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Ein Café in Czernowitz
Hauptbahnhof – ich bin am Ziel meiner Reise.
Spüre ich leichtes Herzklopfen, einen Anflug von Wehmut - werden vor Rührung meine Augen feucht? Verstärkt der graue Himmel meine Traurigkeit darüber, dass ein Vierteljahrhundert seit unserem letzten Kuss vergangen ist?
Lydia, ein umwerfendes Mädchen mit viel zu kurzem Haar, viel zu großen Augen und einem herrlichen Ungestüm weckte neben meinen Sinnen auch viele, wohl bis dahin verborgene oder unbewusst unter strenger Kontrolle gehaltene Membranen und Sensoren – und sie zeigte mir Seiten ihres großen slawischen Charakters, die meine gewohnten Empfindungen tiefer und intensiver werden ließen. So hatte ich das große Glück, gerade im richtigen Alter die besten Lektionen in vielen wichtigen Dingen zu bekommen.
Der unvergesslichen Zeit mit Lydia nachzuweinen, ist nicht mein einziger Reisegrund. Ich habe in Czernowitz studiert. Die Straßen und Gassen meiner Erinnerung wollte ich noch einmal entlanggehen, an den Orten vieler langer Nächte eines dieser kolossalen braunen Biere vom Fass genießen, möglichst wie damals - im altmodischen Seidel mit Zinndeckel. Wer sein Bier in einem solchen Gefäß für Privilegierte serviert bekam, musste ein großer Trinker sein, und Stammgast obendrein. Das wiederum war eine Rolle, die mir auf den Leib geschrieben war. Für Eskapaden war ich immer gut. Aber ich bin angereist, um mich nur an die schönen Sachen zu erinnern.
Bis zum Hotel könnten es fünfhundert Meter sein, doch da es regnet und ich ohne Schirm bin, steuere ich das "Café Puschkin" an.
Schon vor dem Eintreten weiß ich, die Tür wird ein bisschen klemmen, die Farbe ist ein wenig abgeblättert, der Fußabtreter wird meine Schuhe nur unnötig schmutzig machen und auch sonst wird mich nicht viel eitel Glanz blenden.
Doch bei diesem Wetter muss man sich auf die wichtigen Dinge konzentrieren, und das sind nun mal ein Sitzplatz im Trockenen, möglichst in geheiztem Raum, ein heißes Getränk und etwas Leckeres zum Schnabulieren. Schon hab’ ich die Klinke in der Hand, die Tür klemmt überraschenderweise nicht, aber sie quietscht.
Es gibt viele freie Plätze. Ich wähle einen Eckplatz am Fenster, der mir erlaubt, den Raum, aber auch ein gutes Stück Trottoir mit Bushaltestelle und Straße zu überblicken. Von einer Bedienung ist nichts zu sehen. Ich erkenne den Vorteil der nicht geölten Türangeln: Nach einigem Warten gehe ich nochmals zur Tür, lasse quietschen und nehme dann wieder Platz.
Und jetzt passiert’s! Die Backstubentür fliegt auf, knallt gegen das Kuchenbuffet, von dem mangels Farbe keine mehr abplatzen kann; irgendeine Scheibe klirrt verhalten. Die attraktive Wirtin selbst, mit Silberdutt und orientalisch inspiriertem Ohrgehänge, in einem Rüschenkleid in Aquamarinblau, betritt den Gastraum - in der Hand ein auf Hochglanz verzichtendes Tablett, darauf aufgetürmt Quarkküchlein, goldbraun, wie es sich gehört, süß und weiß berieselt und einen so köstlichen Duft verströmend, dass man auf einen Schlag ein heftiges Glücksgefühl verspürt. Und Gier, eine richtige Gier steigt in mir auf. Es ist bekannt, dass Quarkküchlein sehr sättigen und stopfen, doch hätte ich in diesem Moment gewettet, von diesen Goldtalern zehn Stück verschlingen zu können. Der Etikette wegen bestelle ich, mit tropfendem Zahn und Ungeduld, erst mal nur zwei. Der Tee kommt auch irgendwann, doch der spielt keine Rolle, obwohl, gut ist er. Das Meisterbackwerk spielt die Hauptrolle: Dieses unbeschreibliche Odeur von sattem Quark, ukrainischem Weizen, doppelt fettem Sauerrahm, Rosinen und in der Ofenhitze aufgeplatzten Sonnenblumenkernen lässt mir fast die Sinne schwinden. Um es etwas erdnäher zu sagen: Es haut mich fast um und beglückt mich im wahrsten Sinne des Wortes.
Ich bekomme einen richtigen emotionalen Schub durch diesen herrlichen Urduft und Urgeschmack.
Jetzt schau ich durch die trüben Fenster auf die Bushaltestelle mit den graffitiverzierten Wänden und bin beinahe etwas melancholisch. Meine Stimmung droht abzusacken. Da wendet sich mir die Chefin mit frisch nachgezogenen Lippen zu: „Eben kommt der Mohnstrudel aus dem Ofen! Sie möchten doch sicher probieren?“
Ich erliege geradezu ihrer, einem Befehl nicht ganz unähnlichen Empfehlung. Nur zu gern füge ich mich.
Der Mohnstrudel ist wirklich ein Gedicht – dick und stramm wie eine Wurst, in handbreite Stücke geschnitten. Fast quillt die herrliche Füllung mit ihren Sultaninen und Nussstückchen zu beiden Seiten heraus, prall und saftig. Eine leicht aufgeplatzte rösche Kruste schmückt ihn, mehrfach mit zerlassener Butter bestrichen und genau so oft mit Puderzucker überstäubt. Mohn in seiner köstlichsten Form. Unverständlich, dass anderswo mit aufwendigen Prozessen illegale Rauschmittel daraus hergestellt werden, wenn doch diese blauschwarzen Samen schon auf direkte, völlig legale Weise berauschend - glückselige Zustände aufkommen lassen.
Der Tee bleibt in den dicken weißen Tassen schön warm. Ich bin schon bei Nummer drei und überlege gerade, um wie viel hübscher die junge Dame an der Haltestelle in ihrem rosa-grau-blau gefärbten Anorak aussehen würde, wenn doch nur ein bisschen die Sonne schiene. Ich bitte um die Rechnung.
Flugs wird addiert und die Dame des Hauses überreicht mir den kleinen Zettel.
Es hat den Anschein, dass hier ein kleiner Ausländeraufschlag mit eingerechnet wurde, doch ich bewahre Haltung. Ich zahle korrekt, aber keine Kopeke mehr als gefordert. Darüber hinaus bedanke ich mich für die freundliche Bedienung und lobe auch das vorzügliche Gebäck. So bekommt unser geschäftlich bedingter Wortwechsel fast einen Flirtfaktor. Sie lässt mich wissen, dass ihr Frische und Qualität sehr am Herzen liegen, und ich erwidere, jeder Gast würde das bemerken und deshalb - so wie ich, ab heute - ihrem Geschäft die Treue halten. Jetzt leuchten ihre Augen und sie reicht mir zum Abschied die Hand.
Statt es nun aber bei einem flüchtigen Händedruck zu belassen, führe ich ihre Hand an meine Lippen und deute einen ergebenen Handkuss an. Madame ist verzückt, das Rouge ihrer Wangen wird noch intensiver und beim langsamen Lösen unserer Hände führt sie die meine sanft über den oberen Bereich ihres aquamarinblauen Kleides. Wunderbar prall wie der Mohnstrudel ist ihr Busen. Jetzt würde ich ihr auch gern die linke Hand küssen, doch die Chefin ist schon in der Backstube verschwunden. „Doswidanija und besseres Wetter!“, ruft sie noch.
Ich trete hinaus auf die Straße. Die Sonne boxt sich ein Loch zwischen starrer Wolkenwand und niedrigen Dächern und ich danke Lydia für all die Lektionen über die Feinheiten des menschlichen Zusammenlebens.