Ein Besuch wird verhindert (ein zweites und letztes Mal Anna und Grete)
Ein Besuch wird verhindert
Ich wollte unbedingt während der letzten Ferientage nochmal bei meiner Freundin Frau Poschitz vorbeischauen, aber es kam nicht mehr dazu. Den Samstag hatte ich mir dafür ausgeguckt, aber schon am Morgen war klar, dass nichts daraus werden konnte. Karl rutschte nämlich im Badezimmer aus und schlug mit dem Mund auf den Rand der Badewanne. Er brüllte furchtbar, und als alle angestürzt kamen, zeigte sich uns ein entsetzlicher Anblick. Karl war blutverschmiert, als wäre er in eine Schlacht gezogen. Papa sah in seinen Mund und entdeckte sofort, dass Karl sich einen Schneidezahn ausgeschlagen hatte. Einen großen, kräftigen und gesunden Schneidezahn. Der Arme hatte schlimme Schmerzen, und Papa machte sich gleich mit ihm auf zur Notfallsprechstunde.
Das alleine hätte schon genügt, um einen merkwürdigen Ferienausklang zu bereiten. Aber dabei blieb es nicht. Ich erzähle aber alles der Reihe nach.
Baus Morgenrunde musste nun ich an Karls Stelle übernehmen. Ich ging mit ihm zum nahegelegenen Bahndamm einer ehemaligen Eisenbahnstrecke und ließ ihn auf den anliegenden abgeernteten Feldern seine Runden rennen. Während ich ihm Stöcke warf, erzählte ich mir den zweiten Teil der traurigen Olaf-Geschichte, die ich mir dieser Tage ausdachte, und war ganz in meine Träumereien versunken, so dass ich gar nicht bemerkte, wie sich jemand näherte. Auf einmal hörte ich ein Kichern, und als ich mich umdrehte, standen Sven und Hakan aus meiner Klasse hinter mir. „Oh Olaf“, äffte mich einer von ihnen prustend nach, „wie langsam du durch das Herbstlaub raschelst!“ Ich wurde rot vor Wut und schrie: „Lasst mich in Ruhe! Was wisst ihr schon davon?!“ Aber die beiden lachten noch lauter und riefen immer wieder: „Oh Olaf! Oh Olaf!“ Ich begann zu rennen, aber sie rannten rufend hinterher. Erst als Baus bellend angesprungen kam, ließen sie mich in Ruhe, und ich rannte den ganzen Feldweg entlang vor ihnen weg, bis ich wieder zur Straße kam und Baus anleinen musste. Nun konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Meine ganze Geschichte hatten sie mir verdorben, und dabei hatte sie mir so viel Freude bereitet. Sie war das Beste und zugleich Traurigste, das ich erfunden hatte.
Als Baus und ich wieder zu Hause ankamen, waren dort noch Mama, Grete und Frieder. Jana machte mit ihrer Freundin einen Stadtbummel. Nun denkt man, nach so einem aufregenden Vormittag käme man zur Ruhe und könnte planen, wie es mit dem Besuch bei Frau Poschitz werden sollte. So aber nicht bei uns. Das nächste passierte Grete. Sie hatte schon eine Weile im Wintergarten gespielt, in dem Mama ihre Pflanzen und Karl seine Vögel hatte, als es Mama auf einmal auffiel, wie verdächtig still es darin geworden war. „Schau doch mal nach, Anna, was Grete so treibt. Ich muss den Frieder wickeln“, sagte sie und ging mit ihm die Treppe hinauf. Ich lief zum Wintergarten, und ehe ich auch nur hingucken konnte, was Grete tat, flog ein Sperlingspapagei dicht an meinem Kopf vorbei. Das war wohl derjenige, der den Anfang tat, und mit einem Mal ging das Geflatter und Geschnatter los. Bis ich reagieren und die Tür zur Voliere schließen konnte, waren fünf Stück entwischt, drehten ihre Runden und landeten zwischendurch in den vielen grünen Pflanzen. Nur ein einziger war auf einem dicken Ast in der Voliere sitzen geblieben und putzte sein Gefieder. Zum Glück flogen sie nicht gegen die großen Glasscheiben, bloß einer, aber – Gott sei’s gelobt und gepfiffen – nur langsam und ein bisschen, so dass ihm nichts passierte. „Oh Grete“, rief ich entsetzt. Die Sperlingspapageien hörten nicht auf zu fliegen; sie flogen auch durch die geöffnete große Flügeltüre ins Wohnzimmer, kreisten um die Deckenlampe. In dem Moment kam Mama mit Frieder auf dem Arm, starrte einen Moment ins Wohnzimmer, sprang dann zum offenen Fenster und verschloss es rasch. Frieder quietschte vor Freude und lachte immer, wenn ein Papagei zu einer neuen Runde ansetzte. Er lachte noch mehr, als knapp neben seinem Kopf ein kleiner Papageienklecks auf den Boden fiel. Sofort machte er sich daran, ihn zu untersuchen, ehe noch jemand herbeispringen konnte. Grete sagte ausnahmsweise mal gar nichts. Sie war wohl sehr erstaunt über all das, was da passierte und was sie gar nicht beabsichtigt hatte. Später erzählte sie, sie habe nur die Sperlingspapageien ein wenig in ihrer Voliere besuchen wollen und wohl vergessen, die Türe hinter sich zu verschließen. Mama hob den Krabbel-Frieder auf, ging ihn waschen und kam nach einer ganzen Weile mit ihm und einem kleinen Vogelkäfig zurück. „Anna“, sagte sie zu mir mit einer Stimme, der man keinesfalls widersprechen konnte, „geh bitte mit deinen Geschwistern raus, während ich nun versuche, diese wildgewordene Vogelmeute wieder einzufangen und in die Voliere zurückzuschaffen.“
Ich nahm also Frieder ins Tragetuch und Grete an die Hand. Wir gingen ein kleines Weilchen zum Spielplatz, bis Frieder unruhig wurde. Als wir wiederkamen, war Mama noch nicht fertig. Zwei Papageien drehten immer noch ihre Runden durch den Wintergarten und das Wohnzimmer, während die übrigen fröhlich kreischend durch die Voliere flogen. Mama war verschwitzt und sah schlecht gelaunt aus. Sie unterbrach ihre Jagd, um Frieder zu stillen. Dann schickte sie uns in die Küche, um eine Kleinigkeit zu essen, und danach wieder nach draußen. Nur Frieder sollte jetzt bei ihr bleiben, denn er würde sicher bald müde. Als Grete und ich gerade das Haus verlassen hatten, sahen wir Papa mit Karl heimkommen. Der arme Karl sah mitgenommen aus, und ich dachte mir, dass er selber wohl gerade nicht in der Lage war, wilde Papageien einzufangen, es aber wohl sicher nicht lassen könnte, selber für seine Lieblinge zu sorgen. Also sagte ich zu Papa und Karl, Mama wolle ihre Ruhe haben. Papa sah etwas verwundert aus, aber ich sah ihn beschwörend an. In dem Moment kam auch Jana mit ihrer Freundin angelaufen. „Nun, meine lieben Kinderlein“, sagte Papa nach einigem Überlegen, „dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als irgendwo einzukehren.“ Es wurde dann doch noch eine Freude, als wir im Innenhofes eines kleinen Restaurantes saßen und so lecker aßen. Nur Karl hatte Pech, er mochte noch nichts essen, obwohl er nun wieder durfte, sondern nur Saft mit einem Strohhalm trinken. Davon bekam er freilich vier Gläser voll!
Zu Frau Poschitz schaffte ich es an diesem Samstag nicht mehr zu gehen. Als wir aber nach Hause kamen, waren alle Papageien, wo sie hingehörten, und erst jetzt wurde Karl von dem Malheur berichtet. Wir saßen gemeinsam im Garten und abwechselnd lachten wir über die Geschichte und bedauerten Karl, der nun einen künstlichen Zahn bekommen sollte. Nur die Sache mit dem traurigen Olaf erzählte ich niemandem.
Das war unser vorletzter Tag in den Sommerferien.