Ein buntes Jahr
Ich halte eine kleine Leinwand in der Hand. Noch ist sie weiß. Von oben bis unten. Komplett. Weiß. Doch bald wird sich das ändern. Morgen beginnt mein Praktikum im Krankenhaus. Ich habe vor, meine Erfahrungen in irgendeiner Form künstlerisch auf dieser Leinwand festzuhalten, um mich später an das Jahr zurück erinnern zu können.
Der Wecker klingelt - es ist soweit. Heute ist der erste Tag. Pünktlich um acht Uhr muss ich da sein. Es ist gerade mal sechs Uhr. Trotzdem bin ich sofort hellwach. Ich bin nervös, kann nicht genau abschätzen, was mich erwartet. Ich habe Angst, den Aufgaben, die mich erwarten, nicht gerecht werden zu können. Alles ist grau.
Frühstücken fällt mir schwer, ich habe einen Kloß im Hals, der es mir unmöglich macht, etwas zu schlucken. Viel zu früh fahre ich los, radle die Straßen entlang und versuche, meine Nervosität abzulegen. Es klappt nicht. Ich verfahre mich; habe keine Ahnung, wo ich bin. Ich werde noch nervöser. Mein Herz klopft. Alles ist schwarz.
Mit etwas Glück finde ich den richtigen Weg doch noch. Allerdings bin ich fast zu spät und völlig außer Atem. Na toll. Der erste Eindruck von mir wird also schlecht ausfallen, da bin ich mir ganz sicher. Ich werde von einer der Schwestern abgeholt, die von nun an meine Kolleginnen sein sollen. Sie ist nett, stellt mich auf der Station vor. Dann werde ich ins kalte Wasser geworfen. Keine großen Erklärungen. Es wird wohl erwartet, dass man sich quasi selbst einarbeitet, so als Laie. Ich fühle mich unwohl. Alles ist grau.
Nach ein paar Wochen habe ich mich eingewöhnt. Ich laufe nun nicht mehr ständig in falsche Flure und kann mich recht gut orientieren. Den Stationsablauf habe ich inzwischen verinnerlicht, mit vielen Kolleginnen komme ich gut zurecht. Langsam macht es mir richtig Spaß. Ich helfe den Patienten gerne und bin froh, dass ich mittlerweile ziemlich viele Tätigkeiten selbstständig ausführen darf. Alles ist grün.
Schwarz, als mir die Spannungen zwischen einigen Mitarbeitern auffallen. Ich komme mir fehl am Platz vor zwischen so viel Hass und Hinterlist. Dann wird es gelb, ich kann mich mit anderen Praktikanten austauschen, habe viel Spaß mit ihnen.
Der erste Monat ist um. Und ich male. Male ein Motiv aus unterschiedlichen Farben, die meine Stimmungen wiedergeben.
Es vergeht Monat für Monat, jeden Monat gibt es neue Dinge zu entdecken. Schöne und weniger schöne. Farben über Farben kommen jeden Tag hinzu. Helle Farben, dunkle Farben, warme Farben, kühle Farben. Die Zeit vergeht manchmal zu schnell, manchmal zu langsam.
Nach zwölf Monaten habe ich schließlich meinen letzten Tag hinter mir. Ich wurde relativ herzlich verabschiedet. Ich bin traurig und fröhlich zugleich.
Einerseits werde ich sehr viel vermissen. Von lustigen Gesprächen mit Kolleginnen über bestimmte Arbeitstätigkeiten bis hin zu den Patienten.
Andererseits bin ich wirklich erleichtert, nun endlich wieder frei zu sein. Ich habe mich in diesem Jahr oft vom Arbeitsplatz eingeengt gefühlt, manchmal auch überfordert oder ausgenutzt.
Ich male das Bild zu Ende. Es ist bunt. Bunt, groß und schön. Es sieht anders aus, als ich es mir vorgestellt hatte. Doch zum ersten Mal in meinem Leben finde ich das nicht schlimm. Es gefällt mir sogar, es ist eine wirklich gelungene Darstellung dieses Jahres. Es spiegelt genau das wieder, was ich in diesem Jahr für mich selbst lernen konnte. Das Leben ist bunt, voller Farben und Formen, Höhen wie Tiefen. Und genau so ist es perfekt. Bunt ist perfekt.