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Ein Bild

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07.02.2013
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Ein Bild

Er lief und lief. Auf seinem Weg waren ihm schon viele bemerkenswerte, aber nicht weiter nennenswerte Dinge begegnet. Das meiste waren Bilder. Bilder. Farben, Formen. Sie verschönerten seinen Weg und gaben ihm eine Art Charakter. Jedes Bild hatte seine Spur hinterlassen, war für immer eingebrannt am Wegesrand. Doch der Weg selbst, das Wesentliche, zeigte sich nicht durch all die Bilder. Der Weg war kein Bild. Er war etwas, wofür es in unserer Sprache, in allen Sprachen, keinen Ausdruck gab. Er lief auf seinem Weg. Er lief und lief und ein Bart wuchs ihm mit der Zeit, ein schwarzer Bart, der immer länger wurde, immer länger, und irgendwann auf den Boden reichte und früher neben, später hinter ihm her schleifte. Manchmal, wenn er an sehr großen, prägenden Bildern vorbeikam, dachte er, er hätte sein Ziel, endlich sein Ziel, gefunden. Doch eine Kraft zog ihn immer wieder vorwärts, immer weg von jedem noch so scheinbar endgültigem Bild. Er lief und lief. Auf seinem Weg. Er war es ihnen schuldig. Er lief und lief. Alles war Warten. Er wartete. Wann seine Schuld endlich beglichen war. Auch wenn er hoffte, ein Bild, eines der vielen, endlosen, wäre sein Ziel, das Begleichen der Schuld, drängte ihn sein Schuldgefühl immer weiter, immer weiter auf seinem Weg. Bei jedem Versuch von Innehalten, bei jedem Hoffen auf das Ziel, bei jedem vielversprechendem Bild, drückte ihn die Kraft vorwärts. Er starrte auf die Bilder. Er wartete, sein Bart wuchs und wuchs. Sein Bart hinterließ eine Spur hinter ihm, schwarz wie ein Herzschlag. Bei manchen Bildern dachte er, hoffte er, sie wären das Ziel, sein Ziel. Und doch hatte er jede Sekunde, bei jedem Schritt auf seinem Weg, die brennende Gewissheit, dass er sein Ziel nie erreichen würde, nie erreichen könnte. Das wusste er, das glaubte er. Doch er lief und lief, denn stehen bleiben konnte er nicht. Irgendwann, als er älter wurde, als die ersten grauen Haare seinen schwarzen Bart durchzogen, irgendwann gab es Phasen, während der er sich in den Bildern verlor, fast eins mit ihnen wurde. Er merkte fast nicht mehr, dass seine Füße unaufhaltsam, immer zu, einen Schritt vor den anderen setzten, getrieben, beinahe gejagt, von der Schuld. Gleichzeitig wurde er immer langsamer, wenn er sich dem Rausch hingab, dem Rausch der Bilder, der heißen Verlockung. Aber er blieb nicht stehen, niemals. Er lief und lief. Sein Weg hörte niemals auf, die Schuld nicht, das Suchen nicht, das Hoffen nicht, das Warten nicht. Er konnte nichts dafür, und nichts dagegen tun. Das war das einzige, was er wusste, was er glaubte, was er glauben musste, was er glauben konnte. Was er wusste. So lief er und lief und lief. Sein Bart hinterließ eine Spur hinter ihm, von nachtschwarz zu dunkelgrau, schließlich grau. Der niemals endende Weg, er lief und lief. Keines der Bilder war sein Ziel, keines, keines. Auch wenn er es oft verdrängte, betäubte, sich in die Bilder flüchtete, er verlor es nie, dieses Wissen, diesen Glauben. Getrieben von der Schuld, betäubt durch all die Bilder, Farben, lief er und lief. Seine Füße, alles schmerzte. Sein Bart wuchs und wuchs. Er lief. Unaufhaltsam. Unendlich. Die Schuld würde ihn nie zum Ziel drängen, das doch das Loskommen, das Begleichen ebenjener war, dachte er oft, wenn die Bilder dunkel und böse und groß über ihm waren. Das waren sie immer öfter. Er konnte sich nicht mehr in die Bilder flüchten wie früher, er musste dem Rausch entsagen. Spürte seine schmerzenden, schwarz blutenden Füße. Es lag nicht in seiner Macht, diese Bilder zu ändern, nicht in seiner Macht. Nach vielen Jahren, als er sehr alt war und sein Bart schon längst weiß war wie Schnee, weiß wie die heiße Sonne und hinter ihm eine ewige Spur auf dem Weg hinterließ wie Staub seit vielen Jahren, irgendwann schließlich kam er endlich ans Ziel. Den Blick starr auf den Boden gerichtet (die Bilder blendete er inzwischen aus, waren sie im Grunde doch alle nur gleich und weiß), sah er plötzlich vor sich die schwarze Spitze seines Bartes. Er drehte den alten, silbergoldenen Ring am Finger, wie um ein Ventil zu öffnen, als die Gewissheit, dass er sein Ziel erreicht hatte und die Schuld nie beglichen sein würde, ihn überflutete. Er zitterte, alt, grau und weiß, tat den letzten Schritt, schließlich. Sein Fuß berührte die schwarze Spitze seines Bartes, wieder direkt vor ihm. Der Kreis schloss sich. Und mit seinem letzten Atemzug, bevor ihn die Erkenntnis schließlich endgültig ertränkte, dachte er, er hätte den Weg verlassen, das Leben aufgeben, das ewige Laufen und Warten lassen sollen, als sein Bart noch schwarz war und jung. Sein Ring fiel von seiner Hand auf den Weg und rollte, rollte immer weiter.

 

Hallo Nobstu,
herzlich willkommen hierorts!

Symbole für die Wiederkehr des Immergleichen sind Kreis (ohne Anfang und Ende) wie der Ring, der da rollt (oder das Hamsterrad). Der Weg nicht das/die Bild/er ist/sind das Ziel und ggfs. eine Anzahl von kleineren Zielen -

zugleich ein religiöser Tripp, wenn Du Wissen, Glauben, Schuld nennst. Und weil wir nicht wissen, vor welcher Schuld der Läiufer davonläuft, nehmen wir halt die (nur im Christentum) vorkommende Erbsünde, die ja nicht nur bis ins siebente Glied lastet.

Wissen ist an sich Gewissheit, glauben ist nicht wissen und darum ungewiss.

Im ahd. und mhd. (Alt- und Mittelhochdeutsch, das ältere aus den Stammesdialekten im 8. Jh. entstanden) gi-/gelouben

die Goten, jene Stämme, die dank Wulfila bereits seit dem 4. Jh. eine Schrift hatten nannten es gelaubjan (genau so ausgesprochen, wie’s da steht) -
und alles drei bedeutet auch das, was wir da noch herauslesen: geloben (im Holländischen ist es heute noch geloven). Neben dem geloben bedeutete es aber noch “für lieb halten“ und auch gutheißen.
Glaube(n) ist also das, was sich einer wünscht, wie etwa ein ewiges Leben (so seh ich das Laufen als Bild fürs Leben; wir kennen ja auch die bedeutungsschwere Zusammenfassung Lebenslauf).

Wissen dagegen zeigt auch unerwünschte Wahrheiten an.

Insofern eine feine Geschichte, die freilich im Mantra arg lang wird. Und noch etwas (dass muss ich als Läufer und als Träger eines Vollbartes und überhaupt einer längeren Haarpracht auf’m Kopf richtigstellen): trüge ich Barbarossas Bart (d. i. der, der im Kyffhäuser in den steinernen Tisch eingewachsen ist und dem kommt der Deines Protagonisten sehr nah) ich würde auf 20 km tausendmal darüber stolpern. Selbst auf dem Fahrrad ist er ein Verkehrsrisiko: Vorsicht, weniger Speichel als Speichen!

Ob's eine Kurzgeschichte ist, in einem strengeren Sinne sicherlich nicht. Aber wurscht,

gern gelesen vom

Friedel,
der auf Dein nächstes Werk gespannt ist und wann Kafka mal durchscheint!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Nobstu,

Bilder - Laufen - Schuld: Diese drei Begriffe formen Deine Geschichte, Deine Lebensgeschichte: Bilder ohne Thema, laufen ohne Ziel, Schuld ohne Tat. So kann man das Leben sehen. Einzig der Bart verändert sich und beendet dann das Leben.
Der Ring als Symbol der Macht bleibt mir zu vage; er übernimmt schließlich die Rolle, das Rollen des Herrn des Rings. Nur ewige Wiederkehr? Weitere Begriffe kommen herein: Hoffen, Glauben, Wissen. Ich bin mir nicht sicher, ob nicht drei Begriffe für die Grundidee des Rat Race gereicht hätten. Dann wäre die Geschichte auch kürzer und vielleicht prägnanter geworden.

Er lief auf seinem Weg. Er lief und lief und ein Bart wuchs ihm mit der Zeit, ein schwarzer Bart, der immer länger wurde, immer länger, und irgendwann auf den Boden reichte und früher neben, später hinter ihm her schleifte.
Schöner Satz; es gibt manche sprachlich gelungene Stellen, manchmal ist es auch zu viel des Guten. Es gibt zu viele Wiederholungen.
Natürlich erinnert Deine Geschichte an "Die kaiserliche Botschaft“. Diese umfasst 1968 Zeichen deine Geschichte 4661. Wie würde sie mit 2000 Zeichen aussehen?
Für eine recht erfreuliche Lektüre dankt
Wilhelm

 

Hallo Nopstu,

ich lese diesen Text als Parabel über das Gefangensein in der Welt der Formen durch eine unbestimmte Sehnsucht, die die Welt der Formen nicht stillen kann.
Nach unseren Kriterien ist es schon eine Kurzgeschichte. Eine Geschichte, wie man sie Kindern vorlesen oder einem Freund erzählen würde, ist es nicht. Dazu fehlt es dem Protagonisten an Persönlichkeit und der Handlung an Konkretem. Sie zeigt ein Verhaltensmuster und eine Idee.

Der Text ist trotz seiner Kürze äußerlich unzugänglich durch das Fehlen von Absätzen.

Freundliche Grüße,

Berg

 

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