt sein Weinen in ihr Ohr. Ihr Blick klärt sich. Sie sieht ihren Sohn, der sich fürchtet. Der sich vor ihr fürchtet. Sie steht da, mitten in einem Supermarkt, stellte sich vor wenigen Sekunden noch vor, wie sie das Kind in ihren Händen zerstört, und die Angst greift nach ihrem Herzen.