- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Ein Dorf im Dorf
Ein wunderschöner Tag, ein Tag an dem man die Natur am besten bei einem Spaziergang genießt. Die Wiesen um mich herum haben ein noch nie gesehenes Grün, ihre Blumen und Kräuter scheinen mich alle anzulächeln, sie riechen so stark als hätte ich meine Nase in sie gesteckt. Auch die Vögel singen nicht wie gewohnt, sie zwitschern als ginge es um einen Wettbewerb. Alle Vogelarten der Gegend geben ihr Bestes, jede versucht die andere zu übertönen. Ich kann aus ihrem Singen keine einzige Vogelart heraushören. Es hört sich nicht lauter an als sonst, nur durcheinander, völlig durcheinander.
Vor ungefähr einer halben Stunde schaute ich zu Hause durchs Dachfenster, der arizonablaue Himmel, er lockte mich ins Freie. Jetzt stehe ich hier, hier wo ich schon so oft gestanden habe, dennoch, es ist alles so neu, so unbekannt. Ich schaue zurück zum Dorf, dort, ungefähr einen Kilometer von mir entfernt ist es. Es ist mir so fremd wie der Duft der Wiesen und das Verhalten der Vögel. Warum ist alles so anders? Während ich mir diese Frage stelle übersehe ich eine Unebenheit auf dem Feldweg, ich knicke um, falle auf mein Knie, der Schmerz verdrängt meine Frage. Verdammt, nicht nur, dass es weh tut, es blutet auch und verschmutzt mir meine Hose. Ich beschließe in die Dorfapotheke zu gehen, ein Pflaster muss auf die Wunde. Mein Bein ein wenig nachziehend mache ich mich auf den Weg.
Warum erkenne ich mein Dorf nicht, ich bin doch nur zu Fuß unterwegs, ich will raus aus dieser Situation, meine gewohnte Umgebung, ich kann sie nicht finden.
Noch hundert Meter, eines der ersten Häuser die ich sehen kann ist tatsächlich eine Apotheke. Ohne weiter über meine seltsame, mir nicht begreifliche Lage nachzudenken, gehe ich direkt auf sie zu. Meine Wunde am Knie will nicht aufhören zu bluten.
Vor der Apotheke zögere ich noch einen Augenblick, ein bedrohliches Gefühl durchströmt mich. Aber, »was soll´s«, sage ich zu mir, »wenn ich mir helfen will, muss ich rein.«
Beherzt öffne ich die Eingangstür, über ihr hängt eine Glocke, sie läutet beim Öffnen und Schließen. Ihr Läuten ist ein altes vertrautes Geräusch von früher, als es weder Computer noch Handys gab.
Eine Apothekerin steht hinter der Theke, zwei Kunden, eine Frau und ein Mann stehen davor. Als sie das Geläut vernehmen drehen sie sich zu mir um und begrüßen mich mit einem freundlichen
»Guten Morgen, der Herr.«
Sie geben mir nicht die Zeit zurückzugrüßen, mir ist es egal, mein Knie ist mir im Moment viel wichtiger. Sie schauen alle drei auf meine blutverschmierte Hose. Die Apothekerin ruft mit übertriebener Sorge in ihrer Stimme:
»Um Himmels Willen, was ist Ihnen den zugestoßen? Ihre Hose ist ja voller Blut.«
Ich will es erklären, will sagen was mir geschehen ist, aber ich komme nicht zu Wort. Die Apothekerin und die zwei Kunden diskutieren wie sie mir am besten helfen könnten.
»Die Wunde säubern, die Wunde säubern, das ist das Erste was getan werden muss«, sagt die Frau.
»Genau!«, stimmen der andere Kunde und die Apothekerin zu.
Ich blicke die Apothekerin an und sage: »Ein Päckchen Heftpflaster wird mir reichen, ich werde mit dem kleinen Kratzer dann schon alleine fertig.«
Sie schaut mich ebenfalls an, doch ihre Augen zeigen kein Interesse an meiner Bitte.
»Setzen sie sich dort drüben auf den Stuhl, ich werde ihre Wunde erst einmal desinfizieren.«
Sie schaut mich dabei überaus freundlich an, die beiden anderen Kunden nicken dazu genauso überfreundlich. Ihre Augen leuchten, so unnatürlich wie die Wiesen rochen und die Vögel zwitscherten.
»Ok, ok«, sage ich etwas genervt und orientiere mich nach dem Stuhl. Er steht vor dem Schaufenster, mit drei vier Schritten bin ich bei ihm, greife nach der Lehne, setze mich auf den Stuhl und komme mir vor wie eine Schaufensterpuppe. Ich drehe mich zur Straße, zum Glück ist weit und breit niemand zu sehen. Etwas beruhigt wende ich mich wieder der Apothekerin zu um ihr noch einmal zu sagen, dass ich mit einem Pflaster wirklich gut zurecht käme und dass sie sich nicht so viel Mühe machen solle. Sie steht aber nicht mehr hinter der Theke, die beiden Kunden lächeln immer noch so unnatürlich übertrieben freundlich und sagen fast synchron:
»Sie ist nur kurz hinten ins Lager gegangen, sie holt ein Desinfektionsmittel, glauben Sie uns, es ist besser die Wunde erst zu desinfizieren bevor ein Pflaster darauf kommt.«
Dem ist nicht zu widersprechen, ich vermeide zu wiederholen, dass sie sich nicht so viel Mühe machen solle. »Ok«, sage ich wieder und wende mich erneut der Straße zu. Mir bleibt vor Schreck mein Herz fast stehen. Da haben sich mindestens zehn Personen vor dem Schaufenster versammelt, sie starren mich an, es sieht aus, als würden sie einen spannenden Krimi verfolgen. Ihre Gesichter wirken so wie die der Kunden und der Apothekerin, unnatürlich, übertrieben freundlich, ihre Augen scheinen zu glühen. Meine Verletzung ist mir mittlerweile unwichtig, aber die Gedanken wollen nicht aufhören: Warum kenne ich niemanden? Ich bin doch in meinem Dorf, ich bin doch höchstens eine halbe Stunde zu Fuß unterwegs gewesen, verflucht, was geht hier vor. Ich will aufstehen, bemerkte aber nicht, dass sich die zwei Kunden zu mir rüber gesellten und mich nun sanft bestimmend mit ihrem übertriebenen, freundlichen Lächeln zurück auf die Sitzfläche drücken. Ihre Hände, sie sehen aus wie die von Toten, kein Blut scheint in ihren Adern zu fließen, die Frau hat ihre Fingernägel rot lackiert, die des Mannes sind voller Erde, bestimmt herrscht unter ihnen ein reges Leben.
»Es ist besser wenn sie sitzen bleiben, die Wunde braucht Ruhe«, meint der Erdfingernagelmann. Herrgott, dieses entsetzlich freundliche Getue, ich will nur noch raus, raus aus diesem, für mich nicht mehr wie eine Apotheke wirkenden Raum. Ich traue mich nicht, in mir kommt Angst auf, Angst davor, dass sich dieses freundliche Getue in Bösartigkeit verwandeln könnte. Wann kommt sie denn endlich? Schnell die Wunde verarzten, und dann aber nichts wie raus, nur raus hier, weg von hier, so ist mein Plan.
Endlich! Sie kommt...
»So, jetzt geht’s ganz schnell, den kleinen Kratzer werden sie morgen gar nicht mehr bemerken.«
Mit schnellen Schritten geht sie auf mich zu, doch noch bevor sie bei mir Hand anlegen kann, spricht sie die Kundin an:
»Oh, Elli, könntest du mich vorher noch schnell abkassieren, ich habe ja vor lauter Hilfsbereitschaft vergessen, dass drei hungrige Mäuler zu Hause auf mich warten.«
Mit der gewohnten widerlichen Freundlichkeit schaut sie mich an und fragt, ob ich etwas dagegen hätte.
»Nein«, sage ich, »sie waren ja schließlich vor mir hier.«
»Ganz recht«, antwortet sie, zwar immer noch freundlich und doch, dieses gruslige Lächeln, das zu sagen scheint:
»Du bist allein, wir haben dich.«
Die Apothekerin legt das Desinfektionsmittel und Pflaster auf den Tisch der neben meinem Stuhl steht. Sie geht mit der Kundin zur Kasse und sagt ihr den Preis. Es sind genau zwei Euro, die Kundin legt einen Hunderter hin.
»Oh nein«, sagt Elli, »ich kann dir nicht rausgeben, so viel Geld habe ich um diese Zeit noch nicht in der Kasse. Mein Herr! Können sie vielleicht den Hunderter wechseln?«
»Nein, so viel habe ich nicht dabei, tut mir leid!«
Darauf sagt sie zur Kundin:
»Geholfen will er bekommen, helfen kann er nicht, das sind mir die Richtigen und immer dieses verkackte freundliche Grinsen im Gesicht.«
Wie verrückt ist das denn, denke ich mir, jetzt drehen sie den Spieß um und werfen mir vor, so zu wirken wie sie sich benehmen. Die Angst, Panik, was auch immer, treibt mich dazu zu sagen: »Schon gut, ich schenke ihnen die zwei Euro, das ist doch das Mindeste was ich für Ihre Hilfsbereitschaft tun kann.«
Ich krame zwei Euro aus meinem Geldbeutel, habe das Geld noch nicht richtig zwischen meinem Zeigefinger und Daumen, da hat sie die Münze schon an sich genommen. Lachend sagt sie zur Apothekerin:
»Hier Elli, deine zwei Euro, stimmt so!«
In der nächsten Sekunde ist sie am Ausgang und verlässt den Raum ohne auch nur »Auf Wiedersehen« zu sagen.
Draußen stellt sie sich zu den Schaufenster-Schaulustigen, zeigt ihren Zeigefinger an die Stirn, dreht sich zu mir um und lächelt mich durch die Scheibe an. Die Gaffer halten sich vor Lachen ihre Bäuche, schütteln den Kopf und blicken drein wie Zombies. Mir läuft der kalte Schweiß den Rücken herunter, sie sehen plötzlich alle so aus als würden sie mich, sobald ich den Laden verlasse, lynchen wollen. Erdrückt von meiner Hilflosigkeit bin ich nicht mehr in der Lage, diesen Kreaturen in die Augen zu sehen. Wie ein verängstigter Schuljunge, der auf seine Strafe wartet, sitze ich da.
Die Apothekerin fragt den noch im Landen befindlichen Kunden ob er auch erst abgefertigt werden wolle, oder ob er dem Notfall auf dem Stuhl Vorrang geben könne?
»Ich habe es eigentlich auch eilig«, meint er, »doch mir geht es genauso wie Lisa, ich habe auch nur einen Hunderter.«
Wortlos öffne ich meinen Geldbeutel und frage dann nach, wie viel er zu zahlen hat. Er richtet kurz einen Blick auf mich und fragt dann Elli,
»Elli, was kostet es bei mir?«
»Bei dir macht es drei Euro, Eugen.«
Gebückt geht er auf mich zu, greift sich das Geld, gibt es Elli und sagt wie Lisa: »Stimmt so« und verschwindet ohne ein Wort. Draußen macht er es auch wie Lisa, hebt seinen Zeigefinger, tippt sich an die Stirn, die Schaufenster-Schaulustigen schütteln wieder den Kopf, und schauen mich mit diesem Lynchgrinsen an.
Mit, »reiß dich zusammen Junge«, versuche ich mich zu beruhigen, jetzt bin ich mit der Apothekerin alleine im Laden, jetzt dürfte meiner Abfertigung eigentlich nichts mehr im Wege stehen.
»Was kosten die zwei Artikel?«, frage ich sie.
»Lassen Sie ihr Geld stecken, wegen so einer Lappalie müssen Sie kein Geld ausgeben, ich werde sie verarzten und die Sache ist damit erledigt.«
Diese geheuchelte Freundlichkeit im Gesicht, ich will von ihr nicht verarztet werden, alle meine Sinne sagen: Nein, flüchten, du musst flüchten, raus aus dem Laden und rennen so schnell du kannst, doch wohin rennen, dorthin, von wo ich hergekommen bin? Ich habe das Gefühl, am anderen Ende der Welt zu sein, weit, weit weg von jeder Sicherheit. Wie durch einen Nebel höre ich ihre Aufforderung mir mein Hosenbein hochzukrempeln, ich ignorierte sie.
»Nun machen Sie schon, oder soll ich es bis zur Wunde aufschneiden?«
Sie hat tatsächlich eine Schere in in der Hand und schnippt sie vor meinem Gesicht auf und zu. Mit zittrigen Händen kremple ich mein Hosenbein hoch.
Die Tür geht auf, einer der Schaufenster-Schaulustigen kommt herein.
»Hallo Elli, ich habe gehört, wenn man nur einen Hunderter in der Tasche hat, bezahlt der Vogel da auf dem Stuhl die Rechnung.«
Sie schauen sich an, fangen an zu lachen, Elli sagt:
»Ja, so sieht es aus, was brauchst du denn?«
Jede Hoffnung auf Hilfe ist nun endgültig gestorben. Hier wird dir nicht geholfen, hier musst du raus...sofort, schreit es in mir. Wie ein Hundertmeterläufer nach dem Startschuss schieße ich hoch, renne zur Ausgangstür, reiße sie auf und renne mit Glockengebimmel im Ohr, wie vom Teufel verfolgt, in die Richtung aus der ich gekommen war. Ich renne ohne mich umzudrehen, ihren Atem in meinem Nacken spürend.
Bestimmt schon einen Kilometer vom Ort entfernt komme ich an einer Bank an, völlig erschöpft lasse ich mich auf ihr nieder, ich bin so kaputt, habe keinen Willen mehr, sollen sie mich doch lynchen, ich kann nicht mehr, soll es meinetwegen hier enden. Keuchend und schweißtriefend sitze ich auf der Bank, auch noch nach einer gefühlten Unendlichkeit bin ich außer Atem. Ich starre ins Leere, kann nicht mehr denken, nur noch atmen, wie ein gehetztes Tier.
Endlich beruhigt sich mein Puls, um mich herum ist es still, kein Vogel ist zu hören, keine Natur ist zu riechen, doch wenigstens ist niemand von den für mich Außerirdischen in der Nähe. Was habe ich da erlebt? Ein wunderschöner Tag, doch die vertraute Umwelt war einfach weg, keinem Menschen könnte ich diesen Horror verständlich machen. Sie waren ja alle sehr freundlich, überfreundlich und doch brutal feindselig, so was nimmt mir niemand ab, ich muss damit allein zurecht kommen. Wie nach einem Rausch kann ich mich nicht mehr so richtig an Einzelheiten erinnern. Das Dorf! Wo ist das Dorf? Weit und breit nur endlose Wiesen. Mein Knie, mein Knie ist aufgeschlagen, ich muss mich zusammenreißen, bevor mich der Wahnsinn verschlingt.
Der arizonablaue Himmel, er lockte mich ins Freie, das war nicht die ganze Wahrheit.
Die Stunde bevor ich durchs Dachfenster schaute, war eigentlich entscheidend, weshalb ich das Haus verließ:
Meine Freundin hatte, fröhlich vor sich hin-singend, ein Frühstück vorbereitet, ich war freudig überrascht, denn ein Morgenmuffel ist gegen sie ein zuvorkommender Mensch. Als wäre es jeden Morgen so, gab sie mir einen Kuss auf die Wange, lächelte mich an und schob mir den Stuhl unter mein Gesäß. Sie nahm die Kaffeekanne, goss meine und ihre Tasse voll und setzte sich mir gegenüber. Sie hörte nicht auf mich anzulächeln, auch nicht, als sie sich ein Brötchen mit Butter und Erdbeermarmelade schmierte.
Mit: »Las es dir schmecken«, reichte sie mir das Erdbeermarmelade-Brötchen über den Tisch.
»Das ist aber nett von Dir, wäre aber nicht nötig gewesen«, sagte ich fast verlegen.
»Du weist doch, ich mag keine Erdbeermarmelade, ich habe das Brötchen nur für dich bestrichen.«
Wie freundlich und gut gelaunt sie doch war, nie hatte ich sie in unserer zweijährigen Beziehung, morgens, so erlebt.
Ich aß das Brötchen und fühlte mich mit jedem Bissen besser. Mit einem Schluck Kaffee spülte ich die letzten Reste des Brötchens hinunter und war der glücklichste Mensch der Welt.
»Bis du glücklich?«, fragte sie.
»Ja, ich bin glücklich«, das sagte ich nicht, ich sang es, wie ein Tenor, aus voller Brust.
»Gib im das, dann ist ihm alles scheiß egal, er ist dann nur noch glücklich, er sieht zwar die Welt nicht mehr real, doch das dauert nicht lange an, hat mein Freund gesagt.«
»Wie, was, dein Freund, ha, ha, ha, ich bin doch dein Freund und was hast du mir gegeben?, ha, ha, ha.«
»Mein Freund hat mir den Namen gesagt, ich habe ihn vergessen, irgend ein "Glücklichmacher-Zeug", keine Angst, es soll nicht gefährlich sein, ich habe es unter die Marmelade gerührt. Ich werde dich noch heute verlassen, so kommst du am besten darüber hinweg und ich habe keinen Stress beim Umzug.«
»Du verlässt mich, ha, ha, ha, du willst mich wirklich verlassen?, ha, ha, ha.«
»Ja, noch Heute.«
Schade, jetzt wo sie so freundlich ist, will sie mich verlassen,
»ha, ha, ha.«
Ich stand auf, ging zum Dachfenster und schaute hinaus.