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Ein besserer Mensch
ein besserer Mensch
Ein besserer Mensch
Der folgende Zeitungsartikel erschien in der Weltrundschau am 13. 6. 2301 auf Seite 3. Er ist Teil einer wöchentlichen Serie, die sich mit dem Thema beschäftigt, ob sich der Mensch zum besseren gewandelt hat.
Besser Realist als Optimist
Die Zukunft ist zur Gegenwart geworden. Die blaue Erde ist vollständig von einem System aus insektenartigen Raumstationen umschlossen. Dies ist notwendig geworden, weil an der Grenze zwischen All und Atmosphäre einerseits die Strahlung aus dem All abgefangen und andererseits von dort aus die Luft mit frischen Sauerstoff versetzt werden muss. Ohne diese künstlichen Eingriffe wäre die einst blühende Mutter Erde eine überlebensfeindliche Wüste. Katastrophen-Propheten und Apokalypse-Apostel des ausgehenden 20sten und anfangenden 21. Jahrhunderts hätten recht behalten, wäre der Mensch weiter der Mensch geblieben, welcher er in dieser Zeit zu sein schien. Andere meinen, die Menschen sind damals, heute und in allen Zeiten gleich: anpassungsfähig.
Doch bei allem zynischem Pragmatismus ist nicht von der Hand zu weisen, wie viel sich verändert hat. Das unaufhaltsam wachsende Ozonenloch, industrielle Verunreinigungen und Sauerstoffknappheit in der Atmosphäre haben den Menschen die Überlebensfrage gestellt. Gut drei Jahrhunderte lang ignorierte die Menschheit die Frage weitgehend, doch im letzten Jahr, als die Frage nicht mehr zu überhören war, fanden die Menschen eine vielschichtige Antwort.
Das vergangene Jahr hat dem Planeten nicht nur ein neues Antlitz gegeben, auch die Menschen haben sich gewandelt. Der Überlebenskampf hat sie zusammen geschweißt. Ein neuer, gemeinschaftlicher Geist ist entstanden. Alle zogen und ziehen bedingungslos an einem Strang, um die drohende Ausrottung zu verhindern. Man hat gelernt, dass die Tatkraft des Gegenübers das eigene Leben retten helfen kann. Anders gesagt muss man den Gegenüber unterstützen, damit dieser einem hilft, am Leben zu bleiben.
Solche Denkansätze gab es schon immer in der Menschheitsgeschichte, doch fanden sie nie in das Handeln der Masse der Menschen. Im Großen und Ganzen blieben es Theorien. Nun hat die Wanderung am Abgrund die Menschen dazu gezwungen die Augen zu öffnen. Die Erfahrungen des letzten Jahres haben sich jedem tief ins Bewusstsein eingeprägt und sind auch in den Alltag eingedrungen. Wir gehen anders miteinander um als noch vor einem Jahr.
Damit kann man wohl sagen, dass das letzte Jahr das wichtigste für die gesamte Menschheitsgeschichte seit ihrer Entstehung war. In den letzten 12 Monaten wurden die Fehler von 350 Jahren Umweltverschmutzung eingedämmt und mit der überlebensnotwendigen Bewusstseinsänderung haben die aggressiven, rücksichtslosen und letztlich so zerstörerisch wirkenden Elemente der gewinnorientierten Leistungsgesellschaft den Boden in der Seele der Menschen verloren.
Gut 350 Jahre lang beherrschten wirtschaftliche und politische Interessen das Handeln der Menschen. Umweltschutz wurde meist als wirtschaftlicher Kostenfaktor betrachtet. Zwar hat es niemals an Konferenzen, Beschlüssen und Proklamationen gemangelt, doch war es zu keiner Zeit möglich eine weltweite Übereinkunft in solchen Fragen zu erzielen. Das hat dazu geführt, dass der kollektive Wirtschaftswahn den Umweltbeschlüssen Einhalt geboten hat.
Heute fragt man sich, warum kein Land oder Ländergemeinschaft einen Alleingang wagte. Die Antwort ist denkbar einfach. Die wirtschaftlichen Nachteile der Nationalstaaten, welche von Klima- und Umweltschutz drohenden, hielt jede Regierung von konsequenten Maßnahmen ab. Seit der völligen Öffnung der Grenzen und Deregulierung aller Märkte, hingen Standortentscheidungen der Konzerne hauptsächlich von den politischen Rahmendaten ab. Dies führte zu einem ruinösen globalen Wettbewerb der Länder um Investitionen. Der Fehler lag im Demokratischen System und zweier einfacher Wirkungszusammenhänge:
1. Wirtschaftliche Not, bringt keine Wählerstimmen.
2. Umweltschutz hemmt das Wirtschaftswachstum.
Auch wenn der negative Zusammenhang zwischen konsequenter Umweltpolitik und prosperierender Wirtschaft von so manchem Wissenschaftler bestritten wurde, blieb er in den Köpfen der Politiker hängen. Er bestimmte die politische Realität. Besonders wegen der Ausprägung des demokratischen Systems. Es gab nur noch Berufspolitiker. Wenn ein Berufspolitiker nicht wiedergewählt wird, bedeutet das für ihn quasi seinen Job zu verlieren. Also macht er so gut wie alles um im Parlament zu bleiben. Er wird wiedergewählt, wenn es den Wählern wirtschaftlich gut geht. Folglich versucht jeder Politiker die Wirtschaft anzukurbeln. Und da in den Köpfen steckte, dass Umweltschutz das Wirtschaftswachstum bremst, sägten die wenigsten Politiker an dem Ast auf dem sie saßen. Schließlich hat die Vergangenheit bewiesen, dass es zu wenige Idealisten unter der Berufspolitikerkaste gab. Zu wenige sind die Gefahr eingegangen, ihre Karriere einer ökologisch richtigen Entscheidung zu opfern.
Doch plötzlich waren alle Interessenabwägungen und Kalküle einzelner Gruppen und Länder bedeutungslos. Vor nun fast genau 12 Monaten und 3 Wochen veränderte sich die Interessenlage jedes einzelnen Menschen, ob es nun Moslem, Christ, Afrikaner, Eskimo, Kind oder Oma war, dramatisch. Das Klima schlug um. Wie ein verunreinigter Teich plötzlich umkippt, hatten die Belastungen einen Punkt erreicht, an dem alles sehr schnell geht. Der Sauerstoff ging aus und die Ozonschicht wurde täglich dünner. Es blieb nicht viel Zeit zum Handeln. Der amerikanische Präsident beschrieb die Situation in einer Fernsehansprache mit den Worten: „ Now it´s do or die!“
Damit lag der Herr Präsident nicht ganz richtig. In seiner typisch großspurigen Art verhehlte er die Tatsachen. Es war schnell klar, dass es leicht zu „do and die“ kommen kann. Die Lage war brutal. Der Abgrund nah. Ein totales Armageddon wahrscheinlich.
Blinder patriotisch angehauchter Cowboyaktionismus war hier völlig überfordert. Es waren gemeinschaftliche, weltweite und umsichtige Situationsanalysen und Lösungen gefragt. Nicht das Herkunftsland, Geldbeutel, Geschlecht oder Hautfarbe waren wichtig. Für derlei Eitelkeiten und Machtspielchen hatte man keine Zeit. Man griff auf die in der Vergangenheit stiefmütterlich behandelten weltweiten Organisationen zurück und begann sich von Idee zu Idee, von Vorschlag zu Vorschlag zu hangeln. Die Welt rückte eng zusammen und tat ihr Möglichstes.
Man schaffte es.
Die Menschheit bewies einmal mehr, was sie bewegen kann. Diese kleinen Zeilen hier sind nicht weniger als ein Wunder! Kurz und schlicht wie sie sein mögen, wenn hier „das Leben geht weiter“ steht, ist diese Aussage so existentialistisch wie das Leben selbst. Wir leben. Wir denken.
Ist es nicht eine zynische und bezeichnende Ironie des Schicksal, dass keine Außerirdischen oder unverschuldete Naturkatastrophen wie Meteoriteneinschläge und Vulkanausbrüche das menschliche Dasein gefährdeten, sondern allein er selbst? Derjenige der keine Feinde hat, sein eigener Feind wird?! Und ist es darüber hinaus nicht ebenso bizarr, welche übermenschlichen Energie und heilende Schaffenskraft dieses zerstörerische Wesen „Mensch“ hervorbringt, steht es buchstäblich mit einem Bein im Grab?
Und nun? Wie geht es weiter mit uns? Unter dem Eindruck der Ereignisse hat sich der Mensch und seine Umwelt gewandelt. Die Frage ist, was bedeutet das für die Zukunft? Wer kann schon sagen, wie sich die Geschichte und die Menschen weiter entwickeln werden. Sicher wird so kurz nach der beinahe entgültigen Auslöschung jeglichen Lebens auf diesem Planeten, in jedem Parlament, jedem Konzern, jeder Universität, Schule, Stammtisch und sogar im Kindergarten von Nachhaltigkeit und Verantwortungsbewusstsein gesprochen. Aber ist nicht auch das wieder typisch menschlich? Wir Menschen haben die Gabe der Reflektion. Wir wissen, dass die letzten 12 Monate etwas verändert haben. Dennoch oder gerade deswegen gucken wir in den Spiegel und erkennen noch mehr über uns.
Wer hätte je nach einem grausamen Krieg damit gerechnet wenige Jahre später erneut Millionen sich gegenseitig umbringen zu sehen? Oder wer hätte nach einem lebensbedrohlichen Störfall in Atomkraftwerken damit gerechnet, dass nach einer gewissen Zeit wieder alle Welt auf diese Energiequelle setzt? Wer hätte gedacht, dass es nach dem dritten Reich erneut zu rassistischen Mehrheitsregierungen in demokratischen Parlamenten kommen würde? Niemand hätte darauf gewettet, dass sich nach der Zerschlagung der Weltbeherrschenden Konzerne 2064, so schnell wieder neue Multikonzerne bilden!
Wir wissen, es sind Zweifel angebracht, ob das letzte Jahr die Menschen tatsächlich und nachdrücklich zum Besseren verändert hat. Wir wissen das und weil wir das wissen, besteht die Chance wirklich bessere Menschen zu werden. Wie immer wird es nicht leicht werden die egoistischen Seiten in uns zu unterdrücken und wie immer hängt der Erflog von jedem einzelnen ab. Wenigstens haben wir uns eine zweite Chance ermöglicht.