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Ein blauer See

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01.03.2003
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Ein blauer See

Ein blauer See. Richtig blau, nicht so ein fades Grün-Grau. Nein, richtig tiefes Blau, darüber ein schimmernder Glanz. Die Sonne strahlt und das Wasser reflektiert ihre Strahlen. Sie dringen in Tyras Augen. Dort reizen sie die Lichtsinneszellen, der Sehnerv teilt dem Gehirn mit einer Abfolge elektrischer Impulse mit, dass im Auge etwas gereizt wurde. Das Gehirn rechnet und heraus kommt ein Bild. Ein blauer See. Ein neuer Nervenimpuls, eine Ente, meldet das Gehirn. Und dann, ein Reiher, mehrere Fische und eine gelbe Libelle. Von all dem bekommt Tyra nichts mit. Sie starrt mit offenen Augen auf die Wasseroberfläche, sieht und ist doch blind. Ihre Augen melden an das Gehirn, aber Tyra ist weit weg. Sie ist nicht an diesem blauen See, auch nicht im Sonnenschein. Wo sie ist, kann keiner genau sagen. Man weiß es nicht. Und Tyra gibt keinen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort.
Ein vorbeigehender Spaziergänger würde sicher denken, das blonde blasse Mädchen genieße den Sonnenschein und die milde Frühlingsluft. Ein wenig aufmerksamere Passanten würden noch bemerken, dass Tyra nicht auf, sondern neben der Bank sitzt, in einem Rollstuhl. Doch auch sie würden nicht bemerken, dass sie nicht anwesend ist. Das weiß nur Thomas, ihr Zivi. Tyra kennt ihn nicht, dabei hat sie ihn schon so oft angeschaut. Groß gewachsen, hellbraunes Haar, graue Augen und ein nettes Lächeln. Er hat sanfte warme Hände, mit denen er Tyra abends ins Bett bringt, morgens das Frühstück macht und sie mittags an den See fährt. Manchmal gehen die beiden auch in den Zoo oder besuchen Tyras Eltern.
Aber nicht so oft, denn die beiden können nicht viel mit ihrer Tochter anfangen. Hilflos stehen sie vor dem Rollstuhl, sie fragen Thomas, wie es ihr den gehe und wenn er antwortet, sie sollen doch Tyra fragen, da lächelt die Mutter unsicher, der Vater dreht sich weg und murmelt was von Krüppel.
Darum sind sie heute auch am See. Tyra fühlt sich hier wohl. Thomas hat sie das zwar nie gesagt, aber er kann es spüren. Heute ist Thomas letzter Arbeitstag, in ein paar Wochen wird er sein Studium beginnen. Er hat es Tyra erzählt, auch wenn er nicht weiß, ob sie es bemerken wird, wenn er nicht mehr da ist. Wahrscheinlich ebenso wenig, wie sie bemerkt hat, das Sarah ihr freiwilliges soziales Jahr beendet hat und Thomas gekommen ist. Aber er hat es für wichtig gehalten, denn schließlich kann man nie wissen. Thomas beschreibt Tyra seine neue Wohnung und malt auf ihre Hand das Muster der Tapete, die er im Baumarkt gekauft hat. Tyra gibt keine Antwort. Ob ihr die Tapete gefällt oder sie heute lieber im Zoo wäre, bleibt ihr Geheimnis. Vielleicht wird sie es irgendwann offenbaren.
Der Arzt, der Thomas eingewiesen hat, meinte am ersten Arbeitstag, Thomas solle keine Scheu haben, man wisse nicht, was Tyra mitbekomme und was nicht. Er solle sie behandeln wie einen normalen Menschen. Tyra ist schon fast zwanzig Jahre alt. Aber sie ist hilflos wie ein kleines Kind.
Eine Schallwelle. Die Härchen im Innenohr biegen sich, Hallo formuliert das Gehirn. Der Befehl zur Reaktion bleibt aus. Wie geht es dir denn heute, das Trommelfell vibriert. Eine Frau steht vor Tyra, sie ist klein, vielleicht einen Meter sechzig, sieht aber energisch aus trotz ihrer schon ergrauten Haare und des faltigen Gesichts. Tyras Oma. Sie hat keine Probleme damit, ihrer Enkelin zu begegnen. Die Oma setzt sich neben Thomas und die beiden beginnen ein Gespräch. Über das Wetter, den blauen See, die Vögel und die Tagespolitik. Thomas mag die alte Frau. Und Tyra mag er auch. Als er sie zum ersten Mal gesehen hat, war er entsetzt. Seinen ganzen Zivildienst sollte er damit verbringen, für jemanden zu sorgen, der offensichtlich nicht ganz normal war. Doch er hatte schnell festgestellt, das Tyra ein sehr interessanter Mensch war. Man konnte sich zwar nicht auf normale Weise mit ihr unterhalten, doch langweilig war sie beileibe nicht. Seit einiger Zeit veränderte sich sogar ihre Mimik. Auf bestimmte Reize zogen sich ihre Pupillen zusammen, die Augen verfolgten die Lampe des Arztes, wenn er sie vor dem Mädchen hin und her bewegte. Ein gutes Zeichen.
Thomas und die alte Dame bemerken es nicht. Niemand bemerkt es. Es passiert in Tyras Innerem. Etwas regt sich, lange vergessen und nicht beachtet, erwacht es nun nach einem langen Schlaf. Noch ist es müde, es ist nicht so schnell, wie es die Umwelt erwartet, aber es ist auf dem Weg und es will heraus. Denn es war schon einmal da, dann ist es plötzlich eingeschlafen und konnte nicht mehr erwachen. Nun ist es Zeit. Es kommt.
Eine kleine Fliege landet auf Tyras Finger. Sie krabbelt den nackten Arm hinauf, Tyra hat heute eine kurzärmelige Bluse an, es ist ja warm. Die Bluse ist von ihrer Oma und so blau wie der See. Langsam biegen sich die Haare auf Tyras Unterarm, wenn die Fliege auf dem Arm ihre Kreise zieht. Biegen, aufrichten, biegen, aufrichten. Freie Nervenenden in Tyras Haut bemerken den winzigen Druckunterschied und melden zusammen mit den Nervenenden an den Haarwurzeln an das Zentralnervensystem. Da krabbelt was, ist die Meldung. Keine Antwort. Die Nerven geben keinen Befehl, die Muskeln sind entspannt. Doch da, unbemerkt, bewegt sich der kleine Finger. Er zuckt. Noch kann es nicht genau reagieren, die Fliege stört sich nicht an der Bewegung, weiter biegen sich die Haare, weiter geht die Meldung.
Thomas schaut kurz auf und als er Tyra friedlich dasitzen sieht, die Augen auf den See gerichtet, wendet er sich wieder der alten Frau zu.
Der Arm zuckt, die Fliege verlässt fluchtartig den sicher geglaubten Landeplatz. Die Rückmeldung kam an. Keiner hat es gesehen, es ist doch geschehen. Tyra wacht auf. Es wird noch lange dauern, aber sie ist auf dem Weg. Bald werden es auch andere bemerken. Vermutlich wird Thomas nichts davon mitbekommen, er wird studieren und nicht mehr oft an Tyra denken, sie vielleicht ein paar Mal besuchen, nicht mehr. Doch eines Tages wird das Telefon klingeln und eine ihm fremde Stimme wird ihm danken. Für die Spaziergänge am See, die Nachmittage im Zoo und den guten Schokoladenkuchen. Thomas wird sich wundern, sein Gedächtnis wird nach der Stimme suchen und nichts finden. Der blaue See, wird die Stimme sagen, das Telefonkabel wird die Schwingungen bis ans andere Ende des Landes tragen und dort wird sich Thomas Trommelfell in Schwingungen versetzen, die Härchen im Ohr werden sich krümmen und vor seinem inneren Auge wird ein Bild entstehen. Er wird es nicht glauben. Ungläubig wird er nachfragen, dann vielleicht jubeln oder auch nur lächeln und sich leise freuen.
Doch davon weiß er noch nichts. Und Tyra ahnt es nur. Tief in ihrem Inneren regt sich das lange Vergessene und wenn es ans Licht kommt, werden alle überrascht sein. Nur die Fliege nicht, sie war der erste Zeuge eines wunderbaren Erwachens. Aber die ist längst auf und davon. Alle anderen müssen sich gedulden. Das Warten wird nicht vergeblich sein.

 

Hallo Samira!

Herzlich willkommen auf kg.de! :)

Du hast eine wunderbar hoffnungsvolle Geschichte geschrieben, die ich wirklich gern gelesen habe!

Die Beschreibungen von Tyra und Thomas sind Dir sehr gut gelungen und die Geschichte läßt sich flüssig lesen.
Wie Du von der Beschreibung des Sees dann immer näher weiter ins Detail gehst, bis Du schließlich bei der Fliege und Tyras Innenleben anlangst, gefällt mir sehr gut.

Es wäre vielleicht ganz schön, wenn Thomas nach seinem Zivildienst auch weiterhin Tyra ab und zu besuchen würde und dann den Anruf nicht ganz so unvermittelt bekommt.

Ein paar Kleinigkeiten habe ich noch zu bemerken:

"der Sehnerv teilt dem Gehirn mit einer Abfolge elektrischer Impulse mit, das im Auge etwas gereizt wurde."
- dass

"Ein wenig aufmerksamere Passanten würden noch bemerken, das Tyra nicht auf, sondern neben der Bank sitzt, in einem Rollstuhl."
- dass
- Würde entweder nach "sitzt" einen Punkt machen und "In einem Rollstuhl" alleine stehen lassen, oder den Satz so umbauen: sondern neben der Bank in einem Rollstuhl sitzt.

"Doch auch sie würden nicht bemerken, das sie nicht anwesend ist."
- dass

"Aber nicht so oft, denn die Beiden können nicht viel mit ihrer Tochter anfangen."
- die beiden

"Wahrscheinlich ebenso wenig, wie sie bemerkt hat, das Sarah ihr ..."
- dass

"sieht aber energisch aus trotz ihrer schon ergrauten Haare"
- aus, trotz

"Doch er hatte schnell festgestellt, das Tyra ein sehr interessanter Mensch war."
- dass

"Doch davon weiß er noch nichts. Und Tyra ahnt es nur. Tief in ihrem Inneren regt sich das lange Vergessene und wenn es ans Licht kommt, werden alle überrascht sein. Nur die Fliege nicht, sie war der erste Zeuge eines wunderbaren Erwachens. Doch die ist längst auf und davon. Alle anderen müssen warten. Doch das Warten wird nicht vergeblich sein."
- Statt einem der ersten beiden "Doch" würde ich ein "Aber" nehmen, das letzte würde ich ersatzlos streichen.

Alles liebe,
Susi

 

Hallo Susi:)

Das ist ja schon fast peinlich mit den vielen "das", die eigentlich "dass" heißen sollten:( Ich werds natürlich sofort ändern. Danke für deine ausführliche Kritik, ich finde sie sehr hilfreich. Die Wiederholung der "doch" zum Beispiel ist mir gar nicht aufgefallen.

liebe Grüße Samira:)

 

Hallo, nochmal, Samira!

Jetzt hab ich noch eine Wortwiederholung gesehen: Bei den letzten beiden "Doch" ist zweimal Warten. Evtl. "Alle anderen müssen Geduld haben"?

Alles liebe,
Susi

 

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