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Ein Date mit dem Figurentheater
Ich bin viel zu spät dran und hetze zum Treffpunkt. Warum musste ich auch den neuen Rock anziehen, der eine Handbreit über dem Knöchel endet? Das hat natürlich eine Diskussion ausgelöst:
"Da musst du dich rasieren!", hat die prüde Jungfrau bestimmt. "So kannst du nicht aus dem Haus."
"Das seh ich gar nicht ein!" Natürlich ließ die Rebellin sich das nicht bieten. "Beine rasieren, nur weil frau das tut? Ich bin stolz auf meine Härchen!" Ich weiß ja, sie hält sie für ein Zeichen von Potenz, besonders, nachdem wir gehört haben, dass Frauen mit Haaren an den Beinen gut im Bett sein sollen. Allerdings war das in den Siebzigern! Nach einigem Hin und Her schlichtete ich den Streit mit dem Kompromiss, genau bis zwei Zentimeter über dem Rocksaum zu rasieren. Für die prüde Jungfrau war der Schein gewahrt, die Rebellin freute sich über den waagerechten Rasur-Limes, und ich konnte endlich los.
Da sitzt der Mann im Cafe und wartet. Er lächelt mich mit seinen großen grauen Augen an, und wir freuen uns, ihn zu sehen.
"Wie süß er lächelt!" Teeny ist begeistert. "Nur schade, dass er die Haare nicht offen trägt!" Teeny ist mit ihrem Geschmack der Männer auch in den Siebzigern steckengeblieben, bei dunklen Wallehaaren und Rauschebart ist sie hin und weg, besonders, wenn derjenige noch einen Parka trägt. Seit sie den Mann einmal mit offenen Haaren erblickt hat, ist es um sie geschehen. Für mich bedeutet das eine Menge Arbeit, denn jeder Blick, jedes Wort muss erst meine Zensur passieren. Hilfe vom Aufpasser ist kaum zu erwarten; er kommt nicht mehr oft zum Zuge, weil er bei jedem Auftritt übertreibt. Früher hat er uns allen Angst gemacht mit seinen Sprüchen wie: "Bei dir ist Hopfen und Malz verloren!" oder "Keiner mag dich!" Aber inzwischen ist die versammelte Truppe ein eher lustiges Team, das ihn nicht mehr ernst nimmt, und so kommt er nur noch, wenn es uns wirklich schlecht geht.
Wir bestellen Getränke und sind bald mitten im Gespräch. Auf meine Frage nach seinem Segelboot erklärt mir der Mann die Minimierung des Strömungswiderstandes am Kiel, und ich höre aufmerksam zu. Der Mann sprüht vor Kompetenz, und ich nehme seine Informationen auf.
"Und mit Fluid ist das Wasser gemeint, das der Bewegung Widerstand entgegensetzt?" Eine klügere Frage fällt mir gerade nicht ein, aber auch diese soll meine Intelligenz und Aufmerksamkeit beweisen.
"Genau!" Wieder lächelt der Mann, bevor er seinen geistigen Faden aufnimmt.
"Er hat wieder gelächelt! Wie süß!" Verzückt sorgt Teeny für unsere entsprechende Mimik, bevor ich abwägen konnte, ob das jetzt angebracht ist. Okay, es ist angemessen, entscheide ich im Nachhinein. Nichts, wofür wir uns schämen müssen.
"So wird das doch nie was!", schimpft innerlich Twen, "Wenn du alles kontrollierst, merkt der doch nie, dass du auf ihn stehst." Die prüde Jungfrau und ich zucken gleichzeitig zusammen.
"Das soll er auch nicht!" Und überhaupt, stehe ich wirklich auf ihn?
"Auf jeden Fall solltest du mehr Haut zeigen!", fährt Twen jetzt weiter fort. "Das Minikleid zum Beispiel ..." Ich stelle mir im Geist die entsprechende Rasur-Diskussion vor und rolle mit den Augen.
"... oder ein tiefer Ausschnitt mit Push up ..."Twens Körperbild von uns entspricht seit den Neunzigern nicht mehr dem tatsächlichen. Mit der allgemeinen Gewichtszunahme verfüge ich inzwischen über eine beachtliche Oberweite, allerdings auch über ein gesteigertes Gedächtnis der Haut, die jede Bewegung des Oberkörpers sofort in Knitterfalten im Dekolletee festhält. Ich seufze leise und versuche, dem Gespräch weiter zu folgen. Inzwischen geht es um den Unterschied zwischen Druckwiderstand und Reibungswiderstand.
Bei "Druck" und "Reibung" schweife ich weiter ab. Ich betrachte die großen, grauen Augen, deren Blick ich jetzt gern auf mir spüren würde. Doch der Mann ist so damit beschäftigt, mich intellektuell zu beeindrucken. Oder geht es gar nicht um mich? Vielleicht fühlt er sich selbst besser, wenn er sich so reden hört.
"Willst du nicht mal einen Zahn zulegen?", schlägt das wilde Weib vor. "Ich meine, Teeny ist ja mit Blicken und zufälligen Berührungen voll zufrieden, aber ich hätte schon mal gern wieder geilen, triebhaften Sex."
Sofort geht der Tumult los. Die lauteste Stimme ist die von der prüden Jungfrau, die Einhalt gebietet. Sie ist die typische Gegenspielerin des wilden Weibes und hält nichts von Hingabe. Sie ist auch beim Sex bemüht, alles sauber und hygienisch zu halten und bloß nicht die Kontrolle zu verlieren. "Sex ist keine Option", vermittelt sie mit harter Stimme, "denkt mal an unsere merkwürdige Beinrasur."
"Als ob mich das kümmern würde ..." lacht das wilde Weib nur und entwickelt Fantasien von dem Mann auf dem Tisch, mitten im Café, verschwitzt und ausgepowert.
Jetzt ist auch noch das innere Kind aufgewacht. Sorgsam beäugt es den Mann, und ich bin froh, dass er keine Ähnlichkeit mit den Bedrohern von früher aufweist. Das habe ich natürlich von Anfang an ausgeschlossen. Trotzdem scheint es nicht beeindruckt:
"Der ist doof!"
"Warum das denn?" Auf die Antwort bin ich wirklich gespannt.
"Der sieht uns nicht." Ich staune. Da stimmt sogar Twen zu:
"Der zeigt uns doch dauernd, wie toll er ist. Das kann ich gar nicht gebrauchen. Der sollte uns lieber sagen, wie toll wir sind. " Ich grinse, doch Twen ereifert sich weiter: "Hat der uns irgendwas gefragt, Interesse gezeigt?"
Leider hat sie recht. Und auf die Dauer ist es ermüdend.
So bin ich auch nicht traurig, als der Mann schließlich auf die Uhr schaut und bedauernd sagt, dass er langsam gehen muss. Viel zu schnell kommt mein Nicken und "Okay!" Nur Teeny besteht noch auf einer Umarmung zum Abschied und wird sicher weiter von dem Mann träumen.
Ich selbst höre mich nochmal um im Figurentheater, und die Stimmung ist ganz in Ordnung. Ich ruhe in mir, kein Persönlichkeitsanteil fühlt sich vernachlässigt, ich habe also gut moderiert. Von Ferne höre ich den Aufpasser murmeln: "Keiner mag dich!", doch die Stimmen der anderen zählen mehr, besonders die eine, die ich noch einmal laut wiederhole: "Nach dem Date ist vor dem Date! Also, auf ein Neues!"