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Ein Bild von einer Frau
Er trat zurück und ließ sein Auge wohlgefällig über sein Werk streichen. Sie würde begeistert sein. Ein verirrter seitlicher Sonnenstrahl traf, als sei er Teil einer faszinierend arrangierten Effektshow, auf das mysteriös lächelnde Antlitz seiner Traumfrau und hob die Farben noch markanter hervor. Er hatte sie voller Absicht vor einem etwas diffusen, düsteren Hintergrund platziert, ihre Pose lasziv, weltentrückt, nachdenklich. Dabei trotzdem ihr erotisches Flair behaltend, der geschlitzte Rock zufällig soweit geöffnet, um einen neugierig machenden Blick auf die schlanken Fesseln, bis hin zu den wohlproportionierten Oberschenkeln zu gestatten. Das tiefe Dekollete demonstrierte, dass auch die obere Körperhälfte eines jeden Mannes Geschmack gerecht werden würde. In der dunklen Gasse hinter ihr waren die Umrisse zweier dick vermummter Gestalten mehr zu erahnen, denn deutlich zu sehen. Trotzdem entstand ein Eindruck von Kälte und Zwielichtigkeit, über die sie als unangreifbar strahlende Göttin triumphierte. Der Lichtstrahl, es musste ein Reflex von irgendwo draußen sein, wirkte wie ein Punktstrahler, der ausschließlich auf das Gesicht fokussiert war.
„Das blendet.“
„Aber es sieht aus wie ein Heiligenschein.“ Er sagte es sinnierend, ohne sich seines Gesprächspartners bewusst zu sein. „Erst dadurch wirkt mein Werk.“ Er trat einen Schritt zur Seite, um den Blickwinkel zu ändern. „Sie ist eine Heilige. Ich werde einen Punktstrahler installieren müssen.“ Er bewegte sich langsam, ständig die Position seines Kopfes ändernd, vor der Staffelei hin und her und ließ verklärten Blickes das Werk auf sich wirken.
„Hast du was mit den Ohren? E-s - b-l-e-n-d-e-t hab ich gesagt.“ Sie hob eine Hand und legte sie schützend vor ihre Augen. „Mal mir eine Sonnenbrille, dann bleib ich so stehen.“
Er war empört. „Weißt du eigentlich wie viele Stunden, nein, Tage ich gebraucht habe, um dich in genau dieser Pose zu malen? Welche Arbeit es war, dir mit meinem filigransten Pinsel Reflexe auf die Netzhaut zu zaubern? Und du nimmst jetzt deine Hände hoch, verdeckst alles und änderst obendrein auch noch deine Stellung.“
„Na und? Weißt du eigentlich, wie ätzend diese beschissenen, filigran gezauberten Reflexe sich auf meiner Netzhaut anfühlen?“ Ihr Tonfall hatte, ihn imitierend, den gleichen meckerig näselnden Klang angenommen, in den er bei seinen Vorwürfen verfallen war.
„Weißt du, dass diese Pose total unnatürlich ist und ich einen Krampf nach dem nächsten bekommen hab?“ Sie streckte, massierte sich und schüttelte demonstrativ ihre Arme und Beine. Nun waren ihre Beine gar nicht mehr zu sehen.
„Halt, bleib stehen! Nicht bewegen!“ Seine Stimme war verzweifelt, seine Hände, noch immer den Pinsel haltend, wirbelten hilflos durch die Luft. Er war ratlos, wie er dem Treiben seiner Protagonistin Einhalt bieten könnte. „Jetzt sind deine Beine gänzlich bedeckt. Soviel Arbeit - das ich nicht fair.“
„Nicht fair? Gut so, alter Sack! Warum willst du mich auch so aussehen lassen? Nur damit ein paar Spanner soviel von meinem Bein sehen können, dass sie vor lauter Geilheit vergessen deine Schmierereien zu kritisieren?“ Sie lachte kurz und laut auf. „Den Junkies hinter mir gibst du dicke Mäntel und mich stellst du hier in die Eiseskälte, malst mir n Schlitz ins Kleid und legst meine Titten frei. Fuck you, du hirnloser Egozentriker.“
„Was hast du denn für einen Umgangston?“ Er schüttelte den Kopf. „Du sprichst wie eine Hure.“
„Genau so, wie du mich gemalt hast, du Trottel. Jetzt mal mir endlich n Mantel, Dreckskälte hier. Die Sonnenbrille kannst du abhaken, oder haste das schon selber gecheckt?“
Er bemerkte erst jetzt, dass der Sonnenstrahl nicht mehr auf das Bild fiel. „Naja, jetzt ist sowieso alles hinüber, dann kann ich dir auch einen Mantel malen.“ Er resignierte.
„Na also. Dann lass auch noch die Junkies ne Fliege machen, oder mach n paar schnuckelige, geile, gut aussehende Geldsäcke draus.“ Sie grinste, warf ihm eine Kusshand hin und stellte sich in Positur, damit er Hand anlegen könne. Die beiden dunklen Gestalten, eben noch lieblos von ihr als Junkies bezeichnet, empörten sich nicht, sondern traten aus dem Halbdunkel nach vorn und nickten zustimmend.
Er nahm es nur noch am Rande zur Kenntnis, während er sein Ich ablegte und erneut in künstlerische Meditation versank. Diesmal inspiriert und angeleitet von seiner eigenen Schöpfung.
Welch grandioses Zusammenspiel! Welche Verbundenheit! Muse küsst Künstler und Künstler küsst Muse. Alle ordneten sich unter: der Pinsel, die Farben, die Staffelei, die Leinwand, das Licht. Heute wurde es nicht Nacht, heute wurde Nichts, alles blieb so, dass es optimal war. Ein Dialog der Gefühle und Emotionen setzte ein. Wirbelsturm der Wahrheiten. Die Protagonistin schälte sich Schicht für Schicht aus gesellschaftlichen Mustern heraus, legte sie ordentlich zusammen und zur Seite, befreite sich von zugedachten Vorurteilen, sexistischen Schemata, welche gleichfalls geordnet in Schubladen verbracht wurden und entblößte ihr Ego, und er tat es ihr nach.
Nachdem die Sonne zweimal nicht untergegangen war, erklärte sich sein Werk dem Ende nah.
„Nun hast du MICH gemalt und nicht mein Bild. Danke.“ Sie schien glücklich, strich an seiner statt melancholisch über den Pinsel, der gerade den letzten Farbimpuls neben sie auf die Leinwand gebannt hatte und verharrte müde, befriedigt und bewegungslos. Er sank erschöpft zusammen. Es war vollbracht!
Sie stand vor dem Bild, dass er ihr versprochen hatte und sah sich als Mensch. Es war nicht die äußerliche Ähnlichkeit, die berührte. Der hoch geschlossene Kragen, der knielange enge Rock, der schwere Schmuck, darauf bezogen hätte es ein Foto sein können oder ein Spiegel. Es steckte mehr in dem Bild. „Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass ein Bild Seele zeigen kann.“ flüsterte sie und wand sich ihm zu, während die Frau auf dem Bild zustimmend nickte und dem Künstler mysteriös lächelnd ein Augenzwinkern schenkte.