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Ein Bommerlunder für alle Fälle
Was für ein schöner Tag, dachte Nick, als er mit seinem Dienstfahrrad zum schicken Haus mit der Jugendstilfassade in Schwabing fuhr. Die Sonne ließ den Stuck leuchten. Eine Brise wehte um Nicks Nase. Er stieg ab und saugte tief den Duft frisch gemahlener Bohnen ein, der aus dem Laden im Erdgeschoss strömte, freute sich, dass seine Postaustragetour für heute bald geschafft sein wird und schmeckte schon den Kaffee, den er sich nach getaner Arbeit immer gönnte.
Nick schnappte sich aus der Fahrradtasche die Briefe für die Bewohner und die Buchsendung, die heute für Maria Zickinger bestimmt war. Ach nein, nicht die schon wieder, dachte Nick, das letzte Mal hat sie ein fürchterliches Theater gemacht, weil die Buchsendung eingedrückt war. Die ist fast so schlimm wie die Möchtegernprominente drei Straßen weiter, die morgens um neun schon eine Fahne hat. Kritisch überprüfte er den braunen Umschlag, konnte aber keine Beschädigung erkennen.
Pfeifend sprang er die Stufen nach oben zu den Briefkästen, stolperte beim Hauseingang, verteilte die Post, ärgerte sich kurz über eine Sendung, die nicht durch den Briefschlitz von Herrn Müllers Briefkasten passte, und sah aus den Augenwinkeln Frau Winter mit einer großen Einkaufstüte auf ihn zusteuern. Man sah ihr die Hüftschmerzen an, über die sie sich seit drei Monaten bei Nick beklagte.
»Guten Morgen Frau Winter, da haben Sie aber viel eingekauft. Darf ich Ihnen helfen?«
»Ach, junger Mann, das wäre wirklich nett, wenn Sie mir die Tasche rauftragen könnten. Wissen Sie, meine Tochter kommt heute mit der kleinen Sarah zum Mittagessen. Hach, wo habe ich denn meinen Schlüssel?!«
Frau Winter kroch voran, Nick hinterher. Sie ächzte bei jedem zweiten Schritt im Einklang mit den Stufen der alten Holztreppe.
»Lassen Sie sich ruhig Zeit, Frau Winter. Soll ich Sie noch ein wenig stützen?«
»Sie haben doch schon die schwere Tasche. Nein, es ist aber auch ein Kreuz. Diese Schmerzen. Oben nehme ich erst einmal meine Medizin.«
Bommerlunderduft hing in der Luft, vermischte sich mit Bohnerwachs und Reinigungsmittelgerüchen und Nick bekam Durst, als er mit Frau Winter im fünften Stock ankam, die direkt gegenüber von Maria Zickinger wohnte. Um einen ordentlichen Eindruck zu machen und sich nicht allzu schäbig neben der immer perfekt aussehenden Maria Zickinger zu fühlen, wischte er sich über seine rotblonden Haare und versuchte, seinen schlechten Haarschnitt zu kaschieren, indem er seine struppigen Strähnen ordentlich von der Kopfmitte nach unten strich. Ohne Erfolg. Es sah jetzt noch mehr nach Topfschnitt aus.
Die eichene Wohnungstür kam ihm vor wie ein Schlosstor und er sich selbst wie ein fahrender Händler auf der Durchreise, den man aus der Stadt jagte, wenn er die falschen Produkte anbot. Nochmals überprüfte er die Buchsendung, konnte aber keine Delle finden.
Beim dritten Versuch schaffte Nick es endlich, den kleinen Klingelknopf zu betätigen.
Maria öffnete die Tür und sah Nick mit ihren Kokosnussaugen an, jedes Haar an der richtigen Position, das Make-up mehrlagig aufgetragen und poliert wie Autolack, die Wimpern lang und schwarz, die Nägel rot und die diätengestählte Figur verpackt, wie es nur Frauen können, deren zweiter Vorname Modeboutique ist.
»Endlich, mein Buch!«, sagte Maria und begann, die Tür zu schließen. »Da fällt mir ein, meine Wohnzimmerlampe ist kaputt. Sie sind zwar nur der Postbote, aber ein Mann«, stellte Maria zögernd fest. Ihr Blick wanderte von unten nach oben und wieder nach unten, wobei er an den schmutzigen Schuhen kleben blieb. »Sie können bestimmt eine Glühbirne wechseln, oder? Ziehen Sie aber um Himmels willen die Schuhe aus, bevor Sie reinkommen. Die sehen fürchterlich aus.«
Nick versuchte etwas zu sagen, sein Mund stand aber einfach nur offen und die Stimmbänder gaben Brummgeräusche von sich, wie bei einem meditierenden Yogi.
»Nun kommen Sie schon. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, drängelte Maria und stolzierte barfuß voran. Nick wackelte durch einen hellen Flur hinterher, an einem Wandschrank entlang, vor dem eine Batterie von Pumps stand: rote, blaue und schwarze, wobei man letztere auch als Stelzen verwenden konnte.
Er stolperte über einen Flokati, der hinter dem Wohnzimmereingang lag. Maria kicherte ein helles Lachen, in das sich kleine Grunzlaute mischten, sodass Nick unwillkürlich an ein Ferkel dachte, was ihn irritierte, denn ein derartig sauberes Schwein hatte er noch nie gesehen. Schon gar nicht in so einer reinweißen Umgebung. Weißes Sofa, weiße Regale, der weiße Flokati und eine geöffnete Rotweinflasche auf einem weißen Wohnzimmertisch.
»Hier ist das gute Stück«, riss Maria ihn aus seinen Gedanken.
Nick blickte auf eine weiße Deckenleuchte mit fünf Glaskugeln, wobei eine in der Mitte dunkel war, wie ein kurzer Test zeigte. Maria hielt ihm eine Ersatzbirne entgegen, verschränkte den anderen Arm, wackelte mit dem linken Fuß und sah ihm auffordernd in die Augen.
Nick spürte, wie seine Hände zitterten und das Hungergefühl in seinem Magen einem leichten Krampf wich. Hoffentlich geht das gut, dachte er und erinnerte sich an seine letzte Handwerksaktion bei seinen Eltern. Danach war er drei Wochen krankgeschrieben. Die Ärztin hatte gelacht wie eine Hyäne, als sie mit einem Akkuschrauber die Schraube aus seiner linken Hand entfernte.
Mit beiden Händen nahm er die Birne aus Marias Hand, steckte sie in die linke Hosentasche seiner knielangen Hose, reckte sich und fragte nach einer Leiter oder einem Hocker, den Maria aus dem Wandschrank hervorholte und der ebenfalls weiß war.
»Weiß ist wohl Ihre Lieblingsfarbe«, sagte er, stieg auf den Hocker, zog die Glaskugel vorsichtig ab, reichte sie Maria und schraubte die defekte Birne heraus, die ihm nach der letzten Drehung aus den Fingern glitt und sanft in den Wuschelhaaren des Flokatis landete. Puh, Glück gehabt, dachte Nick.
»Ich mag Weiß, weil es so sauber ist, so rein. Ich achte sehr auf Sauberkeit. Ich will keinen einzigen Fleck, nirgends, hören Sie? Sonderlich geschickt sind Sie ja nicht«, nörgelte Maria und blies eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich erstaunlicherweise gelöst hatte. Die Arme waren jetzt verschränkt und die linke Hand spielte mit der Glaskugel. Der Fuß wackelte schneller.
Nick fummelte die Birne aus seiner Tasche, bekam sie gerade noch mit zwei Fingern zu greifen, führte sie in das Gewinde und drehte. Und drehte weiter. Schweiß stand auf seiner Stirn. Der rechte Arm begann zu schmerzen.
»Schrauben Sie in die richtige Richtung?«
»Oh. Äh, danke für den Hinweis! Da hätte ich noch ewig drehen können.«
»Das glaube ich nicht, so wie Sie schwitzen. Sie sollten mehr Sport machen.«
Ein Schweißtropfen verfing sich in seiner linken Augenbraue. Endlich saß die Birne fest im Sockel. Nick ließ schnaufend die Arme sinken, nahm die Glaskugel aus Marias Hand und spannte zwei Federn der Lampenfassung, die er durch die Glaskugelöffnung fädelte. Er nahm die dritte Feder und drückte sie fest nach hinten, spannte seinen Körper an, streckte die Zunge raus, biss drauf und rutschte ab. Die Feder schnalzte bösartig gegen seinen Finger und die Glaskugel sprang in den sicheren Tod. Erschrocken machte er mit dem rechten Fuß einen Schritt zurück, der zunächst ins Leere ging, dann aber auf der Glühbirne landete, die sich im Flokatiwuschel versteckt hatte.
Nick jaulte wie eine Katze, der man auf den Schwanz gestiegen war, als sich die Scherben in seine Fußsohle bohrten.
Marias Augen wurden groß wie Weinfässer und Nick glaubte, ein rotes Funkeln in den schwarzen Pupillen zu sehen. Die Wuschelhaare neben seinem Fuß verfärbten sich erst rosa und dann langsam in ein tiefes Rot. Die Glaskugel sah aus, als ob ein Elefant sein Nachtlager darauf hatte.
Nick humpelte langsam und innerlich fluchend zum Sofa, stempelte rote Füße in den Flokati, drehte sich langsam herum, um sich zu setzen und unterschätzte seinen Wendekreis.
Maria brüllte etwas, das er nicht verstand, fragte sich dann aber, woher der Rotweinsee neben ihm auf dem Sofa kam. Er griff nach der inzwischen leeren Flasche und stellte sie auf den weißen Wohnzimmertisch. Sein Fuß pochte und unter ihm breitete sich eine kleine Blutlache im Gewuschel des Flokatis aus. Verlegen und ängstlich blickte er zu Maria.
Ihre Weinfässer waren mittlerweile zu zwei waagerechten Schießscharten mutiert, auf ihn gerichtet und umgeben von blondem Gestrüpp, in dem sich zwei Hände verfangen hatten. Rote Nagellackfarbtupfer blitzten in dem Haargewühl auf und tanzten darin Samba zu schrillen, rhythmischen Silben aus Marias Mund, in die sich die Wörter »Trottel«, »Idiot» und »das werden Sie mir ersetzen« mischten.
Bevor Nick etwas sagen konnte, klingelte es an der Tür.
»Frau Winter?«, hörte Nick Maria erstaunt rufen.
»Was ist das denn für ein Lärm bei Ihnen, Kindchen? Ist was passiert?«, sagte Frau Winter. Ihre Stimme kam näher.
»Du meine Güte! Junger Mann, sind Sie verletzt?«
»Ich bin in eine Lampe getreten. Mein Fuß ist voller Glassplitter «, sagte Nick.
»Kindchen, holen Sie doch mal Verbandssachen. Ich besorge inzwischen was zum Desinfizieren und Salz für Ihre Sofaflecken, das sieht ja schlimm aus. Na los, nun machen Sie schon und schauen Sie nicht so böse!«
Nick zuckte bei jedem Splitter, den Frau Winter aus seiner Fußsohle riss. Munter erzählte sie dabei Geschichten aus ihrer Zeit als Krankenschwester. Damals im Krieg, wo man zum Desinfizieren Bommerlunderschnaps benutzte.
»So, jetzt gibt es erst einmal ein Stamperl für den Fuß, eines für den jungen Mann und eines für Sie, Kindchen. Achja, die Krankenschwester dürfen wir auch nicht vergessen«, kicherte Frau Winter, trank den Schnaps in einem Zug und kippte dann Bommerlunder über die Schnittwunden. Nicks Gesicht ließ jede Halloweenkürbisfratze langweilig aussehen und Maria lachte so laut, dass sich Frau Winter die Ohren zuhielt, nachdem sie noch drei Schnapsgläser gefüllt hatte.
»Trinkt Kinderchen, das hilft sogar bei Hüftschmerzen«, nuschelte Frau Winter. Sie zog mit zufriedener Miene die blutgetränkte Socke über den Verband am Fuß, stand auf und erwischte beim zweiten Versuch die Bommerlunderflasche, aber nicht richtig, sodass sich der restliche Bommerlunder auf das Sofa ergoss, direkt auf das Salz, das Frau Winter auf den Rotweinsee gestreut hatte. Die Mischung aus Bommerlunder, Rotwein und Salz bildete kleine Bläschen und tröpfelte von der Vorderkante.
»Es tut mir so schrecklich leid«, jammerten Frau Winter und Nick im Kanon. Maria schob sie durch den Flur und rief wie eine kaputte Schallplatte: »Raus hier! Raus hier!«.
Die Tür krachte hinter ihnen ins Schloss. Nick schlüpfte in den linken Schuh und humpelte mit dem rechten in der Hand neben Frau Winter her, die zurück in ihre Wohnung wollte.
Beide erstarrten, als ein brüllendes »Scheiß kaputte Lampenkugel« durchs Treppenhaus hallte.
»Klingeln Sie, junger Mann!«, raunte Frau Winter, »Ich hole noch eine Flasche Bommerlunder!«