Ein Bericht aus dem Leben einer Sünderin
Ein Bericht aus dem Leben einer Sünderin
1
Ein strahlend blauer Himmel, an dem kaum eine Wolke zu sehen ist, und das fröhliche Zwitschern von Vögeln, das aus weiter Ferne zu uns herüber dringt ...
Es ist ein schöner sonniger Tag, wie wir ihn normalerweise nur aus Filmen und in unserer Phantasie kennen.
Wir sehen Wiesen, die in allen Farben leuchten ... gelb, grün, sogar blau.
Die Landschaft ist aus ihrem langen Schlaf erwacht und strahlt Lebensfreude und Optimismus aus, dem wir uns kaum entziehen können.
Es ist Frühling. Genauer gesagt der 5. Mai und wir befinden uns in dem kleinen Dörfchen Rosenheim. Eigentlich ist der Name unwichtig, es ist ein Dorf wie Tausende andere in Deutschland auf.
700 Einwohner fristen hier ihr konservatives, mehr oder weniger eintöniges, wenn auch zufriedenstellendes Leben.
Die größte Berühmtheit, die dieses Dorf je hervorgebracht hat ist ein Politiker, der es fast in den Landtag geschafft hätte. Wie gesagt nur fast, aber die Zeitungen hatten über ihn geschrieben und in Rosenheim (wie auch in jeden anderen Dörfern dieser Größenordnung) lesen mehr als 80% der Einwohner allmorgendlich ihre Tageszeitung, die den wenig phantasiereichen aber weitverbreiteten Namen DER EXPRESS trägt.
Was gibt es sonst noch über Rosenheim zu berichten? Nichts! Sie können sich sicher sein, dass wir das Wichtigste bereits in wenigen Sätzen kennen gelernt haben.
Aber dieses Dorf interessiert uns nicht (wie bereits gesagt unterscheidet es sich in den wesentlichen Dingen nicht sehr von anderen Dörfern), wir folgen einem kleinen Mädchen, dass sich auf seinem Rad gerade abstrampelt, damit es rechtzeitig zum Essen zu Hause ist.
Ihr weg ist nicht mehr weit, aber die Zeit läuft gnadenlos gegen sie, und sie weiß, was sie erwartet, wenn sie zu spät kommt.
Ihr Name ist Marie, und wir können uns sicher sein, dass sie auf ihrer Schule mindestens genauso bekannt ist, wie der Politiker, der es fast in den Landtag geschafft hätte. Aber anders als der Politiker ist sie wenig erfreut darüber.
Sie ist dick (nicht zu dick, aber auch nicht normal gebaut) und deshalb trägt sie auch an diesem heißen Frühlingstag einen Pullover (sie schämt sich wegen ihrer Figur, aber noch mehr schämt sie sich wegen ihrer Brustansätze, die für ihr Alter schon sehr ausgeprägt sind) und sie ist außer Atem. Das Fahrradfahren strengt sie an.
Sie hat langes braunes Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden ist, ihre Mutter will es so.
Marie biegt von einer kleinen Nebenstraße auf einen holprigen Feldweg ein. Das Haus indem sie zusammen mit ihrer Mutter lebt, liegt etwas außerhalb von Rosenheim, und die Zufahrt ist nicht geteert. Sie rauscht an riesengroßen Eichen vorbei, und allerhand Gestrüpp, bis sie endlich das alte Haus sieht.
Auf uns macht es schon aus dieser Entfernung einen baufälligen, trostlosen Eindruck, und manche von uns würden bei der Vorstellung ein solches Gemäuer zu bewohnen erschrecken.
Ob wir wollen oder nicht, zusammen mit dem zwölf jährigen Mädchen auf seinem Rad nähern wir uns ihm.
Marie hält einige Meter vor dem Haus, steigt ab und lehnt das Fahrrad an den Stamm eines Baumes, der für uns einen noch bedrohlicheren Eindruck macht, als Maries zu Hause.
Schnellen Schrittes legt sie die Entfernung zur Haustür zurück. Aus ihrer Hosentasche holt sie den Schlüssel hervor (neben der Tür ist zwar eine Klingel angebracht, aber sie funktioniert schon seit Jahren nicht mehr; muss sie auch nicht, denn Familie Schechter bekommt schon lange keinen Besuch mehr) und steckt ihn ins Schloss, das krächzende Geräusche von sich gibt, als wolle es sich dagegen wehren geöffnet zu werden.
Marie schnaubt vor sich hin, und in ihren Augen können wir etwas erkennen, dass mehr ist, als einfache Angst oder Furcht. Das passende Wort ist Verzweiflung.
2
„Was hat das zu bedeuten?“ Fragt ihre Mutter sie mit scharfen Ton in ihrer Stimme.
Die beiden befinden sich in Maries Zimmer. Es ist ein enger Raum, indem sich nichts anderes befindet, als ein saubergemachtes Bett und ein Monster von einem Kleiderschrank. Über dem Bett, die halbe kahle Wand einnehmend, hängt über allem wachend ein Holzkreuz, an dem Jesus schwacher Körper genagelt ist. Dieses Kreuz erzeugt in uns Assoziationen, die es uns unmöglich machen uns hier wohl zu fühlen.
Die Vorstellung unter dem Kreuz schlafen zu müssen ist für uns unerträglich. Eher würden wir freiwillig eine Nacht auf dem Friedhof verbringen.
Das Kreuz zeigt uns jede einzelne Pein, die der Erlöser ertragen musste, und wird für uns ein Symbol des Schmerzes nicht der Hoffnung.
„Antworte mir gefälligst, unnützes Ding!“ Schreit die kräftige Frau, deren Gesicht schon mit tiefen Falten überzogen ist, ihre Tochter, die mit gesenktem Kopf auf dem Bett sitzt.
In der Hand hält die Mutter eine Zeitschrift, auf deren Titelseite wir das Wort BRAVO lesen können.
Mit zitternden Händen durchblättert die Frau die Zeitschrift, bis sie gefunden hat, was sie sucht. Das Bild eines entblößten Jungen, dessen Scham deutlich zu erkennen ist. Sie starrt es entsetzt an und wir sehen Tränen in ihren Augen. Tränen der Wut.
Noch ehe wir richtig wahrgenommen haben, dass sich das Gesicht von Maries Mutter in dunkelrot verfärbt, fliegt die Zeitschrift quer durchs Zimmer und landet schließlich vor Maries Füßen.
„Ich habe versagt,“ sagt die Frau, die auf die fünfzig zugeht, „Ich habe versucht dich nach den Geboten des Herrn zu erziehen. Ich habe versucht dich von den Teufeln fernzuhalten und ihrer sündigen Schriften, aber ich habe versagt.“
Ihre Wut steigert sich, sie ballt die Hände zu Fäusten und wir ahnen, was gleich passieren wird. „Meine Tochter, mein eigenes Fleisch und Blut ist eine Hure geworden. Der Satan hat von ihr Besitz ergriffen und sie hat es zugelassen wie eine läufige Hündin.“
Mit großen Schritten nähert sie sich ihrer Tochter und nun wissen wir, warum wir Verzweiflung in den Augen des schüchternen Mädchens gesehen haben.
Die Mutter holt aus und trifft Marie mitten im Gesicht. Der Kopf des kleinen Mädchens wird nach hinten geworfen und erschrocken stellen wir fest, das ein kleines Rinnsaal Blut aus ihrer Nase läuft. Tropfen fallen auf das Bettlaken und hinterlassen rote Flecken.
Die Mutter fällt zu Boden, faltet ihre knochigen Finger und senkt den Kopf.
Ihre Lippen bewegen sich. Sie bittet den Herrn um Verzeihung dafür, dass ihre Tochter ein Miststück geworden ist. In dieser Position bleibt sie verharren. Wir können es nicht genauso sagen, aber es kommt uns wie eine Ewigkeit vor.
Dann steht sie endlich wieder auf. Marie hat die ganze Zeit still dagesessen und keinen Ton herausgebracht. Wir wissen, dass es besser so ist.
Die Augen ihrer Mutter haben nichts an dem Hass eingebüßt, die sie zuvor versprüht hatten.
„Ich habe den Herrn angefleht dich nicht wie eine Sünderin zu bestrafen. Ich weiß es nicht, aber ich glaube es ist noch nicht zu spät deine Seele vom Fegefeuer fernzuhalten.“
Sie packt ihre Tochter am Kragen und reißt sie förmlich hinter sich her. Sie verlassen das Zimmer und wir mit ihnen. Zu gern würden wir uns jetzt verabschieden, um einen gemütlicheren Ort zu besuchen, aber wir fühlen uns verbunden mit dem Mädchen, haben zu ihr sogar schon Simphatie entwickelt und wollen sie in dieser Situation nicht alleine lassen (vielleicht sind wir aber einfach nur neugierig).
Marie wird durch einen Flur geführt an dessen Wänden die Bilder Heiliger angebracht sind. Die meisten Gemälde zeigen die Kreuzigung Jesu. Von allen Seiten scheinen uns Augen anzustarren und Marie empfindet sicher das Selbe.
Wir ahnen was in dem Kopf von Maries Mutter vorgeht und erahnen die Gefahr, in der sich das Mädchen befindet.
Wir gelangen zur Haustür. Marie wird nach draußen geschliffen. Der Bilderbuchhimmel und die zwitschernden Vögel kommen uns wie Geschöpfe aus einer anderen Welt vor.
Wir folgen der kleinen Familie hinters Haus und sehen ein weiteres kleines Gemäuer. Es könnte ein kleiner Stall sein, aber wir können nicht die Geräusche von Tieren hören.
Auf ihrem Weg murmelt die Mutter endlos hintereinander das Vaterunser vor sich hin.
In dem kleinen Gemäuer gibt es nur eine Tür. Sie ist aus massivem Holz und ist mit einem Riegel verschlossen. Es kostet der Mutter Kraft den Riegel aus den Angeln zu heben, aber der Hass auf ihre Tochter lässt sie Berge versetzen. Sie öffnet die Tür und befördert Marie mit einem Tritt in den Raum der dahinter liegt. Die Mutter folgt ihr.
Und wir tun es ebenfalls, auch wenn wir uns dabei unwohl fühlen.
Es ist stockdunkel und im ersten Moment erkennen wir nur Schatten an einer Wand, die auf ein Kreuz hindeuten.
Dann flackert ein kleines Licht auf. Die Mutter hat eine Kerze angezündet. Ir sehen gerade noch das Streichholz, das sie unachtsam auf den steinernen Boden wirft.
Als noch mehrere Kerzen angezündet sind und der Raum erleuchtet ist, sehen wir, dass wir mit unserer Vermutung Recht haben. An der Wand direkt vor uns ist tatsächlich ein Kreuz, und zwar hat es die doppelte Größe, von dem, welches in Maries Zimmer hängt. Aber nicht nur das.
Vor uns befindet sich auch ein mit Blumen geschmückter Altar. Und daneben zwei Statuen: Die eine zeigt die Jungfrau Maria, die das Jesuskind in den Armen hält, und liebevoll auf es hinabblickt, das andere ist die Figur des Heiligen Bonifazius der die Bibel, die er in Händen trägt schützend über seinen Kopf hält.
Alles in allem ist es ein schreckliches Bild, dass sich uns bietet.
Noch immer hat Marie kein Wort gesagt. Es herrscht Stille. Ihre Mutter geht vor dem Altar hin und her und betet den Rosenkranz, den sie aus ihrer Tasche hervorgeholt hat.
Nach einer Weile steckt sie den Rosenkranz wieder weg und wir hören aus ihrem Mund ein flehendes bitte vergib ihr Herr! Sie scheint geistig abwesend zu sein. Wenn sie nicht in eine andere Welt verschwunden ist, so ist sie wenigstens tausend Kilometer von hier entfernt.
Doch plötzlich sieht sie auf, sieht ihrer Tochter in die Augen, und ihre schmalen Lippen formen sich zu einem Grinsen.
Nichts konnte uns vorher so erschrecken wie dieses wahnsinnige Grinsen es tut. Sie ohrfeigt ihre Tochter und am liebsten würde jeder von uns dazwischen gehen, aber wir können nicht, wir sind nur stille Beobachter dieser Szenerie.
„Schlampe, Fotzentochter, Schwanzleckerin,...“ Mit diesen Worten tituliert sie Marie, und wir sind uns zu 100% sicher, dass sie diese Worte niemals in normalen Situationen gebraucht. Nein, sie ist nicht die Art Frau, die solche schlimmen Wörter in den Mund nimmt. Sie ist eine Frau die die Unterwäsche anlässt und die Türe verschließt, wenn sie einmal in der Woche duscht, obwohl nur Marie mit ihr im Haus wohnt.
Weitere Ohrfeigen prasseln auf Marie herab. Sie wird an den Schultern zu Boden gerissen und vor den Alter gezerrt.
„Falte deine Hände, Hure!“ Herrscht ihre Mutter sie an und sie kommt der Aufforderung sofort nach.
„Jetzt wirst du den Herrn bitten, sich deiner sündigen Seele anzunehmen!“
Marie ist klar, dass ihre Mutter keinen Widerspruch duldet. Und so senkt sie den Kopf schließt ihre Augen und fängt an zu beten.
„Bitte den Herrn aufrichtig um Verzeihung für deine Niedertracht! Ich werde ins Haus zurück gehen und ebenfalls für dich beten und den Herrn um Rat fragen, was ich mit meiner Tochter tun soll, um sie vor unzüchtigen Gedanken zu befreien.“
Die Mutter geht zur Tür und tritt hinaus. Wir folgen ihr. So sehr wir dem armen Mädchen auch beistehen wollen, wir bringen nicht die Kraft auf uns länger an diesem Ort aufzuhalten. Einem unheiligen, dunklen Ort, der besser in die Zeit der Inquisition gepasst hätte, als ins 21. Jahrhundert.
Wir fliehen hinaus an die frische Luft. Wir wollen vergessen, auch wenn wir es wahrscheinlich nicht schaffen werden.
3
Wir gehen erneut zum Schuppen, oder wie auch immer man dieses Gemäuer nennen mag und sehen, dass der Riegel immer noch vorgeschoben ist. Wir horchen gespannt an der Tür, um ein kleines Lebenszeichen von unserer liebgewonnenen Marie zu erhaschen, aber entweder das holz ist zu dick, oder sie schweigt.
Drei Tage sind vergangen und wir hoffen, dass Marie zwischenzeitlich den Schuppen verlassen durfte, auch wenn uns unser Verstand und unsere Intuition etwas anderes verraten. Die dunklen Stimmen in unserem Kopf lassen uns perverse Phantasien von Maries Marter erdenken. So lange, bis wir es nicht mehr aushalten und erneut von diesem Ort flüchten. Einem Ort der Verzweiflung.
Doch diesmal tun wir es nicht ohne selbst ein kleines Gebet zu sprechen.
Wir bitten (flehen) zu Gott, dass er diesem Mädchen hilft und, dass er ihre Mutter so lange am Leben lässt, bis sie den Riegel zur Seite geschoben hat und Marie aus ihrem engen sadistischen Gefängnis befreit ist. Insgeheim bitten wir Gott auch darum (oder besser gesagt vor allem darum), dass wir unser Erlebtes so schnell wie möglich vergessen, oder es zumindest verarbeiten können.
ENDE
BY TIMO MENGEL