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Ein echtes Hummerleben
Mein Name ist Louis. Ich bin Hummer.
Das soll hier keine gänzlich misslungene Schlusspointe sein, bei der alle nur die Nase rümpfen und sich fragen: Fällt dem denn nichts besseres ein?
Ich bin Hummer und erzähle euch von meinem tragikomischen Leben, sobald diese komische Einleitung zu Ende ist, mit der so oder so keiner was anfangen kann.
Ich bin nämlich kein gewöhnlicher Hummer.
Nicht nur, dass ich in der Lage bin, euch diese Informationen telepathisch über einen ahnungs- und nutzlosen Schreiberling zukommen zu lassen. Nein. Ich bin eines der Geschöpfe, das in einem Billiglokal in einem Aquarium festsitzt. Naja festsitzt ist wohl der falsche Ausdruck. Festschwimmt wäre, so glaube ich, angebrachter.
Aber ich bin ja nicht alleine. Da wären noch Pete, Jack, Cosmo, Ian mit betontem I weils cooler klingt, und Jesse. Alles Männer. Muskelbepackte Delikatessen.
Ich weiß auch, dass Jesse an sich eher ein Mädchenname ist, aber er ist importiert. Er spricht nicht gerne drüber.
Ian macht mich gerade darauf aufmerksam, dass Jesse ein trockenes Plätzchen auf einem Teller gefunden hat. Noch während ich euch von ihm erzählte, hat ihn ein dicker glatzköpfiger Mann mit einem seiner wulstigen Finger auf ihn gezeigt, worauf ein hageres Männlein ihn herausfischte und sein Schicksal besiegelte.
Ian war schon lange vor mir hier.Ich persönlich bin durch die viele Werbung auf die Idee gekommen hierherzugehen.
Es wurde mit einer neuen Welt geworben, die wir als Pioniere erforschen dürften, aber das war alles gelogen. Ich werde nie wieder auf diese komischen Vertreter mit ihren kleinen Zettelchen hören.
Zugegeben, mein Appartement war nicht gerade das Schönste, geschweige denn das Sauberste, aber einen Vorteil hatte es.
Die Freiheit.
Dieses Aquarium ist natürlich hervorragend temperiert, das muss ich zugeben, andererseits zerreißt die Willkür des Menschen eine Freundschaft nach der anderen, wenn sie meinen, das Recht zu haben, Jesse per Fingerzeig aus seinem und unserem Leben zu reißen.
Jetzt fragt ihr euch warum Ian und ich schon so lange dieses Leben hier führen, ohne das ein Finger auf uns zeigt.
Der reinste Kaniballismus treibt uns dazu, den anderen zu erzählen, dass sie, je fetter und größer sie werden, immer mehr verabscheut werden. Natürlich ist das eine Lüge, aber was sollen wir denn machen?
Den Damoklesfinger auf uns herniederfahren lassen?
Ursprünglich hatte Ian diese Tour auch bei mir versucht, er war ein alter Hase in diesem Gebiet, als ich aber diesen Betrug aufdeckte und ihm klar wurde, dass er mit mir kooperieren müsse, schlossen wir Freundschaft. Das ist jetzt schon viele, viele dicke glatzköpfige Männer her.
Und jetzt...
... ist Jesse tot.
Auch wenn es zu einem Großteil unsere Schuld und die des glatzköpfigen, dicken Mannes ist, tut er mir doch verdammt leid. Dieses Leben im klaren Wasser schweißt mehr zusammen als man glaubt, auch wenn letztendlich der Überlebenskampf über die Kameradschaft obsiegt.
Doch ist es die unhummersche Kraft der Menschen, die uns in Sekunden den Lebenssaft entzieht und uns tot auf einem weißen Teller serviert. So ist das nicht im Prospekt gestanden, was im Nachhinein aber ziemlich egal ist, da Ian und ich die Führer unserer Genossenschaft, der zum Tode verurteilten sind und daher erstmal vor dem Finger in Sicherheit sind.
Doch heute ist Schicht. Auch für uns, die Führer. Es geht das Gerücht um, dass die komischen Gestänge, die das Aquarium seit heute verzieren, unser Ende bedeuten.
In einem Wort: Ausverkauf.
Ausverkauf. Ein Unwort. Normalerweise traut sich kein Hummer dieses Wort in den Mund zu nehmen. Es bedeutet den Tod für das ganze Becken. Verdammt. Aber warum sollen diese grünen Gestänge auf der anderen Seite des Glases unseren Tod bedeuten? Das glaube ich nicht. Auch wenn Ian behauptet der einzig überlebende eines solchen Massakers zu sein, will ich es ihm nicht glauben. Es kann doch genausogut pure Dekoration sein.
Was Unwissenheit doch für ein Schutz vor der Angst ist. Pete, Jack und Cosmo ahnen von nichts und erfreuen sich an einer Partie Fangen. Diese Idioten, so werden sie noch ganz dünn und unansehlich. Aber das ist doch im Grunde sowieso egal. Heute ist Ausverkauf.
Seit das Gestänge an unserem Becken hängt, ist Ian nicht mehr zu gebrauchen, ich vermute er hat Angst vor dem Tod. Angst davor auf einem Teller zu landen und von Messer und Gabel zerrissen zu werden.
Doch auf einmal zeigt ein kleines Menschenkind mit seinen zarten zerbrechlichen Fingern auf mich. Ich? Jetzt? NEIN! Das darf nicht wahr sein. Ein so kleines Wesen hat die Macht mein Leben zu zerstören, indem es mit dem Finger auf mich zeigt?
Hätten die anderen nur nicht Fangen gespielt, dann wäre Pete oder Cosmo jetzt an meiner Stelle.
Das Kind geht weg und das Netz taucht in unser Aquarium. Doch noch während es seine Todbringende Öffnung in meine Richtung bewegt, stellt sich Ian vor mich. Warum tut er das? Will er mir das Leben retten?
"Du hast als einziger das Zeug den Ausverkauf zu überstehen. Ich werde so oder so bald sterben."
"Nein das brauchst du nicht zu tun!"
"Ich will aber, du warst schon, seit du in dieses Aquarium gekommen bist, wie ein Sohn für mich und ich könnte es nicht ertragen..."
Bevor er seinen Satz zu Ende bringen kann, hat das Netz ihn auch schon und...
...setzte ihn wieder ab, um mich zu fangen. Versuchte es zumindest. Er hatte sich mit seinen Zangen im Netz festgekrallt. Mit aller Kraft schüttelte es ihn durch das Aquarium und stieß ihn immer wieder gegen die glasigen Enden. Lange würde er das nicht durchhalten, dafür war er einfach zu alt.
War Ian deswegenso schlecht drauf? Hatte er gewusst, dass er heute sein Leben für mich opfern würde?
Plötzlich erschlaffen seine Züge und seine Zangen lösen sich aus dem Netz. Regungslos sinkt er langsam zu Boden.
Es hatte alles nichts gebracht, das Netz will mich, sonst niemanden. Ich werde mich dem Schicksal stellen und mich von ihm fangen lassen. Ian in der Ecke liegend, betrachtend werde ich aus dem Wasser gezogen. Ich winke den andern noch zum Abschied, bevor es mich an die Oberfläche bringt. Meine ohnehin schlechten Augen versagen gänzlich ihren Dienst und ich höre nur noch eine Stimme sagen:
Schon komisch, dass ausgerechnet am Tag der Liebe so viele Hummer sterben müssen, nicht wahr?
PLATSCH.
Hitze. Überall heißes und kochendes Wasser.
Warum nur Tag der Liebe?