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Ein besonderes Buch

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30.08.2003
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Ein besonderes Buch

Oma ist tot. Regen klopft an ihr Wohnzimmerfenster. Ein Schwalbenschwarm fliegt über die Dächer gegen Süden zu und meine Erinnerungen an Omas letzte Geschichte fliegen mit.

Ich wippe im Schaukelstuhl, in dem sie früher fast den ganzen Tag verbracht hatte. Noch vor einigen Wochen sass ich ihr im Wohnzimmer zu Füssen und lauschte den Geschichten aus dem schlichten, titellosen, hellbraunen Buch. So auch, an Omas letztem Tag.
Damals war sie besonders müde und hatte den Blick häufig in die Ferne gerichtet. Aus Angst, sie könnte krank werden, nahm ich meine rote Wolldecke und wickelte sie ihr vorsichtig um die Beine. Oma lächelte mich an, strich mir zärtlich übers Haar und sagte: „Du hast ein reiches Herz“. Kurze Zeit später verlor sich ihr Blick wieder in der Ferne. Lange betrachtete ich sie und fühlte wie sehr ich sie, durch die vielen gemeinsamen Momente, liebgewonnen hatte. Ich wollte sie schlafen lassen, und ging leise hinaus. Gerade als ich die Türe hinter mir schliessen wollte, hörte ich Grossmutter rufen: „Sophia, die Geschichte...“. Es dauerte nicht lange und ich sass zu ihren Füssen, Oma schlug ihr Buch auf und begann zu erzählen. Aufmerksam hörte ich zu. Kaum war ich eingetaucht war Oma verstummt. Sie schaute zum Fenster hinaus, in die Ferne. Ich folgte ihrem Blick und sah einen Schwalbenschwarm über die Dächer gegen Süden fliegen. Als ich mich ihr wieder zuwandte, war sie eingeschlafen. Auf den Zehenspitzen schlich ich hinaus.

Eine Stunde später atmete sie nicht mehr. Erschrocken ergriff ich ihre noch warme Hand und redete verzweifelt auf sie ein. Doch ohne Erfolg. Mit tränenüberströmtem Gesicht riss ich meine Jacke vom Haken und lief so schnell wie ich konnte nach Hause.

Ich sehe mich in Omas Wohnzimmer um. Alles steht noch an seinem Platz. Meine rote Wolldecke liegt auf dem Schaukelstuhl. Ich fröstle und wickle sie mir um die Beine. In den Händen halte ich ihr hellbraunes Buch. Grossmutter hat mir verboten es vor ihrem Tod zu öffnen. „Du würdest die Geschichten vertreiben“, sagte sie, sobald ich neugierig darauf blickte. Sorgfältig streiche ich den feinen Staub vom Deckel und öffne zögernd das Buch. Ich sehe Oma vor mir, rieche den Duft ihres Parfums und höre ihre Stimme in den Ohren. Die Seiten sind leer. Erstaunt und verwirrt schliesse ich das Buch und schaue zum Fenster hinaus.

„Du würdest die Geschichten vertreiben“, höre ich abermals Grossmutters ermahnende Stimme. Was sie wohl damit gemeint hat, frage ich mich. Es kann doch nicht sein, dass dieses Buch leer ist. Ich öffne es abermals und suche vergebens Seite für Seite nach einem Zeichen von Omas Geschichten. Als ich fast am Ende des Buches angelangt bin sehe ich auf einmal -Oma. Sie schläft friedlich in ihrem Schaukelstuhl. In ihren Händen liegt das hellbraune Buch und ich, sitze neben ihr. Im nächsten Bild erhebe ich mich und gehe hinaus. Nachdem ich die Türe hinter mir geschlossen habe, öffnet Oma die Augen, blickt nachdenklich zum Fenster hinaus und stirbt.
Ich bin am Ende des Buches angelangt und beginne langsam zu begreifen, was ich soeben gesehen habe: Omas letzte Minuten, das Ende ihrer Lebensgeschichte, welches sie mir nicht selbst erzählen konnte. Nachdenklich blicke ich auf ihr Buch in meinen Händen, ein Buch, das einem erlaubt, das eigene Leben zur Geschichte zu machen.

Regen peitscht ans Wohnzimmerfenster. Ein Schwalbenschwarm fliegt über die Dächer gegen Süden zu und meine Erinnerungen an ihre letzte Geschichte fliegen mit. Auf und davon.

 

Die beschriebene Stimmung, also die Unwetterbeschreibung hat mir sehr gefallen. Man steht tatsächlich am Fenster und freut sich darauf, gleich in einem guten Buch weiter zu lesen. Ja und dann Abschied nehmen in der Wohnung, bevor entrümpelt wird. Die Stimmungen und Ideen gefallen mir. Doch werde ich as Gefühl nicht los, dass du zu was Längerem angesetzt hast und es am Ende gekürzt hast. Deine Sprache und deine Bilder gefallen mir aber gut.

Gruß

-S-

 

Liebes Sternlein,

ich fand deine Geschichte atmosphärisch sehr gut geschildert. Die Idee gefällt mir, sie regt zum Nachdenken an. Deswegen finde ich deine Geschichte auch in der Rubrik Philosophisches passend.

Ich finde sie auch nicht zu kurz, das Wesentliche ist erzählt.
Ich freue mich schon auf weitere Geschichten von dir.

Marion

 

Hallo sternlein,

Deine Geschichte fängt die Stimmung der Szene und die Gefühlswelt der Protagonistin in treffenden Worten ein.
„glaube den Blick meiner Grossmutter auf dem Rücken zu spüren“ - das ist schön gesagt, die Andeutung von einem schlechten Gewissen und die Verbundenheit mit der Großmutter.
Warum hat die Großmutter nicht gewollt, dass ihre Enkelin das Buch liest? Ich vermute, um der Erzählerin gewissermaßen posthum das Geschenk der Erinnerung zu machen. Doch warum hat sie es selbst `gelesen´? Wahrscheinlich um ihrer Fantasie ohne Vorlage freien Lauf lassen zu können.(Warum war dies so wichtig für sie?).
Trotz aller Sympathie für den Text finde ich ihn nicht besonders philosophisch, aber doch ein wenig, weil es der Großmutter gelingt, ein kleines Zeichen über ihren Tod hinaus zu setzen.

Noch eine Kleinigkeit:
„Lange Zeit habe ich auf diesen Zeitpunkt gewartet“ - Die Wiederholung von „Zeit“ ist unnötig, Lange habe ich ...

Tschüß... Woltochinon

 

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