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Ein besonderer Stempel
Sandy lag oben im Etagenbett - ihr Lieblingsplatz in jeder Jugendherberge- und blätterte in dem kleinen blauen Heft mit den Stempeln, der letzte, ein verblasstes, hellblaues Schiff entführte sie zu einem vergessenen Schulausflug. Vor ein paar Tagen hatte sie das Heft wiedergefunden und war gespannt, was für einen Stempel sie hier bekommen würde - der erste nach zwölf stempellosen Jahren.
Sie kuschelte sich tiefer unter die Decke, am liebsten würde sie schlafen. Es war erst halb acht und wenigstens am letzten Tag wollte sie etwas von Dresden sehen. Zumindest etwas anderes als den Aktsaal der Kunstakademie, worin sie seit vier Tagen von morgens bis abends geprüft wurde. Sandy war in der letzten Runde, noch ein Gespräch, gleich morgen um zehn, dann war es vorbei, sie fürchtete sich schon jetzt vor den abwartenden, kritischen Blicken der Professoren. Ein bisschen Ablenkung würde ihr gut tun.
Im Aufenthaltsraum surrte der Fernseher, auf den alle gebannt starrten.
Sie wunderte sich, wie man in einer fremden Stadt fernsehen konnte, wenn es draußen viel zu entdecken gab. Alle Tische waren belegt, bis auf einen, dort saß ein rothaariger Mann Ende zwanzig und las, unbeeindruckt vom Lärm um ihn herum. Sandy fragte ihn, ob sie sich setzen dürfe, er schwieg. Doch in seinen überraschend hellgrauen Augen lag ein Lächeln. Er nahm für sie seine Tasche vom Stuhl und wandte sich wieder seinem Roman zu, etwas unentschlossen, wie Sandy fand, und sie hoffte, dass er nicht weiterlas. Der Titel war englisch und sie betrachtete seine sommersprossigen Hände, während er umblätterte. Beim Lesen fielen ihm seine Locken ins Gesicht, prächtige Locken, und in diesem Wust von Haaren hätte sie das kleine Hörgerät fast nicht entdeckt. Das konnte heiter werden, sie sprach kaum Englisch und er war schwerhörig.
Ihr Herz begann schneller zu klopfen, als er sie unverwandt anschaute. Er hatte ihre studierenden Blicke bemerkt und Sandy lief es heiß den Rücken hinunter. „I ´m Dan“, sagte er nur und als wolle er ihre Ängste widerlegen, waren sie bald in ein kleines Gespräch vertieft, ein holpriges Gespräch, das sich größtenteils um Dans dreimonatige Chinareise drehte und seinen Europatrip, den er gerade anschloss. Sandy fand, dass Dan nicht wie ein Weltenbummler aussah, vor allem war er so blass, als hätte er die letzten Monate im Haus verbracht. Sie mochte seine Blässe und es gefiel ihr, ihm zu zuhören, auch wenn sie nicht alles verstand. Das lenkte von ihr ab. Sie hatte keine Lust, Dan ihren Namen zu nennen, seinem verwunderten Blick zu begegnen und ihm erklären zu müssen, warum sie Sandy hieß und trotzdem kaum Englisch konnte. Wie sollte er verstehen, dass in ihrer Straße fast alle Mädchen Cindy oder Vicky oder Jenny hießen, weil ihre Mütter nur so ihr Fernweh hatten befriedigen können, damals im Rostock Mitte der Achtziger.
Sandy bemerkte nicht, dass es einen weiteren Zuhörer gab. Erst als ihr eine Vokabel nicht einfallen wollte, hörte sie hinter sich das Wort, nachdem sie verzweifelt gesucht hatte. Da stand der große Dunkelhaarige, der ihr schon die ganze Woche aufgefallen war, und lehnte sich über ihre Schulter.
„Na, ihr beiden", sagte er, „habt ihr Lust auf einen kleinen Ausflug, ihr seht aus, als ob ihr von Dresden noch nichts gesehen habt!“ Sandy schaute Dan fragend an, doch der erschien begeistert, obwohl er kaum verstanden haben konnte, worum es ging.
Kurz darauf saßen sie in einem ausrangierten Taxi und Kay, so hieß der andere, blühte in der Rolle des Fremdenführers auf, die ihm vertrauter war als Sandy vorher angenommen hätte. Sie wusste nicht, ob sie sich freuen oder ärgern sollte. Ein Abend mit Dan allein hätte ihr besser gefallen, andererseits war ein Dolmetscher praktisch, und Kay war nicht nur witzig, sondern kannte sich auch hervorragend in Dresden aus.
Von der Semperoper ging es zum Zwinger, von dort zum blauen Wunder und Kay schloss an das übliche Touristenprogramm noch ein paar Besonderheiten an, von denen er annahm, dass sie einer zukünftigen Kunststudentin besonders gefallen könnten. Irgendwie hatte er herausgefunden, dass Sandy zur Aufnahmeprüfung in der Akademie eingeladen worden war und sagte zu Dan, was für ein fabulous artist Sandy doch sei, dabei hatte er bisher keine ihrer Arbeiten gesehen.
Jenseits der Elbe parkten sie den Wagen in Oberloschwitz, eine Villa stand in gehörigem Abstand zur nächsten und in einem Garten säumten winzige Laternen einen geheimnisvollen Pfad; Kay sah, dass Sandy kaum widerstehen konnte, in den Garten einzubrechen und half ihr über den Zaun. „Komm, ma Belle“, flüsterte er in ihr Ohr und nahm galant ihre Hand. Seine war angenehm warm und trocken und Sandy genoss seine Nähe, vor allem den heimlichen Besuch in diesem Zaubergarten. Wohin der Weg führte? Verstohlen sah sie sich nach Dan um, der ihnen zögerlich folgte. Der Weg führte steil abwärts, zunächst durch den Garten, später durch ein Wäldchen und dann direkt zum Wasser. Dort am Elbufer war es dämmrig, auf der anderen Seite glitzerte die Silhouette aus Brühlscher Terrasse und Semperoper und es kam Sandy vor, als ob im Aktsaal der Akademie noch Licht brannte, die gläserne Haube darüber, die Zitronenpresse leuchtete fahl in der Dunkelheit. Ob dort beraten wurde, wer am nächsten Tag weiterkommen würde?
Es gefiel ihr, dass Kay ihre Hand noch hielt, als sie auf dem Uferweg waren, aber noch lieber würde sie mit Dan so entlang spazieren, im hohen Gras, Schwärme von Glühwürmchen um sie herum und sie überlegte gerade, was Glühwürmchen auf Englisch hieß, als Kay ihr wieder zuvor kam und Dan auf die Fireflies hinwies. Sandy sah Dan lächeln, seine Zähne leuchteten im Dämmerlicht, hier am Wasser war es noch heller, und obwohl er lächelte, schien es Sandy, dass er verletzt wirkte.
In dem Hinterhofcafé in der Dresdner Neustadt, wo sie sich eine Flasche Wein teilten, wirkte er einsilbig. Später, auf der Hinterbank im Auto rückte er von ihr ab.
Vielleicht hatte er sich ausgeschlossen gefühlt. Vom Gelächter, von der flirtenden Vertrautheit zwischen Sandy und Kay.
In der Jugendherberge schlug Kay vor, den Abend noch etwas ausklingen zu lassen. Während er zu seinem Zimmer eilte, um eine weitere Flasche zu besorgen, stieg Dan wortlos die Treppe hinauf. Sandy folgte ihm, griff besänftigend nach seiner Hand, die sich im Gegensatz zu Kays kühl anfühlte und sie war froh, dass Dan sie nicht zurückzog. Im Gegenteil, es schien, als hätte er den ganzen Abend darauf gewartet, dass sie über seinen Handrücken strich und mit einer Leidenschaft, die sie nicht in ihm vermutet hatte, zog er sie an sich. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, ihre Knie wurden weich, so weich, dass sie nicht wusste, wie sie die Treppe hoch kommen sollte. Doch Dan legte seinen Arm sanft um ihre Taille und half ihr behutsam hoch.
Oben zog Dan sie zu der Tischtennisplatte, die ausgeklappt im Flur stand und schien alle Schüchternheit vergessen zu haben. Er stellte sich vor Sandy, drängte sich zwischen ihre Beine und sie spürte das Holz der Platte hart in ihrem Rücken; sie fragte sich, ob die Platte zusammenbrechen konnte, auch war ihr Dan zu draufgängerisch - und was war mit Kay ?- , doch als Dan sie küsste, waren seine Lippen zart und öffneten vorsichtig ihren Mund. Verspielt drängte seine Zunge tiefer und forderte ihre zum Spiel auf, während seine Hände nach ihrer Brüsten suchten. Als er abrupt aufhörte, befürchtete Sandy, dass er enttäuscht war, denn ihre Brüste waren klein, aber Dan hatte nur nach seiner Jacke gegriffen, um es ihr bequemer zu machen.
Obwohl sie sich nur küssten, fing Dan stark an zu schwitzen. Große Tropfen fielen von seiner Stirn hinab, bei jedem anderen Mann hätte es sie gestört, aber bei Dan waren es reine Wassertropfen, klar und unschuldig, sie wusste, dass ihre Freundinnen bei dieser Vorstellung laut loslachen würden, aber ihr gefiel es, das war fast so intim, als würde er in ihr kommen.
Aus der unteren Etage hörten sie Schritte und ein Rufen. Kay suchte nach ihnen, wollte aber nicht das ganze Haus aufwecken. Sandy musste ein leises Lachen unterdrücken und hoffte, dass Kay nicht auf die Idee kam, hier oben nach ihnen zu suchen. Eigentlich musste er sie längst gehört haben, Dans leises Stöhnen, ihr Flüstern. Sandy kam Kays Rufen halbherzig vor, vielleicht wollte er seine Neugier überspielen und darüber hinwegtäuschen, dass er wusste, was sie taten.
Sie taten nicht einmal, was er annahm. Sandy wollte die wunderbaren, noch zerbrechlichen Momente mit Dan nicht unterbrechen, nur um in der dämmrigen Jugendherberge nach einem Kondomautomat zu suchen. Und Dan hatte auch keine dabei , was sie in gewisser Hinsicht beruhigte, gehörte er nicht zu den Jungs, die stets ein zerknittertes Päckchen bei sich trugen - " für alle Fälle".
Sie küssten sich nur, was ihr im tiefsten Inneren viel mehr gefiel, konnte sie Dan so langsamer kennen lernen. Im - wie sie fand - schönsten Kuss hörten sie auf und versprachen sich am nächsten Morgen beim Frühstück zu sehen, ihr erstes und letztes gemeinsames Frühstück, ein frühes Frühstück, Dan wollte nach Hause fahren, über Brüssel, weiter ans Meer und später die Fähre nach England nehmen.
Sandys Herz wurde bei dem Gedanken schwer und als sie später im Bett lag, dachte sie an Dan, an ihre Küsse, an den Abend, sogar etwas an Kay und an die Länder, die Dan gesehen, die er ohne sie bereist hatte und eine ihr bis dahin unbekannte Eifersucht stieg nagend in ihr auf bei der Phantasie, welche Mädchen Dan überall kennen gelernt haben mochte. Dabei war sie nicht einmal seine Freundin.
Am nächsten Morgen stieg Sandy mit klopfendem Herzen die Treppe zum Frühstückssaal hinunter.
Wie würde Dan reagieren, würde er den Abend bereuen?
Das konnte sie sich nicht vorstellen, doch als sie den Raum betrat, sah sie, dass er leer war. Die anderen Gäste schliefen noch.
War Dan schon zum Bahnhof geeilt? Er war ängstlich, das war ihr aufgefallen. Vielleicht wollte er eine Stunde früher dort sein. Sandy wunderte sich, dass Dan so schüchtern, so unsicher war, obwohl er die halbe Welt bereist hatte. Es rührte sie und sie vermisste ihn mehr als gedacht.
Sie nahm sich ein Brötchen und kaute darauf herum, während sie zu ihrem Zimmer zurückeilte, ihren Rucksack nahm und unten in der Rezeption auscheckte. „Na, so überstürzt heute?“, neckte die Angestellte Sandy, als sie ihr das Stempelheft überreichte. Die Frau war vielleicht fünfunddreißig, eine Brünette, die Kay auffällig ähnlich sah - wie eine ältere Schwester - und ihr Lächeln war zunächst freundlich, vertiefte sich jedoch zu einem übertriebenen, wissenden Grinsen, als wüsste sie etwas über Sandy, das diese nicht wusste - so wie Schüler über Frühstücksflecken auf dem Pullover ihres Lehrers lachen.
Im Bahnhof wartete Sandy an Dans Gleis, ihre Hände fingen immer mehr an zu schwitzen, er hatte noch zwei Minuten, dann würde der Zug ohne ihn losfahren. Und das tat er auch. Sandy sah die Lichter des Zugs langsam verschwinden.
Hatte Dan einen früheren Zug gewählt, um sich weder in der Jugendherberge noch hier von ihr verabschieden zu müssen?
Sandys Herz fing an zu klopfen, vor Aufregung, vor Sehnsucht, später vor enttäuschter Sehnsucht, schließlich vor Wut.
Dan hatte sich aus ihrem Leben gestohlen!
Ihr wurde kalt. Wie hatte sie sich so in ihm täuschen können?
Jetzt war sie froh, nicht mit ihm geschlafen zu haben, obwohl sie es sich so sehr gewünscht hatte. Dieser Schuft! Wegen ihm verpasste sie möglicherweise ihre Prüfung in der Hochschule, den letzten Teil, das mündliche Gespräch, nachdem sich alles entscheiden würde.
Sandy schaffte es gerade noch rechtzeitig in der Akademie aufzutauchen. Die Professoren hielten sie für cool, aber sie war einfach nur abwesend und dachte nur an Dan. Und als die Ergebnisse später verkündet wurden, hätte ihr Herz vor Aufregung klopfen müssen und später jubilieren, denn sie gehörte zu den Glücklichen, aber da tat sich nichts.
Weinend saß sie nachmittags im Zug nach Hause und um sich abzulenken, schaute sie in das Stempelbuch. Da waren die Stempel von einigen Klassenausflügen, hellblaue, rosafarbene, graue. Der mit dem Schiff und dann kamen lauter leere Seiten. Enttäuscht wollte sie das Heft in ihren Rucksack stecken, als sie auf einer der letzten Seiten etwas durchschimmern sah.
Aufgeregt schlug sie die Seite auf und da war er, ihr lang ersehnter Stempel, ihr Zwölfjahresstempel, ihr Dresden-Stempel, und daneben ein großes Herz wie von einem Kinderstempel und darunter in zarter Handschrift „Willkommen in Dresden, ma belle“. Sandys Herz hüpfte, so weit es in ihrer jetzigen Stimmung hüpfen konnte und sie lächelte bei der Vorstellung, wie Kay das Büchlein aus der Rezeption „entwendet“ hatte. Wie war ihm das gelungen? Und sie bekam ein schlechtes Gewissen, dass sie ihn gestern mit seiner Flasche Wein hatten sitzen lassen. Während sie und Dan miteinander beschäftigt gewesen waren - so nannte sie das, was zwischen ihnen vorgefallen war, inzwischen -, hatte Kay in seinem Bett gelegen, wahrscheinlich hatte er sich einfach voll laufen lassen. So hatten sie ihm den schönen Abend gedankt. Und wieso verdiente sie von ihm solch eine nette Geste? Warum war er so lieb? Vielleicht war er nicht selbstlos, sondern etwas verknallt! Damit hätte sie bei Kay nie gerechnet! Sie fühlte sich von seinem kleinem Stempelgruß getröstet, mehr als sie gedacht hatte. Sie konnte wieder etwas lächeln und dachte an den vorherigen Abend. An den Spaziergang am Elbufer, später der Besuch in der Neustädter Kneipe, da war sie noch glücklich, aufgekratzt, genoss die Gesellschaft gleich zweier Männer, einer unterschiedlicher, einer reizvoller als der andere und doch hatte sie sich mehr zu Dan hingezogen gefühlt.
Vielleicht war das der Fehler gewesen. Und Kay wäre doch die bessere Wahl gewesen! Er war unkomplizierter, witziger, sah sogar besser aus. Sandy wusste, dass ihre Gedanken nicht nur oberflächlich klangen, sondern auch oberflächlich waren. Aber sie lenkten ab, trösteten zumindest für Momente - sie musste Dan vergessen. Zumindest bis sie wieder zu Hause war, in der vertrauttröstlichen Umgebung ihrer WG und sich ihrem Schmerz ungehindert, unbeobachtet von neugierigen Fremden hingeben konnte.
Und sie hätte noch länger über Kays Vorzüge nachgedacht, wenn ihr nicht plötzlich aufgefallen wäre, dass sich der Umschlag des Buches auf einer Seite dicker anfühlte. Das war ihr am Morgen nicht aufgefallen. Da hatte sie nur schnell zum Bahnhof kommen wollen. Doch jetzt zog sie das Vorsatzpapier vorsichtig aus dem Plastikumschlag, vielleicht lag dahinter ein vergessener Geldschein?
Ihr Herz sprang ihr fast aus der Brust, als sie sah, dass darin ein winziger, zusammengefalteter Zettel steckte. „To the girl with the little english“ stand in flüchtiger Schrift darauf, in großen, unbeholfenen Buchstaben. Warum hatte er einen Zettel hinterlassen? Warum nicht im Frühstückssaal mit ihr gesprochen? Doch sie konnte darüber nicht weiter nachdenken, nicht jetzt, sie wollte nur noch weiterlesen.
Ihre Hände waren so zittrig, dass sie kaum das Papier auseinander falten konnte. Es war ein einfaches Stück Rechenkästchenpapier, schnell aus einem Kalender gerissen. Ihr Herz klopfte, wie es noch nie geklopft hatte, ein Sturmklopfen war das – Dan, ihr süßer Dan, ihr schüchterner, unbeholfener, geliebter, schöner Dan hatte ihr tatsächlich eine Nachricht hinterlassen!
Ihre Wangen glühten, als sie las, was er ihr geschrieben hatte. Der Vorschlag einer Verabredung. An den Bahngleisen. Eine Liebesbotschaft! Und jemand hatte sie versteckt! Und nur Kay konnte ihr diesen Streich gespielt haben. Sein gestempeltes Herz kam ihr plötzlich kindisch vor. Und sie ahnte, wie Kay an ihr Büchlein gekommen war. Sie dachte an seine verblüffende Ähnlichkeit mit der Angestellten, die ihr vorher nie aufgefallen war. Und als kleiner Bruder hatte er natürlich ungehinderten Zugang zu allen Dingen in der Rezeption.
Aber warum hatte er Dans Zettel nicht einfach verschwinden lassen?
Vielleicht wollte er, dass sie litt, dass sie ebenso sehr leiden musste, wie er die Nacht zuvor, als er vor dem Geflüster und Gelächter in der Nähe der Tischtennisplatte in sein Bett geflüchtet war, einsam, enttäuscht und traurig.
Und wenn sie, Sandy, es nicht so eilig gehabt hatte, hätte sie das Briefchen früher entdeckt. Früher - als es noch nicht zu spät war.
In der früh, am Mittag, selbst am späten Nachmittag war es noch nicht zu spät gewesen.
Aber sie hatte sich ihrer Wut hingeben müssen, später ihren Tränen.
Sie kannte nicht einmal Dans Adresse. Nicht einmal seinen Nachnamen!
Und während sie jetzt im Zug nach Hamburg saß, wartete Dan sehnsüchtig auf einem fernen Gleis, weit weg von ihr, zunehmend verzweifelt, zunehmend enttäuschter.
Er war noch in Dresden! Nicht früher hatte er fahren wollen, sondern später!
Er hatte mit ihr den Nachtzug nehmen, mit ihr nach Brüssel reisen wollen und sie wagte nicht daran zu denken, wohin er noch mit ihr hatte fahren wollen, vielleicht sogar nach Hause - nach England. Und sie saß im Zug fest. In diesem schnellen, ratternden Gefängnis, das sie immer weiter, immer unwiderbringlicher von ihm entfernte. Zum Umkehren längst zu spät.
Vielleicht hatte die Angestellte, Kays Schwester (etwas anderes als seine Schwester konnte sie nicht sein!) ein Einsehen und würde Sandy Dans Adresse verraten.
Wenn nicht sie es gewesen war, die Dans Briefchen versteckt hatte, fiel Sandy ein. Vielleicht hatte nicht Kay ihr den Streich gespielt, sondern seine große Schwester! Aus schwesterlichem Trost, aus schwesterlicher Rache.
Vielleicht war alles anders.
Alles einfacher.
Und Sandy würde Dans Namen erfahren.
Und vielleicht gab es dann einen dreizehnten Stempel.
Ein sehnsüchtiges, blassblaues Schiff nach England.