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Ein bisschen Winter
Ich habe ja schon immer gewusst, dass sie etwas zu verbergen haben. Diese ganze Heimlichtuerei, die zugezogenen Vorhänge im ersten Stock und die Markise über der Terrasse. Und das im Norden Deutschlands, wo die Sonne nicht einmal stark genug ist, die Milch zu verderben.
Aber was soll man auch erwarten, wenn drei erwachsene Frauen in einem Haus zusammenleben. Ich habe es nicht selbst gesehen, aber jeder weiß doch, dass sie dort untereinander die Männer wechseln wie wir anderen die Platzdeckchen im Esszimmer. Jede Woche landet ein anderer vor ihrer Tür, mit einem Hemd, das nicht in der Hose steckt. Und alle sind sie von „außerhalb“.
Ja, wir haben auch Augen im Kopf.
Ich erinnere mich noch genau an den Tag nach dem Sturm, an dem mehrere umgestürzte Alleebäume die Müllabfuhr daran hinderten, ihre Arbeit zu tun. Am Morgen darauf, man kann es sich kaum vorstellen, lag ihr Müll auf der Straße, überall blutige Binden und Tampons und … nein, ich kann es nicht sagen.
Wie soll sich eine Frau hier fühlen?
Unsere Luise hat mir erzählt, dass ihre Cousine, Marie heißt sie, ein nettes Mädchen mit rotem Haar, ihr kennt sie sicher alle, sie hat Luise gesagt, dass ihr Mann einmal in dem Haus der Winterschwester gewesen ist, um dort den Abfluss zu reparieren. Ja, auf unseren Schulveranstaltungen lassen sie sich nicht blicken, aber unseren guten Service wollen sie schon nutzen. Maries Mann, er sagt »das ganze Haus, es riecht nach Frau«. Wir wissen doch alle, was das heißt.
Marie hat so ein Glück mit ihrem Mann, denn er hat natürlich den Abfluss repariert, wie es sein Job ist, um sich dann schnell genug aus dem Staub zu machen. Und die Winterschwestern sollen gesagt haben, dass ihnen genau das fehlt, ein Mann, der Dinge reparieren kann. Sie haben ihre Puppenaugen, die so blau und schwarz sind, dass sie kaum echt sein können, auf ihn gerichtet und eine stumme Einladung ausgesprochen. Aber er ist natürlich nach Hause, zu Marie und der neunjährigen Tochter, Angela. Sie hat den Lesewettbewerb dieses Jahr gewonnen und war auf der ersten Seite unserer Zeitung, ihr habt es sicher gelesen.
Eine anständige Familie.
Marie hat auch noch erzählt, dass sie Nina Winter in Frederikes Schuhladen getroffen hat. Und sie hat gesehen, wie sie Schuhe mit acht Zentimetern Absatz anprobiert hat.
In dieser Stadt sind sechs Zentimeter mehr als genug.
Diese Frau, diese Nina, sie trug ein Hemd wie ein Kleid, und anhand ihrer weißen Beine konnte man erkennen, dass sie wohl noch nie die Sonne gesehen hat. Kein Wunder, dass der Garten eine solche Zumutung ist. Überall wächst Unkraut aus dem Boden, lauter Zeug, das hier keiner kennt. Unser Robert sagt auch, dass einiges von diesem Unkraut „illegal“ ist. Er sagt, dass man da so manches finden würde, sähe man nur mal richtig hin. Man müsse nachts einmal die Fenster öffnen und ein bisschen schnüffeln, das würde schon reichen, um es zu wissen.
Robert ist Gärtner, er kennt sich mit solchen Dingen aus.
Aber wenn das doch nur alles wäre. Wenn die Liederlichkeit und die kleinen gesellschaftlichen Dummheiten, die sie sich erlauben, nicht von anderen, schlimmeren Dingen, überlagert würden. Aber nein, es ist ihnen ja nicht genug gewesen.
Doch heute ist es das für mich. Sie wollen diese Stadt ruinieren, sie wollen ihre guten Bürger zerstören. Sie wollen uns alle zerschlagen.
Und dieser arme, arme, junge Mann. Wie kann man es ihm verübeln? Wie hätte er sich gegen drei solche Frauen wehren können?
Bert war doch immer ein lieber Kerl gewesen, er hat meinen Rasen jeden zweiten Sonntag gemäht, und nicht nur meinen. Er war kurz davor seine hübsche Freundin zu heiraten. Sogar Kinderpläne hatten die beiden, und wie hübsch sie geworden wären! Ihr blondes Haar und seine starken Arme hätten sie geerbt, da bin ich ganz sicher.
Traurig, traurig. Dass immer den anständigen Jungen die schlimmsten Dinge passieren. Die Winterschwestern haben ihm einfach den Kopf verdreht, mit ihren kurzen Röcken und ihren Puppenaugen und –gesichtern und den langen Beinen auf hohen Absätzen, auf denen sie kaum Balance halten können. Als ob mir das nicht aufgefallen wäre!
Violetta, sie hat mit allem angefangen. Eine Freundin von Susan hat mir erzählt, dass diese schreckliche Frau sich einen Wagen bei Bert kaufen wollte. Ein Kabrio, klein und rot, wie das Kleid, das sie getragen hat, und sie hat ihn zu einer Probefahrt überredet. Es ist doch sein Job, da ist er natürlich mit ihr gefahren. Seitdem sei er nicht mehr derselbe gewesen.
Traurig, traurig, wenn man bedenkt, wer seine Eltern gewesen sind. Vielleicht wäre das alles nicht passiert, wären sie nicht so jung von uns gegangen. Aber Gottes Wege, ihr wisst es ja.
Bert, er hat nicht mehr aufgehört, Violetta hinterher zu steigen. Einer Frau, die mindestens fünf Jahre älter gewesen ist als er. Sie sollen sich in dem Hinterzimmer der Bar getroffen haben, und ich muss euch wohl nicht sagen, was solche Frauen in Hinterzimmern tun. Sie hat ihn mit ihren viel zu offensichtlichen Reizen verführt und an ihrer Angel zappeln lassen wie einen Fisch. Und wie ein Fisch ist auch Bert langsam verdorrt.
Eines Nachts hat ihn Susan selbst gesehen, wie er vor dem Haus der Winterschwestern gestanden ist und seinen Blick auf die dunklen Fenster gerichtet hat. Hexerei, eindeutig Hexerei. Wie soll man es denn sonst erklären, dass ein gesunder, junger Mann sein Leben so zerstört, nur für eine unsittliche Frau, ja, für eine einfache Schlampe!
Ich sage es euch: Diese Frauen spielen mit uns wie mit Puppen, alles nach ihrer Pfeife, alles nach ihrem Sinn.
Würde man mich fragen, hat sie es schon irgendwie verdient. Sie hat es doch darauf angelegt, sie wollte sein Herz brechen, um es dann mit ihren hohen Absätzen zu zertreten.
Natürlich habe ich ihr das nicht direkt „gewünscht“. Aber die Schuld an ihrem Schicksal trägt sie schon ganz allein. Hätte sie den armen Jungen nicht nach etwas süchtig gemacht und es ihm dann verweigert, hätte er es sich auch nicht selbst genommen.
Der Trieb eines Mannes ist eben nicht von dieser Welt, das wissen wir alle.
Ach, traurig, traurig.
Auf seiner Beerdigung haben wir alle geweint, die ganze Stadt ist dagewesen, wohingegen die Frau, diese Violetta, nur unter wenigen Blicken zu Grabe getragen wurde. Ich bin nicht dort gewesen, und ich kenne keine, die es war!
Unser Bert kann doch kein schlechter Junge gewesen sein. Ich bin mit seiner Mutter zur Schule gegangen und sie ist eine unserer engsten Freundinnen gewesen. Niemals hätte ihr einziger Sohn seiner Frau und sich selbst so etwas angetan.
Ich bin mir sicher, es ist die dritte von ihnen gewesen. Mariette, die mit dem rabenschwarzen Haar, von dem so viele sagen, es sei wie Samt, obwohl ich der Meinung bin, es gleicht mehr dem Fell einer alten, fast toten Katze. Es ist so lang, dass sie es wie einen Mantel trägt.
Sie ist es gewesen, da bin ich sicher. Welche Frau lächelt an dem Tag, an dem ihre Schwester beerdigt wird? Keine, das kann ich euch sagen.
Marie sagt, die zwei übrigen Schwestern, Mariette und Nina, hätten an diesem Tag die Fenster geöffnet, was sie sonst nie tun, und die Nachbarschaft mit ihrem Frauengeruch verpestet. Und sie haben Sommerkleider getragen, in bunten Farben. Das gehört sich nicht.
An diesem Tag sind sie auch im Garten gewesen, um irgendwelches Grünzeug abzuschneiden und einzusammeln. Natürlich habe ich sie nicht selbst dabei beobachtet, aber Kathrin, die Frau unseres werten Herrn Doktors, sagt, jemand hätte Mariette mit einer Gartenschere gesehen. Einer Gartenschere, am Tag der Beerdigung! Dabei ist ihnen der Garten doch immer völlig egal gewesen!
Ich sage es euch: Die eine hat seinen Verstand vergiftet, die andere seinen Körper. Der arme Junge, ich habe gehört, er hat sich gewunden und geschrien, so dass fast alle der Nachbarn die Polizei gerufen haben. Sie haben sich Sorgen um seine hübsche Frau gemacht. Jeder weiß doch, dass er nicht mehr ganz bei Trost war, als er gestorben ist. Man konnte es ihm ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht nachweisen, aber dass er sich an dieser schrecklichen Frau vergangen hatte war jedem bewusst. Niemand sonst hätte überhaupt den Wunsch gehabt, ihrem Haus so nahe zu kommen. Unsere Männer sind eigentlich anständig, zumindest das muss man ihnen zu Gute halten.
Und seine hübsche Freundin! Was muss sie am Boden zerstört sein! Da wirft man ihrem Freund diese furchtbaren Verbrechen vor, an denen er doch nicht einmal wirklich Schuld gewesen ist, und nur wenig später zerbricht er eine Flasche und es passiert diese schlimme, schlimme Sache. Sie muss gedacht haben, er würde ihr etwas antun, so außer sich ist er gewesen.
Meine Lieben, wir wissen es alle: Sie sind zu weit gegangen! Die ganze Stadt denkt, die ganze Stadt wünscht es sich und ich spreche es aus: Sie müssen verschwinden! Egal wie!
Aber allein werde ich es nicht schaffen, ich bin nur eine alte Frau, die schon ihre Kraft für diesen Aufruf verbraucht hat, aber wenn wir uns zusammen tun, wenn wir nur gemeinsam den Mut aufbringen, werden wir sie aus dieser Stadt vertreiben.
Dieser Ort gehört uns, wir sind die Alteingesessenen, und wir können es uns nicht leisten, noch einen weiteren braven Mann an diese „Schlampen“ zu verlieren!
Ich fordere euch hiermit auf, euch mir anzuschließen und zu einem außerplanmäßigen Treffen des städtischen Buchclubs in der Turnhalle zu erscheinen.
Ich sage nur so viel: Sagt euren Männern nichts und nehmt die Handschuhe mit, in denen ihr euren Garten harkt.
Ihr werdet sie brauchen.