- Beitritt
- 24.04.2003
- Beiträge
- 1.444
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Ein Bild
"Und es ist tatsächlich das, wofür ich es halte?"
René betätigte den Lichtschalter. Die zur Entfeuchtung dienenden Keramikschüsseln voller Reiskörner gaben sich ein optisches Stelldichein mit dem Summen der Klimaanlage, von der Marcus augenblicklich wusste, dass sie perfekter nicht hätte eingestellt sein können.
Wie zur Bestätigung bemerkte René eher beiläufig: "Sechzehn Grad Celsius und fünfundvierzig Prozent Luftfeuchtigkeit. Konstant, das ganze Jahr. Und Sie liegen ganz richtig, es ist das, wofür Sie es halten."
Die Galerie war nicht besonders imposant. Sie wirkte eher wie ein gut in Schuss gehaltener, viel zu steriler Lagerraum. Staffeleien und gerahmte Ölmalereien standen scheinbar systemlos im Raum herum. Manche waren mit Luftpolsterfolie abgedeckt, andere hingegen befanden sich wie achtlos abgelegt mitten im Weg, oder waren schräg vor die riesigen, zugemauerten Fenster hingestellt, als käme ein Spediteur sie jeden Augenblick abholen.
Es sah manisch aus, nicht aber verrückt. Wie ein Chaos, das seine ganz eigene Ordnung besaß.
Marcus sah das Gestell am hintersten Ende des langgezogenen Raumes.
Das Bild darauf war das einzige, das beiden Männern den Rücken zukehrte.
"Man sagt, dass man wahnsinnig wird, wenn man es einmal betrachtet hat."
René nickte. - "Deshalb ist es so aufgestellt, wie es aufgestellt ist."
"Sie haben es nicht gesehen?"
Sein Gastgeber lachte.
"Bin ich hier der Verrückte ... oder aber Sie?"
Marcus machte eine abweisende Geste. - "Ich glaube nicht an solche Schauermärchen, aber das wissen Sie. Darf ich es sehen?"
"Nur zu, dafür sind Sie hier."
Sein Gast zögerte einen Moment, als müsse er noch einmal überlegen, ob er tatsächlich nicht an Märchen glaube. Dann jedoch atmete Marcus tief ein und schritt ohne weitere Anstalten auf das Bild an der Staffelei zu.
Er sah es an und lachte.
"Genau deshalb, mein Lieber, genau deshalb ist der gesamte Grundgedanke Ihrer Sammlung ein Witz. Kommen Sie her, schauen Sie sich diesen Nonsens ... Moment, das ist ja interessant."
Marcus verharrte vor dem Gemälde. Es war schwer zu sagen, ob er nachdachte, oder einfach bloß einen üblen Spaß trieb, indem er so tat, als würde er doch etwas ... er fing zu schreien an.
René wich unwillkürlich einen Schritt zurück, während sein Gast gegen das Gemälde schlug. Der Rahmen kippte nach hinten, und während Marcus weiterhin schrie, und sich mit beiden Händen die Augen blind drückte, erhaschte er nur einen flüchtigen Anblick von dem, was da aufgetragen worden war, vor so langer Zeit.
Er verließ den Raum mit rasendem Herzen und setzte sich auf den Boden.
Quadrate!
Es waren verdammte, schmutzig braune Quadrate auf schwarzem Hintergrund.
Nicht mehr.
Er musste lachen. Was war da los. Es waren nur Quadrate. Quadrate, die irgendwie in den schwarzen Raum dahinter "reinfielen". Es hatte etwas Ewiges. Und da musste er stutzen.
Es existierte kein Anfang und kein Ende, als wenn die Zeichnung sich selbst überlappen, einholen und doch hinterherlaufen würde. Da war keine Einigkeit.
Das störte ihn.
Warum konnte man das nicht abschätzen? Alles verschwand in unsagbarer Tiefe, obwohl die Zeichnung den Rest überlagerte. Das ergab keinen Sinn, und er wollte das nicht sehen.
Schlagartig wurde René bewusst, dass er es auch nicht begreifen wollte, aber er fing an zu begreifen, und es zeichnete sich überdeutlich ab. Eine Möglichkeit, ein Ende ohne Anfang.
Er begann zu schreien, ehe er sich die Augen in den Schädel quetschte.