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Ein besonderes Weihnachtsgeschenk
Die Wolken hingen tief und es hatte den ganzen Vormittag geschneit. Im nahen Park waren die Bäume weiß gepudert und die Geräte auf dem Spielplatz hielten Winterschlaf. Philipp konnte seine Spuren auf dem Gehweg im sonst so unberührten Schnee sehen, bis hinunter zur Kreuzung. Dort waren es mehr Spuren gewesen und seine Schritte waren viel ausladender, weil er gerannt war. Wie der Teufel war er gerannt.
Er ging durch die Pforte auf die Haustür zu. Mama hatte einen Kranz aus Tannenzweigen daran gehängt, mit roten Schleifen und Glitzerbändern. Sie mochte Weihnachten, wenn alles festlich aussah und im Radio Weihnachtslieder gespielt wurden. Dass seine Mama noch nicht zuhause war, wusste er. Nicht nur, weil keine Spuren im Schnee waren. Sie arbeitete immer lange.
Philipp wusste auch, dass es für sie nicht leicht war, hier im neuen Ort in Norddeutschland und seit Papa nicht mehr da war.
Trotzdem war sie immer gut drauf und immer für ihn da. Er hatte aber auch einmal beobachtet, wie sie ihr Gesicht in den Händen verborgen hatte und weinte. Sie wusste nicht, dass er es gesehen hatte.
Philipp ging hinauf in sein Zimmer, packte den Schulranzen aus, um sich an die Hausaufgaben zu machen. Ein Verschluss war kaputt. Er war schon die ganze Woche kaputt, seit Henning dran gerissen hatte und er gestürzt war. „He, Bazi, jodle doch mal“, hatte Henning gerufen, als er lachend über ihm stand und Stephan und Jan hatten dabei einen Tanz aufgeführt, wie sie es sich vorstellten, wie man ihn in Bayern tanzt und sie hatten dabei gelacht und ihn mit den Schuhen angestupst und auch getreten.
Irgendwann hatte ein Lehrer mal gefragt, ob er etwas hätte. „Philipp, du bist immer so still.“
Was sollte er da sagen, was er hatte? Henning hatte ihn dabei die ganze Zeit angegrinst und Philipp konnte sich vorstellen, was passieren würde, wenn er gesagt hätte: „Henning und seine Freunde sind gemein zu mir und die anderen lachen dann immer nur.“
Ganz tief in seinen Gedanken wusste er, dass er etwas sagen musste, dass es das einzig Richtige war, aber er fürchtete, dass Mama noch trauriger wäre, weil es ihm nicht gut ging. Er wollte warten, bis nach Weihnachten.
Es war schon recht spät, als unten die Tür ging und Mama seinen Namen rief. Gleich darauf stand sie in seinem Zimmer, noch mit Mantel an und den Schal in der Hand strahlte sie ihn an.
„Na, mein Großer, bist du fleißig und immer noch bei den Hausaufgaben?“
Sie beugte sich hinunter und drückte ihn. Ihre langen Haare umhüllten ihn und sie roch so schön. In solchen Momenten fühlte er sich geborgen. Dann gab sie ihm einen Kuss auf die Wange.
„Magst du Döner Kebab? Ich hab` welchen mitgebracht. Kochen schaff` ich heute einfach nicht mehr. Komm` dann bitte gleich runter, OK?“
Morgens war es immer besonders schlimm, denn da hatte er noch alles vor sich.
Philipp ging ganz früh zur Schule, noch bevor alle anderen da waren, und er sicher war, auf dem Weg niemandem zu begegnen. In der Schule ging er dann eine Etage höher und wartete dort bis kurz vor Unterrichtsbeginn. Henning kam an dem Tag fünf Minuten zu spät. Er polterte in die Klasse, ignorierte den Tadel von Frau Friedrichs, rammte Philipp im Vorübergehen und ließ sich auf seinen Stuhl fallen.
Aber den Rest des Tages verhielt Henning sich seltsam unauffällig, sogar in den Pausen. Dann stand er mit Jan und Stephan zusammen. Hin und wieder schaute mal einer von ihnen herüber und grinste.
In der letzten Stunde hatten sie Chorprobe. Die Weihnachtsferien standen bevor und eine Weihnachtsfeier sollte es auch noch geben. Philipp wollte eigentlich nicht in den Chor, aber Henning, Jan und Stephan hatten keine guten Singstimmen und so waren sie nicht dabei. Außerdem würde Philipp ihnen dann auf dem Heimweg nicht begegnen und das war ihm sehr lieb.
Als er dann endlich die Schule verließ war er allein. Am Vormittag hatte es wieder geschneit und weil es kalt war, waren die Flocken klein und zart. Die Sonne verbarg sich hinter dichten Wolkenschleiern, schaffte es aber doch irgendwie durch wohl winzige Lücken ihr Licht auf die Erde zu schicken, sodass alles ein wenig schimmerte. Es hatte etwas Märchenhaftes.
Wie er so dahin ging dachte er an Weihnachten und an seine Mama und dass sie oft traurig war und auch daran, wie schön es um diese Zeit in den Bergen war.
Philipp bog an der Kreuzung in die Straße ein, in der sie wohnten. Auch hier war die Straße verlassen und wieder waren seine Schritte die ersten, die sich in den unberührten Schnee drückten.
Alles war friedlich und still, bis … ein Schneeklumpen an seinem Nacken zerplatzte. Philipp drehte sich um und da wurde er vor die Brust getroffen. Ein Weiterer zerschellte am Bund seiner Mütze direkt über dem rechten Auge. Philipp schirmte sein Gesicht mit den Händen ab, wollte rennen, wurde aber sofort am Ranzen zurück gerissen und landete rücklings im Schnee.
„Na Bazi, hattest du Jodelunterricht?“
Henning stand über ihm und gleichzeitig hatte ihn Jan mit einem Schneeball am Ohr getroffen.
„He, guckt mal, der Bazi hat da was abgekriegt. Ich glaube, wir müssen das mal abwaschen.“
Alle Drei warfen sich auf ihn, rissen ihm die Mütze vom Kopf und rieben ihn mit Schnee ein, dass er kaum noch Luft bekam. Überall Schnee, in den Haaren, im Gesicht, im Nacken, unter seiner Jacke, bis den Rücken hinunter.
Dann ließen sie urplötzlich von ihm ab, sahen auf ihn hinunter, brachen in schallendes Gelächter aus und liefen brüllend und juchzend davon.
Nie hatte Philipp sich mehr gewünscht, groß zu sein, größer als Henning und seine Freunde. Muskeln müsste er haben und er würde es ihnen zeigen.
Stattdessen saß er am Boden, im aufgewühlten Schnee und weinte.
“Philipp, Philipp“ kam eine tiefe und warme Stimme von irgendwo her. „So kann das doch nicht weitergehen!“
Philipp sah erschrocken hoch, konnte zunächst aber niemanden sehen. Erst als er sich aufrichtete, Tränen und den Rest Schnee von den Augen wischte, da erkannte er auf der anderen Seite der Straße einen alten Mann, der auf einer Parkbank saß. Er war vorher noch nicht da gewesen, das wusste Philipp. Er musste also gerade gekommen sein, als die Drei über ihn hergefallen waren. Vielleicht hatten sie ihn gesehen und sind deshalb weggelaufen.
Der Mann war alt, wohl sogar älter als Philipps Opa. Er trug eine dicke, graue Wetterjacke, derbe Hosen und auf dem Kopf eine graue Schirmmütze aus Wollstoff. Weil der Mann einen dichten Bart hatte, konnte Philipp nicht sehen, ob er lächelte, aber seine Augen glitzerten freundlich.
Philipp war so erstaunt, dass er nur noch kurz schluchzte und der Drang zu weinen plötzlich ganz weg war.
Komm her, Philipp.“ sagte der Mann mit ruhiger Stimme und machte eine einladende Geste auf den Platz neben sich.
Philipp stand auf, putzte sich den Schnee ab, so gut es eben ging und blieb vor dem Mann in einem gehörigen Abstand stehen. Seine Mutter hatte oft mit ihm darüber gesprochen, wie vorsichtig er bei Fremden sein solle. Näher wollte er nicht an den Mann heran.
Der lächelte, nickte anerkennend und sagte nur: „Gut so, du machst es richtig. Wir können uns auch so unterhalten.“
Der Mann lehnte sich zurück, zog seine Handschuhe aus und faltete die Hände.
„Weißt du, ich denke, es ist nicht das Problem, dass du nicht groß und stark bist.“
„Aber was ist es dann?“ Philipp wurde in seiner Verzweiflung lauter und Tränen schimmerten wieder in seinen Augen. Ganz schwach stahl sich die Frage in seine Gedanken, woher der Mann wohl wusste, was er gedacht hatte.
„Schau mal“ sagte der Alte und deutete die Straße hinunter, auf der ein kleines Mädchen näherkam. Ihr Skianzug war rosa, genau wie ihre Pudelmütze und darauf wippte ein großer, weißer Bommel hin und her. Als sie heran war, strahlte sie Philipp an: „Schau mal, ich habe einen neuen Schlitten bekommen.“
Philipp trat an das Mädchen heran, ging in die Hocke und besah sich den Schlitten genauer. „Der ist wirklich toll! Da vorne.“ Er deutete auf zwei Kufen. „Damit kannst du lenken und hier,“ er tippte auf einen seitlichen Hebel. „Hiermit kannst du bremsen.“ Das Mädchen strahlte und Philipp strahlte fast genauso. „Das ist wirklich ein großartiger Flitzer.“, sagte er. „Mit dem wirst du viel Spaß haben.“
Das Mädchen schwang sich gleich auf den Sitz und bat: „Kannst du mir einen Schubs geben? Aber bitte ganz doll!“
„Ich gebe mir Mühe.“ lachte Philipp, packte den Schlitten von hinten, brachte sich in Position und gab Schwung, so sehr er konnte. Wunderbar glitt der Schlitten die Straße hinunter. Das Mädchen juchzte vor Freude, lenkte an der Kreuzung um die Kurve und war verschwunden.
Laut lachend sah Philipp ihr nach.
Der alte Mann hatte alles beobachtet, nickte vor sich hin und deutete in die andere Richtung.
Philipp wandte sich um und sah, wie eine alte Frau die Straße entlangkam. Sie bewegte sich langsam und man konnte erkennen, dass ihr das Gehen im Schnee Mühe bereitete. An einer Hand zog sie einen kleinen Trolley hinter sich her, vollgepackt mit den Einkäufen. Sie war fast auf gleicher Höhe mit Philipp, als der Handkarren im Schnee aus dem Gleichgewicht geriet, umkippte und der größte Teil des Einkaufs auf die Straße fiel.
Entsetzt starrte die Frau auf ihre Waren, die im nassen Schnee lagen. Mit einer Hand versuchte sie ihren Karren zu halten, gleichzeitig aber ihr Gut einzusammeln, was aber nicht gelingen konnte, denn sie war alt und ungelenk und manches schien ihr auch Schmerzen zu bereiten.
Philipp war sofort bei ihr. Schnell griff er ein Teil nach dem anderen, wischte Schnee und Nässe ab und legte es so vorsichtig in den Trolley zurück, dass alles gut verstaut war.
Mit glänzenden Augen und warmem Lächeln sah die Frau ihn an. „Du bist ein guter Junge. Mir wäre es doch sehr schwer gefallen.“
Philipp wurde fast ein bisschen rot vor Verlegenheit. „Soll ich Ihnen noch … “
Die Frau unterbrach ihn. „Das ist lieb von dir, aber weiter schaffe ich es schon. So viel ich eben noch kann, mache ich noch selbst. Ich danke dir und wünsche dir ein schönes Weihnachtsfest, mein Junge.“
Mit diesen Worten machte sie sich auf und schlurfte davon und Philipp schaute nachdenklich.
„Philipp, Philipp, was du machst gefällt mir wirklich gut.“
Für einen Moment hatte Philipp den alten Mann vergessen, der noch immer auf der Bank saß und alles mit großem Interesse verfolgt hatte.
„Es sah so aus, als hättest du mit der alten Frau Mitleid. Habe ich recht?“
Philipp nickte stumm.
„Und das Mädchen, … hast du dich gefreut, dass sie so viel Spaß mit ihrem Schlitten hatte?“
Wieder nickte Philipp. „Und ob, sie hat ja so laut gelacht und war total begeistert.“
„Tja,“ sagte der Alte. „Das nennt man Mitgefühl. Es bedeutet, dass du genauso Freude, wie auch Leid der anderen Menschen mitfühlen kannst. Und genau das ist es, was den drei Rüpeln fehlt. Sie wissen nicht, wie sich die Anderen fühlen, wenn sie ihren üblen Schabernack treiben. Und ganz sicher können sie sich auch nicht für andere freuen, einfach so, weil es schön ist, oder wenn sie jemandem einen Gefallen tun.
Ja, Mitgefühl. Mit anderen mitfühlen. Es wäre doch toll, wenn Mitgefühl ansteckend wäre. Was meinst du?“
Bedächtig erhob er sich von der Bank und trat vor Philipp, der gerade ein paar Schritte zurückweichen wollte, es aber doch nicht tat, weil er direkt vor einem Haus Herrn Steffens, einen Nachbarn sah. Der winkte ihm zu und Philipp winkte kurz zurück.
Der alte Mann klatsche seine Hände zusammen, rieb sie kurz und heftig aneinander und legte sie Philipp dann auf die Schultern.
Und da, in diesem Moment durchströmte ihn ein so großartiges Wohlgefühl, wie er es zuvor noch nie gespürt hatte. Ein warmes Kribbeln ließ ihn erzittern und breitete sich von den Schultern, über den ganzen Rücken aus. Dann entspannte es ihn und schenkte ihm zugleich tiefe Geborgenheit.
Wie lange der Mann ihn so hielt, hätte er danach nicht sagen können. Philipp spürte nur, dass das Kribbeln irgendwann nachließ und er sich fühlte, als wäre er aus einem tiefen, wunderbaren Schlaf erwacht.
Philipp sah sich um. Er stand ganz allein. Der alte Mann war fort.
Inzwischen hatte es aufgehört zu schneien. Die Wolken waren aufgerissen und die Sonne ließ den Schnee weiß strahlen.
Philipp war verwirrt, denn alles, was in den vergangenen Minuten geschehen war, war so seltsam.
Schließlich nahm er seinen Schulranzen auf und schlenderte zur Pforte vor seinem Haus.
Dort blieb kurz stehen und sah sich noch einmal um. In der Ferne erkannte er den alten Mann, der wie zum Gruß einen Arm hob und sich immer weiter entfernte.
Philipp blickte zurück, in die andere Richtung, dort, wo die Bank stand. Die Bank war weiß und unberührt mit Schnee bedeckt und auf der Straße konnte er nur seine eigenen Spuren erkennen.
Am Tag darauf gaben Henning, Stephan und Jan sich wieder zunächst ruhig und ließen Philipp in Ruhe. Nur einmal machte Stephan eine Geste, so, als hätte er etwas in der Hand und würde es zu Philipp werfen. Dabei sahen sie zu ihm hinüber und kicherten.
Am nächsten Tag sollte die große Weihnachtsfeier stattfinden, darum musste Philipp nach dem Unterricht zur letzten Chorprobe in die Aula. Er packte seine Schulsachen extra schnell zusammen, damit er noch vor den Dreien die Klasse verlassen konnte. Aber leider wollten alle Kinder schnell nach Hause und so kam es an der Tür zu Drängeleien. Philipp kam aber trotzdem gut durch. Er rannte den Flur entlang, bog um die Ecke zur Treppe und traf mit aller Wucht auf etwas Mächtiges und Weiches. Philipp prallte zurück, verlor das Gleichgewicht und landete schmerzhaft auf dem Hosenboden.
„Na, Philipp, wo willst du denn so schnell hin?“ Herr Jacobs war groß und dick und Philipps Deutschlehrer. Außerdem war er sehr nett.
„Zur Chorprobe“, stammelte Philipp. Er ergriff zögernd die dargereichte Hand und ließ sich von Herrn Jacobs wieder auf die Beine ziehen.
„Na, wenn du mit der gleichen Energie deine Stimme einsetzt,“ lachte Herr Jacobs, „dann wirst du wohl einen richtig tollen Auftritt haben.“
„Ich werde mir Mühe geben“ rief Philipp und stürmte weiter die Treppe hinauf. Er hatte Zeit verloren und musste sich noch mehr beeilen. Er lief den Gang entlang und hatte die Tür zur Aula fast erreicht, da kamen Henning, Jan und Stephan angerannt und bauten sich vor ihm auf.
Der Zusammenstoß mit Herrn Jacobs hatte ihn zu viel Zeit gekostet und nun hatten sie ihn.
„He, Jodelkönig, warte doch mal.“ Philipp wollte an ihnen vorbei, doch sie versperrten ihm den Weg. “Du wirst es nicht glauben, aber wir haben uns was richtig Schönes für dich ausgedacht.“ Jan stand vor ihm und bewegte Hände und Arme so, als würde er dirigieren und sprach in einem albernen Singsang: „Wie wäre es, wenn du nach jeder Liedstrophe einen Jodler singst? Nur für uns!“ Dabei brachen die Drei in schallendes Gelächter aus.
Philipp sah sich um. Niemand war auf dem Flur, niemand dem er sich anschließen könnte um einfach wegzugehen.
„Also Bazi, wie ist es? Willst du das für deine besten Freunde tun?“
Henning trat einen Schritt auf Philipp zu. Sein Blick war triumphierend und böse. „Wenn nicht, dann ...,“
Blitzschnell hatte er Philipp im Schwitzkasten. Auch Jan packte zu und drehte ihm im selben Moment einen Arm auf den Rücken und … und dann geschah etwas Seltsames: Dort, wo sie ihn berührten, spürte Philipp ein eigenartig strömendes Kribbeln ganz deutlich auf der Haut. Es tat nicht weh, sondern war sogar sehr angenehm und warm. Philipp merkte aber auch, dass Henning und Jan zu zittern anfingen. Der Schwitzkasten wurde nicht stärker und der Arm auch nicht weiter verdreht, aber alles hielt so wohl einige Sekunden an, die seltsam still waren und in denen niemand etwas sagte. Aber dann lösten sich urplötzlich die Griffe und Henning und Jan stolperten ein paar Schritte zurück. Fassungslos starrten sie Philipp an.
„He, was ist los? rief Stephan, weil er nicht verstand, was da gerade passiert war. „Jodelt er nun, oder was?“
Mit diesen Worten packte er Philipp am Nacken, wollte ihn niederdrücken und auch er spürte genau da das seltsame, warme Kribbeln. Auch Stephan rührte sich zunächst nicht, zitterte und stolperte ebenfalls zurück.
Drei Augenpaare starrten Philipp an und in ihren Blicken war etwas Neues: Keine Bosheit, keine Verschlagenheit, sondern eher so was wie Scham und große Betroffenheit.
Schließlich hob Henning wortlos eine Hand, so, als wollte er etwas sagen, brachte aber nichts heraus.
Dann, urplötzlich, machten sie wie auf ein Kommando kehrt und stürmten die Treppe hinunter und aus dem Haus heraus.
Auf dem Flur herrschte Stille. Nur ein paar leise Geräusche und Stimmen von weit entfernten Kindern waren zu hören. Auch Philipp stand da und auch er verstand nicht, was da gerade passiert war.
Gedankenverloren trat er an die Tür zur Aula und ging hinein.
Es war der Sonnabendnachmittag, als Philipp und seine Mutter gemeinsam zur Schule gingen. Die Aula war wunderschön geschmückt, die Bühne umkränzt mit Girlanden und überall glitzerten von den Schülern gebastelte Sterne. Alle Kinder waren mit ihren Eltern gekommen. Philipps Mutter hatte Glück und bekam sogar noch einen Platz in der ersten Reihe. Er selbst verschwand gleich auf der Bühne hinter dem Vorhang, wo der gesamte Chor hinter der Krippe Aufstellung nahm. Je mehr sich die Aula füllte, umso lauter wurde das Raunen der Zuschauer. Als dann schließlich der Schulleiter vor die Gäste trat, herrschte sofort Stille. Nach ein paar Begrüßungsworten hob sich schließlich der Vorhang, der Chor sang ein Lied und die Weihnachtsgeschichte wurde aufgeführt.
Viele Klassen hatten etwas eingeübt und fast jeder Beitrag endete mit einem Lied und oft sangen die Zuschauer sogar mit.
Als zum Abschluss die letzten Stimmen von „Oh du Fröhliche“ verklangen, setzte ein rasender Applaus ein. Die Menschen standen von ihren Sitzen auf und klatschten, bis ihre Hände heiß wurden.
Auch Philipps Mutter klatschte aber in ihrem Lächeln war deutlich ein Schmerz zu sehen, wohl deshalb, weil es früher noch schöner war, in der alten Heimat, als sie alle noch zusammen waren.
Gerade als Philipp sich anschickte von der Bühne zu steigen, schweifte sein Blick über die Menschen und traf die letzte Reihe im Zuschauerraum.
Ganz hinten saßen sie: Die alte Frau, der er auf der Straße die Einkäufe aufgelesen hatte, das kleine Mädchen, dem er mit dem Schlitten half und schließlich der alte Mann, der draußen auf der Parkbank gesessen hatte. Der sah jetzt gar nicht mehr grau aus. Sein Bart war weiß, sein Mantel rot, wie auch die Mütze, die auf seinem Schoß lag. Die schwarzen Stiefel blank poliert. Alle Drei lachten und winkten ihm zu und Philipp war einfach nur glücklich. Gerade als er eine Hand hob um zurück zu winken, lenkte ihn eine plötzliche Berührung ab. Mutter war bei ihm und nahm ihn sofort in die Arme und da kam es wieder, das Kribbeln und diesmal sogar stärker. „Puh“, sagte sie, „was war das?“ Mit großen Augen sah sie ihn an und da war keine Traurigkeit mehr, nur ungetrübte Freude. „Es war wunderbar.“, raunte sie, nahm Philips Gesicht in beide Hände und drückte ihm einen schnellen Kuss mitten auf die Nase. Als Philipp sich schließlich aus der Umarmung löste und auf die letzte Zuschauerreihe deuten wollte, waren die Plätze leer.
Gerne hätte er Mutter die Drei gezeigt und ihr jetzt alles erzählt.
Schließlich verließen sie mit all den Anderen die Aula und traten den Heimweg an.
Die Sonne war längst untergegangen und es hatte wieder geschneit. Sterne waren nicht zu sehen, aber die Straßenlaternen zauberten wieder ein wunderbares, weißes Glitzern auf den Schnee. Philipp lächelte und dachte `so ist Weihnachten`.
Plötzlich hörten sie hinter sich ein leises, „He.“
Als sie sich umsahen, standen da Henning, Jan und Stephan, mit unsicheren Mienen.
„Nichts für ungut.“, sagte Jan leise und als Philipp lächelnd die Hand hob schlug Jan ein und darauf auch Henning und Stephan und gerade bei diesen Berührungen spürten alle ganz kurz wieder das seltsame, aber angenehme Kribbeln, das der alte Mann ihnen geschenkt hatte.
„Frohe Weihnachten.“ rief Stephan, wobei die Drei sich umwandten und lachend davon stürmten.
„Freunde von dir?“, fragte Mutter.
„Vielleicht.“, sagte Philipp. „Eigentlich ein besonderes Weihnachtsgeschenk.“ Und er begann zu erzählen, was er erlebt hatte.