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Ein Dorf in den Bergen
Das Dorf, das hoch oben in den Bergen lag, war so gut wie abgeschottet von der Außenwelt und kaum zugänglich für die meisten lebenden Menschen. Die Bewohner des Ortes lebten in Genügsamkeit und in einem stillen Frieden, der anscheinend niemals gestört werden konnte, außer natürlich damals, als das Gerücht aufkam, dieses Dorf hier würde als Unterschlupf dienen für einen steckbrieflich gesuchten Mafioso aus der größten Metropole des Landes. Was natürlich völliger Unsinn war.
Der Friedhof des Ortes lag seinerseits noch ein wenig abseits von der Siedlung, erhöht, nur zu erreichen auf einem schmalen Pfad. Hier standen etliche Grabsteine, die offensichtlich von Familien stammten, die schon im Leben nicht viel besaßen, geschweige denn im Tode. Es war eine raue Atmosphäre hier, die geprägt war von dem Klima, das hier herrschte. Der Tag war diesig und eine Wetterbesserung war nicht in Sicht. Auf längere Zeit nicht.
Zwischen all dem Dunst wandelte ein Gentleman durch die Reihen verwitterter Grabsteine. Er schlenderte hierhin, bald dorthin, schaute sich diesen Stein etwas genauer an, wieder andere ließ er unbeachtet links liegen. Dann und wann blieb er stehen und blickte sich suchend um. Ganz offensichtlich war ihm daran gelegen, einen bestimmten Namen zu finden, vor einem Grabstein blieb er besonders lange stehen und betrachtete ihn ausgiebig. Er zog umständlich einen Zettel aus seiner Manteltasche hervor, las sich etwas durch und schüttelte den Kopf. Er war auf der Suche.
Doch allzu lange benötigte er nicht, den Friedhof zu durchkämmen, es war nur ein kleines Stückchen Gottesland.
Die dunstige Dämmerung hatte eben eingesetzt, als der elegante Fremde den Friedhof verließ, diesmal nicht in gemächlichem, sondern in strammem, eilendem Schritt.
Durch das schmiedeeiserne Tor des Gottesackers, den engen steinigen Pfad hinab in das Dorf, die Häuser an die Felsen gepresst und karg im Anblick, die ausgetretene Straße entlang bis schließlich zu der einzigen Kneipe des Ortes, halb verfallen und wenig einladend.
Der Fremde betrat das Wirtshaus und in dem kleinen verräucherten Schankraum herrschte schlagartig Stille; wo eben noch bierselige Reden geschwungen wurden. Es herrschte eisiges Abwarten, wo ausgelassenes Treiben gewesen war. Doch als der Mann, sich wenig darum kümmernd, ein Bier bestellte und dies gleich bezahlte, lockerte sich die Atmosphäre allmählich wieder auf und die Aufmerksamkeit streute sich wieder. Der Fremde suchte sich einen freien der zerkratzten Tische und trank sein Ale.
Er schaute sich interessiert um und verfolgte die Gespräche an den Nachbartischen. Und als er eine gewisse Zeit höflich abgewartet hatte, beteiligte er sich daran.
Natürlich hatten die Dorfbewohner von dem Besuch des eleganten Mannes auf dem Friedhof erfahren- alle! Sofort! In dem Moment, in dem es geschah, war es schon bekannt. Niemand konnte sich erklären, was er an einem solchen Ort ausgerechnet auf dem Friedhof suchte.
Doch der Fremde sorgte selbst für Aufklärung.
„Heh“, rief er plötzlich, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. „Hallo! Könnten Sie mir alle bitte einen Moment ihr Ohr leihen?“ Und als dann tatsächlich Totenstille eingetreten war: „Danke.“
Er räusperte sich geheimnisvoll, sah einmal rundherum in die Runde und sagte dann: „Ich suche einen gewissen Jonas Wittler.“
Weiterhin Stille. Alles starrte auf den Fremden. Erwartungsvolle Spannung an allen Tischen, die Augen und die Münder weit offen.
„Ich bin auf der Suche nach Jonas Wittler“, wiederholte er. „Vielleicht können Sie mir dabei helfen?“
Sie sahen ihn noch immer schweigend an.
Einer, ein massiger Mann mit rotem Gesicht, unterbrach die Stille mit einem Wort: „Warum?“
„Ach so, ja. Natürlich. Wissen Sie, meine Suche dauert schon ziemlich lange. Ich forsche schon seit über einem Jahr. Darf ich mich erst einmal vorstellen?“ Er nannte einen Namen, während er sein Jackett auszog und die Krawatte lockerte, so dass er nunmehr hemdsärmelig vor den Dorfbewohnern saß und kaum von ihnen zu unterscheiden war.
„Ich bin Anwalt“, fuhr er fort. „Und als solcher bin ich Testamentsvollstrecker von Lady Herta Fortesgale. Die alte Dame ist im Frühjahr letzten Jahres gestorben und hat den gewissen Jonas Wittler als Alleinerben eingesetzt. Wie ich weiß, ist er kein unmittelbarer Verwandter von ihr, vielmehr hat er der Dame vor längerer Zeit in einer unangenehmen Situation zur Seite gestanden. Um was es im Einzelnen ging, darüber habe ich keine Informationen. Für mich ist nur wichtig, betreffenden Herrn zu finden und ihm die notwendigen Papiere zu übergeben.“
„Wie kommen Sie darauf, dass so einer gerade hier in dieser gottverlassenen Gegend wohnen soll?“ fragte ein junger Mann mit frechem Blick.
„Wie gesagt“, erwiderte der Fremde, „ich bin seit über einem Jahr unterwegs und hatte lange Zeit, mir Gedanken zu machen. Alle Indizien und Fakten deuten auf dieses Dorf, und ich bin mir fast sicher, dass ich Recht habe.“
Es war offensichtlich, dass man ihm keinen Glauben schenkte. Es kam nun einmal nicht alle Tage vor, dass ein Fremder in ein solch armes Dorf wie dieses hier kam, und Geld zu verschenken hatte. Ungläubig blickten ihn die Einheimischen an.
„Das ist doch bestimmt teuer, so eine lange Suche, was?“ Der das sagte, war ein kleiner älter Mann, der ganz hinten in einer Ecke saß und kaum zu sehen war.
„Die Erbschaft, von der ich redete ist in ihrer Größe nicht unerheblich.“ Das war Musik in den Ohren der Dörfler. „Es sind sogar Ländereien dabei.“
„Nein“, sagte der mit dem frechen Blick mit fester Stimme. „Bei uns im Dorf lebt kein Mensch dieses Namens. Sie müssen sich irren, Mister. Ich denke, Sie sind vollkommen umsonst hierher gekommen.“
Damit herrschte wieder eine gespannte Stille. Man lauerte, was der Elegante erwidern würde.
„Ich muss sagen, es ist sehr viel Geld“, gab er zu bedenken. „Die Erbschaft ist wirklich nicht übel.“
„Wie viel ist es denn?“
„Das darf ich nicht sagen. Der Mann, Jonas Wittler ist bekannt unter einem Spitznamen, vielleicht hilft der ja weiter. Der Mann wird auch Jittler genannt. Fragen Sie mich nicht, warum“, der Mann lachte, „aber das ist sein Spitzname.“
„Jittler?“ Das war der mit dem roten Gesicht und dem massigen Körper. Er sah sich triumphierend und beifallheischend zu seinen Kumpanen um, als er sagte: „Das ist Jitty, Jungs. Das muss Jitty sein.“ Und zu dem Fremden gewandt: „Er wohnt ganz am Ende des Dorfes, in dem kleinen, schmucken roten Häuschen, gar nicht zu verfehlen.“
In demselben Moment, in dem er den Satz ausgesprochen hatte, wusste er, er hatte einen Fehler gemacht.
Der Fremde stand auf und ging grußlos hinaus. Sein Bier hatte er ja schon bezahlt.
Als die Dorfbewohner wagten, bei Jittys Haus vorbeizuschauen, war es zu spät. Der Mann lag auf dem Boden seiner Küche in einer fetten Blutlache mit einem kleinen Loch im Schädel. Er war professionell hingerichtet worden.
Im Laufe der Ermittlungen kam heraus, dass Jitty ein Vorleben als Mafioso in der großen Stadt gehabt hatte. Er war die Nummer zwei gewesen im Ort, es hieß, er wäre seinem Boss treu ergeben gewesen. Bis auf den Tag, an dem er den Führer verpfiff und mit ihm die ganze verkommene Bande. Er war einfach so zur Polizei gelaufen und hatte gesungen. Offensichtlich war er dieses Verbrecherleben leid gewesen. Er hatte dann mit Hilfe des Zeugenschutzprogramms eine neue Identität bekommen und war hier in diesem kleinen Örtchen untergetaucht, nicht gerade wohlhabend, aber rechtschaffend; weit ab vom Schuss und, so hatte er zumindest geglaubt, nicht aufzufinden für rachsüchtige Kollegen.
Natürlich drang von diesen Fakten nichts an die Öffentlichkeit. Auch nicht von der Tatsache, dass Schwerverbrecher, die in diesem Lande eine Strafe im Vollzug absitzen, immer noch in der Lage sind, mit der Außenwelt soweit in Kontakt zu treten, dass sie einen Mord in Auftrag geben können.