Ein böser Traum
Lisa ging die asphaltierte Straße auf dem nebenherlaufenden Gehweg entlang, die durch die Vorstadtsiedlung führte. Häuser und Vorgärten säumten ihren Weg an einem verregneten Mittwoch-Nachmittag. Tief graue Wolken bedeckten den Himmel. Regentropfen prasselten auf ihre Neoprenkapuze, die ihr Haupt vor Nässe und vor der feuchten Brise schützte.
Der Regen, der auf sie hernierderging, lief über ihre rote Regenjacke, tropfte auf den mit Wasser bedeckten Boden und spritzte in alle Richtungen.
Ihre bunten Stoff-Schuhe sogen das Wasser auf, die Füße unter den Socken schon durchnässt. Die hellen Einhorn- und farbenfrohen Regenbogen- Muster auf ihrem Schulranzen dunkelten infolge der aufgesogenen Nässe nach.
Lisa fror, ihr kleiner Körper zitterte von Kopf bis Fuß. Die eiskalten Fäuste vergrub sie in den Ärmeln ihrer Regenjacke. Sie biss die Zähne zusammen und ermutigte sich selbst, weiter zu gehen.
Endlich angekommen vor dem kniehohen Gartentor aus lasiertem Holz, legte sie seinen verzinkten Hebel um, dann drückte sie es mit ihrer zarten Kinderhand in Richtung des Vorgartens auf. Die rostigen Scharniere quietschten. Lisa betrat den mit Kleinsteinpflaster belegten Weg im Vorgarten und schloss das kleine Tor hinter sich.
Sie lächelte, als sie die beige Haustüre mit den tellergroßen, quadratischen Fenstern in Augenschein nahm. Schnurstracks lief sie auf den Eingang zu und hopste auf die dolomitsteinerne Empore, die Pfützen, in die sie trat, patschten zur Seite. Lisa drückte den silbernen Klingel-Knopf eilig ein paar mal hintereinander, ein helles Klingelgeläut folgte.
Die noch kürzlich bestehende Verdrießlichkeit wich der in ihr aufkeimenden Freude, sobald sie die Erscheinung der blond gelockten Mutter, Isabelle, durch die Fenster der Haustüre wahrnahm.
Die blauen Augen Isabelles weiteten sich in dem Augenblick, da sie die nasse Gestalt Lisas bemerkte. Daraufhin hastete sie in ihre Richtung mit gestrecktem Arm dem Türgriff entgegen. Diesen legte sie behände um, riss die hölzerne Haustüre schwungvoll auf.
Lisa betrat den mit terrakottafarbenen Fliesen verlegten Eingangsflur.
Isabelle griff zärtlich Lisas Schulter und zog ihr Kind an die Brust.
Lisa spürte den rhythmischen Herzschlag der Mutter auf ihrer zarten Wange.
Sie schlugen die Arme umeinander. Isabelles roter Wollpullover sog währenddessen die Nässe auf der Regenjacke auf.
Die enge Umarmung der Mutter schenkte Lisa Herzenswärme.
Isabelle zog behutsam die Regenkapuze von Lisas KOpf herab, anschließend küsste sie liebevoll ihren dunkelblonden Haarschopf. Die Sorge um die Tochter, diese bei einem Hundewetter allein auf dem Heimweg zu lassen, machte der Erleichterung Platz, Lisa wieder sicher in ihren Armen zu wissen.
Isabelle griff sachte Lisas Gesicht mit beiden Händen, hob schonungsvoll ihren Kopf an und sah ihrer Tochter mit einem sorgenvollen Vorwurf im Blick in die Augen.
«Mensch, Kind! Wieso läufst du bei so einem Schietwetter nach Hause, du weißt doch ganz genau, dass du mich anrufen sollst, wenn etwas passiert!», schalt sie Lisa.
Sie musterte die zusammengezogenen Augenbrauen der Mutter, wenn sie sauer war, nahm sie diesen grimmigen Gesichtszug an, doch jetzt kamen noch die herausgequollenen, feinen Sorgenfältchen auf ihrer Stirn hinzu. So wusste Lisa, dass ihre MUtter nicht wütend, sondern äußerst mütterlich war. Ein schlechtes Gewissen plagte sie auf einmal. Sie presste die Lippen zusammen, mit einem traurigem Blick senkte sie den Kopf.
**«Das tut mir wirklich leid Mama, ehrlich! Ich habe nicht d’ran gedacht, dass du dir so große Sorgen machen würdest. Ich dachte, ich bin ein großes Mädchen und kann allein’ nach Hause gehen», stammelte Lisa mit hauchdünner, bebender Stimme, derweil ihr eine Träne die Wange entlang kullerte.
«Du bist mit zwölf Jahren auch ein großes Mädchen, meine Süße. Trotzdem mach’ ich mir große Sorgen, wenn ich weiß, dass du bei solch einem Mistwetter alleine unterwegs bist.»
Lisa schluchzte: «Ja, Mama. Das nächste Mal rufe ich dich an.»
Sie blickte mit feuchten Augen ihre Mutter an. Daraufhin weichten Isabelles Gesichtszüge, sie schenkte ihrer Tochter ein gutmütiges Lächeln und wischte sanft die Tränen aus ihrem Gesicht.
«Na komm’, vergessen und vergeben. Zieh’ dir schnell was Bequemes an, deine Sachen sind ja ganz nass.»
Lisa grinste Isabelle froh über ihr nachgebendes Verhalten an und stolperte die knarrende Kiefertreppe empor.
«Vergiss nicht, deine nasse Kleidung über dem Wäscheständer im Heizraum auszubreiten und pack’ deine Schulsachen aus dem Ranzen aus!», rief ihr Isabelle hinterher.
Später saßen sie gemeinsam am Küchentisch und aßen Spaghetti Bolognese, die Isabelle absichtlich für Lisa gekocht hatte, worüber sie sich sehr erfreute, weil dieses Gericht zu ihren Lieblingsspeisen gehörte, und plauderten über Neuigkeiten aus der Schule.
«Wie war’s in der Schule?»
«War ganz gut. Im Chemiunterricht hat Herr Mayer ein Experiment vorgeführt, das wär’ fast in die Hose gegangen.»
Isabelle legte die Gabel auf den Teller - das Geschirr klirrte. Sie blickt Lisa gespannt an.
«Was ist denn passiert?», fragte sie Lisa mit gebannter Stimme.
Lisa blieb unbeeindruckt und drehte Spaghetti auf ihre Kabel.
«Ach, Herr Mayer wollte uns Krafteinwirkung durch eine chemische Reaktion veranschaulichen. Er hatte eine Scheibe aus dem Experimentiertisch hochgefahren - zu unserer Sicherheit. Dann hatte er ein paar Chemikalien in einem Kolben zusammengemischt und einen Kunststoffstab hineingesteckt. Das Gemisch hat richtig heftig reagiert, der Kolben ist umgekippt und der Bolzen ist durch den Druck hinausgeschossen, wie eine Kanonenkugel, und ist voll in die Sicherheitsscheibe gekracht. Das hat einen mortz Knall gegeben und in der Scheibe ist eine spinnennetzähnlicher Riss entstanden.
Alle haben sich voll erschrocken und Maik - ganz vorne - ist vor Schreck vom Stuhl gefallen, weil der Bolzen direkt in seine Richtung geschossen ist.»
Isabelles Mundwinkel fielen runter.
«Mit diesem Herrn Mayer sollte jemand ein ernstes Wörtchen reden. Euch in Gefahr zu bringen, das ist vollkommen verantwortungslos! Am besten, ich rede morgen mit ihm», entgegnete Isabelle entsetzt.
Lisa blickte sie vorwurfsvoll an. «Nein Mama, das ist mega peinlich!», konterte sie..
«Okay, wir diskutieren das ein anderes Mal», beschwichtigte Isabelle ihre Tochter.
Die gerade entstandene Spannung im Raum schwall wieder ab.
Lisa saß gerade an ihrem rosa lackierten Schreibtisch und zeichnete mit angespitzten Bleistif und unter dem weißen LED-Licht der Schreibtischlampe schimmernden Geodreieck die Linie eines Quadrates.
Sie hörte, wie ein Schlüssel von außen in das Zylinderschloss der Hauseingangstüre gesteckt wurde. Das Ratschen und Klicken des umdrehenden Schlüssels drang dumpf durch ihre Zimmertüre.
Die Türe wurde aufgedrückt und polterte, als ihre Unterkante gegen den Türstopper schlug.
Das konnte nur ihr Vater sein, der von der Arbeit wiedergekehrt war, dachte sie und lief freudig erregt die Treppe hinunter, um ihn gebürtig zu begrüßen.
«Da ist ja meine Große!», rief er ihre zu, während Lisa die knarrenden Stiegen hinunter auf ihn zu lief. Sein vom Arbeitsstress gezeichnetes Gesicht entwickelte eine frohes Lachen.
«Hallo, Papa!», rief sie ihm zu. Er ließ seine schwarze Kunstlederaktentasche auf den Boden fallen und breitete seine Arme aus, sodass Lisa direkt in sie hinein lief und sie ihre Arme um ihn schloss und er seine um Lisa.
Er wog die Tochter in seinen Armen. Dabei strich seine Krawatte über ihre Nasenspitze, es kitzelte sie, Lisa kicherte allerliebst.
Die beiden knuddelten sich vergnüglich eine Weile, als dann Isabelle dazustieß.
Sie stellte sich breitbeinig mit voreinander verschränkten Armen vor Vater und Tochter und lächelte höflich ihren Ehemann an, doch ihre starren Augen, verrieten, dass sie bloß eine falsche Maske trug.
Die bis dahin liebevolle Atmosphäre kippte, eine drückende Stimmung drängte sich mit ihrem Erscheinen in den Vordergrund.
«Schön, dass du da bist, Peter», begegnete sie ihm mit kühler Stimme, derweil sie forsch in seine grünen Augen blickte.
Peter ließ von der Umarmung seiner Tochter ab.
«Auch schön dich zu sehen, Isabelle», entgegnete er trocken.
Er wusste nicht recht, warum Isabelle ihn derart verhalten begrüßte, dennoch hielt Peter ihrem Blick mit Bestimmtheit stand - er war es von berufs wegen gewohnt, auf unerwartete Situationen kühn zu reagieren.
«Ich möchte mit dir reden, allein», erklärte Isabelle.
Ihre Augen behielten Peter fest im Griff.
Trotz seines sonst gefassten Gemüts durchfuhr ihn ein Wechselbad von heiß nach kalt und kühler Schweiß bildete sich in seinem Nacken bei dem Anblick Isabelles kalter Aggression.
Die Luft im Raum dickte so sehr an, dass man sie hätte wie Butter schneiden können.
Lisa verfiel bei dem ungeheuerlichen Anblick ihrer Eltern in Hilflosigkeit, sodass ihr Körper begann zu zittern und ein drückender Kopfschmerz sie peinigte.
Auf sie wirkte Isabelle im Vergleich zu heute Mittag wie ausgewechselt. Noch nie hatte sie ihre Mutter derart angespannt erlebt. Sie verstand die Situation ihrer beiden Eltern überhaupt nicht. Ein Schweißtropfen rann Lisas glatte Stirn hinunter. Aufgebracht trippelte sie auf beiden Füßen hin und her, rieb hartnäckig ihre Drosselgrube, um Nervosität abzulassen. Sie blickte abwechselnd in die äußerst besorgniserregenden Antlitze ihrer Eltern.
Isabelle wand zögernd ihren Blick von Peter ab, sie sah dann Lisa so freundlich, wie sie gerade konnte, an. «Schatz, bitte geh’ doch in unser Schlafzimmer und sieh dir einen Film an. Dein Vater und ich haben noch etwas Wesentliches zu bereden», bat sie Lisa mit hohler Stimme.
Sie konnte Lisa nicht täuschen, ihre aufgesetzte Freundlichkeit war nur Blendwerk. Etwas stank hier gewaltig!
Lisa sah ihre Mutter verständnislos an. Sie nickte kurz und machte Kehrt, die Trepp hinauf. Sie öffnete die Türe oberhalb der Treppe und ging langsam durch in den obigen Flur. Lisa lehnte die Türe so an, dass es vom Erdgeschoss aus den Anschein erweckte, als sei sie in das Schloss gefallen. Dann sank sie zu Boden, um dort kauernd den Worten ihrer Eltern zu lauschen.
Lisa lehnte mit dem Rücken an der Flurwand. Sie winkelte die Knie an und schlang die Arme um ihre Beine. Das Kinn legte sie auf die Brust.
Wie ein Häufchen Elend kauerte sie auf dem dunkelblauen Teppichboden.
Ihre zuvor noch blutroten Wangen waren einem aschfahlen Ton gewichen, als hätte sie ein Geist fürchterlich erschreckt.
Sie hörte, wie ihre Eltern in die Küche stapften und die Küchentüre zugeknallt wurde. Lauthals schrien sie sich an, ihre aufgebrachten Stimmen waren unüberhörbar laut. Einen Teil der Vorwürfe, die sich die Eltern gegenseitig an die Köpfe warfen, drangen deutlich bis an Lisas Ohr: Isabelle beanstandete, dass Peter eine Affäre mit einer Frau habe, Peter aber wies dies vollständig zurück und warf Isabelle an den Kopf, dass diese keinen Überblick mehr über ihre Ausgaben hätte, was sie wiederum wehement abwerte.
Der Streit dauerte eine ganze Weile an, seine Heftigkeit steigerte sich von Moment zu Moment.
Die Furcht vor der außerordentlich verbalen Angriffslust Lisas Eltern drückte ihre Luftröhre zu.
Lisa kniff die Augen fest zusammen - die Lider zitterten und dicke Tränen kullerten ihre Wangen hinab auf ihren blauen Kapuzenpullover.
Sie schluchzte bitterlich, denn das heftige Gezanke hielt sie nicht mehr aus.
Lisa raffte sich auf, wischte sich einmal mit dem Ärmel die Tränen aus den rot unterlaufen Augen. Dann ging sie schweren Schrittes weiter über den Flur in das Schlafzimmer ihrer Eltern, wo sie den Zank nicht weiter ertragen musste.
Sie legte den Schalter an der Wand um, darauf tauchte die mattschwarze Deckenlampe das Schlafzimmer in ein warmes, hellgelbes Licht.
Lisa ging auf den weißen, schachtel-förmigen TV-Schrank zu, den die Eltern auf einem glücklichen Ausflug mit ihr zusammen mit einigen anderen Möbeln bei IKEA gekauft hatten und beugte sich hinunter zu den Blue-Rays. Eine rote Hülle ragte einige Zentimeter weit aus der überwiegend blau farbigen Sammlung heraus. Lisa zog sie aus dem Stapel und sah sich das Cover an.
In fetten, weißen Lettern stand “Scream” auf ihm. Außerdem war es mit dem Gesicht einer erschrockenen Frau bebildert. Eine Hand war vor ihrem weit aufgerissenen Mund gehalten und eine Blutschliere, quer über dem Gesicht der Frau mit den angsterfüllten, blauen Augen, verlieh dem Kunstwerk zusätzlichen Schrecken.
Lisa schauderte bei dem Anblick dieses Covers. Die Frau auf dem Bild wirkte wie das Opfer eines gewalttätigen Mörders.
Da fiel ihr ein, wie sie eines Abends heimlich aus dem Bett schlich, die sonst knarrende Treppe mit Bravour meisterte und die Wohnzimmertüre mucksmäuschenstill öffnete.
Sie schaute heimlich den Horrorfilm, den sich ihre Eltern auf der Wohnzimmercouch ansahen.
Lisa, erinnerte sich noch an eine Szene, in der ein Psychopath, verkleidet mit einem schwarzen Umhang und einer schrecklich verzerrten Maske, eine junge Frau mit einem großen Messer bewaffnet jagte und sie schließlich grausam erstach.
Die Angst überkam sie in diesem Moment, deshalb stieß sie einen gellenden Schrei aus, der ihre Eltern aus dem Sofa fahren ließ.
Für das Spähen setzte es ein riesen Donnerwetter. Gepaart mit den resultierenden Alpträumen musste sie einen hohen Preis für ihre Neugier bezahlen. Aber neugierig war sie nun eben einmal.
Nun wägte sie ab, ob sie sich diesen Film komplett anschauen sollte.
Schließlich dachte Lisa, dass der heutige Tag sowieso nicht mehr schlimmer werden könne, also legte sie die Blue-Ray ein und verkroch sich unter einer der flauschigen Daunendecken.
Es war schon nach elf Uhr, eigentlich hätte Lisa längst im Bett sein müssen. Der Film fand gerade sein Ende, da hörte sie, wie jemand die Treppe schweren Schrittes hochstieg. Blitzschnell stand sie auf und holte hastig den Film aus dem Player, steckte die Blue Ray zittrig in die Hülle und stellte sie in die Lücke.
Die Türe des Schlafzimmers ging auf, ihre Mutter trat hinein.
«Hallo, meine Süße. Wir wollten dich vorhin nicht so erschrecken. Wie geht’s dir denn?», fragte Isabelle ihre Tochter. Ihre Stimme klang abgespannt.
Isabelles blonde Mähne war zerzaust, ihre Augen waren rot angelaufen und auf ihren Wangen schimmerten getrocknete Tränen. Sie lächelte Lisa erschöpft an.
«Mir geht es ganz gut, Mama», log Lisa. Der Streit hatte sie ganz schön mitgenommen und der Horrorfilm hatte sie anschließend ihren letzten Nerv gekostet, zumindest hatte er sie vollends von dem Gezanke abgelenkt.
«Was hast du dir denn Schönes angesehen?», erkundigte sich Isabelle.
Lisa wusste, dass einer ihrer Eltern diese Frage stellen würde, sie hatte sich dennoch nicht darauf vorbereitet. Ihr Blick schweifte nach unten. «Ähh...die Schlümpfe habe ich mir angesehen, der mit Neil Patrick Harris. Der war echt lustig!», log Lisa in ihrer Not, schließlich hatte sie für heute schon genug Ärger am Hals.
Als Lisa im Bett lag, gaben ihr Peter und Isabelle vereinzelt einen Gute-Nacht-Kuss, sie sahen betreten aneinander vorbei, als sie sich vor dem Kinderzimmer ablösten.
Beide versicherten Lisa, dass der Streit nichts mit ihr zu tun habe und sie nach einer schnellen Lösung Ausschau hielten. Auf Lisas Frage, warum sie denn eine solch heftige Auseinandersetzunge haben, drucksten die Eltern merkwürdigerweise sehr einig um die Frage drumherum: dies sei eine Sache zwischen Erwachsenen, die sie noch nicht verstehen könne, da sie zu jung dafür sei. Lisa behielt für sich, dass sie gelauscht und erfahren hatte, worum es bei diesem Streit ging. Sie liebte ihre Eltern trotz ihrem Zwist unbeschreiblich doll und wollte sie nicht noch zusätzlich in Verlegenheit bringen.
Nach stundenlangem Grübeln über die Lage ihrer Eltern schlief sie schließlich doch noch mit ihrem Kuschelbären, Knuffi, im Arm ein.
Fiebrig wälzte sie im Schlaf von der einen Bettkante zur anderen.
Im Traum jagte sie ein pechschwarzes Ungeheuer. Es gierte, Lisa mit seinen gewaltigen Klauen zu zerfleischen. Sie irrte in einem Labyrinth aus grauen Betonmauern umher. Dunkle Wolken bedeckten den Himmel. Feiner Regen strömte von oben herab. Das Monster lechzte beängstigend.
Lisa huschte lautlos zwischen Ecken und Nischen der mächtigen Mauern auf dem Ascheboden hin und her. Immer bestrebt, den größtmöglichen Abstand zwischen ihr und dem Untier zu erreichen, doch es konnte ihre Fährte im Boden deutlich lesen. Das Lechzen wurde von Moment zu Moment lauter. Also kam das Monster immer näher, egal wie angestrengt Lisa sich bemühte, zu entkommen. Schließlich erkannte sie, dass es keinen Sinn mehr ergab, weiter zu entrinnen. Sie kauerte sich in eine schattige Nische. Ihr gesamter Leib zitterte, die Angst hatte sie schon längst aufgefressen, bevor der riesengroße, dunkle Jäger es tun konnte.
Die Haare hingen von Lisas Kopf kletschnass herab, sie sogen das Wasser wie ein Schwamm auf. Ihr gelbes, mit Sonnenblumen bedrucktes Frühlingskleid war pitschnass. Die Füße badeten im Regenwasser, welches sich in ihren roten Lackschuhen sammelte.
Die Kälte durchzog ihren Körper bis in die Haarspitzen. Unkontrolliert zitterte Lisas Körper und klapperten ihre Zähne aneinander.
Den Kopf vergrub sie hinter den Knien und lugte über sie hinweg; den Blick starr geradeaus gerichtet. Ihre Augen riss Lisa weit auf, um das Monster mit ihrem Blick rasch erhaschen zu können.
Sie erschrak sich plötzlich und zuckte, denn mit Furcht erblickte sie, wie die Spitze eines ungeheuren Schattens um die Eck strich. Fortlaufend beanspruchte er immer mehr des Bodens,
bis schließlich das Unwesen ihr nur noch ein paar Meter entfernt gegenüber stand.
Es erschnüffelte Lisas Angst. Der Riese kam gemächlich näher.
Er rühmte sich mit sarkastisch winkender Klaue, sein Opfer in die Ecke gedrängt zu haben - kein Grund zur Eile.
Sein schwarzer Umhang wehte hinter ihm her und seine Fratze so verzerrt, dass sie dem Gesichtsausdruck eines Irren glich. Todbringende Krallen schnellten mit einem schneidigen Surren aus seinen Handknöcheln vor. Nun stand er direkt vor Lisa. Sein Atem stank nach faulem Fleisch. Das Monstrum hob die rechte Kralle zum finalen Hieb an. Lisa fiel, hervorgerufen durch ihre Furcht, in Schockstarre. Ein Entkommen war so unmöglich wie sinnfrei. Ihr Herz raste. Sie schloss die Augen und nahm im Stillen Abschied von dieser Welt.
Durch die ganze Anspannung öffnete sie ihre Augen. Das Monster war verschwunden. Es regnete auch nicht mehr, die Sonne schien stattdessen. Die wuchtigen Betonmauern waren entwichen. Sie ging zusammen mit Peter und Isabelle in dem grünen Bürgerpark spazieren, ringsherum standen verschiedene Baumarten im englischen Stil angepflanzt. Der graue Boden aus Asche war systematisch angeordneten Pflastersteinwegen und grünem Rasen gewichen. Viele Familien waren unterwegs, es herrschte ein gemütliches Treiben und Spielen. Die Brise eines lauen Sommertages wog Lisas Haare. Eine Scharr aus Amseln, Rotkehlchen und Blaumeisen segelten durch die Lüfte und gaben ein hinreißendes Konzert zum Besten.
Lisa fühlte Unbeschwertheit, als sei alles im Reinen. Ihre Eltern blickten sich gegenseitig verliebt in die Augen und küssten sich dann sanft. Nun wanderte ihr Blick Richtung Lisa. Sie strahlten sie freudig an.
Alles schien auf einmal im Gleichgewicht zu sein, so wie Lisa es wollte.
Für einen Moment gab Lisa sich völlig dem herrlichen Moment hin, sie lächelte ihren Eltern entgegen.
Aus heiterem Himmel überfiel sie ein krummer Gedanke, diese Anmut konnte doch nicht wahr sein. Ihre Eltern hatten sich doch kurz zuvor noch hartnäckig gestritten.
Etwas merkwürdiges geschah, Lisas Umgebung erstarrte auf einen Schlag. Das Lächeln der Eltern war wie eingemeißelt. Ihre Glieder regten sich keinen Millimeter mehr.
Lisa wurde es mulmig zu Mute. Sie sah in den Himmel, die Vögel flogen nicht mehr, sie schienen fest wie Sterne am Firmament. Dann drehte sich Lisa einmal um die eigene Achse, alles war erstarrt, nichts regte sich und keinen einzigen Laut konnte sie mehr vernehmen.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Instinktiv wandte Lisa sich wieder ihren Eltern zu, doch diese starrten weiterhin hohl in eine Richtung.
Das widerliche Gefühl der verzweifelten Panik breitete sich in Lisa erneut aus.
Es schien, als würde sich Peters Haaransatz in einen luftigen, grauen Staub auflösen. Lisa traute zuerst ihren Augen nicht, doch dann stellte sie auch das gleiche Geschehen an ihrer Mutter fest.
Der Vorgang beschleunigte rasant - die Körper beider Eltern lösten sich in graue Asche auf, die in die Luft entschwand.
Lisa konnte es nicht fassen, ihr Herz pochte rasch vor Entsetzen.
Sie drehte sich noch einmal um, die ganze Welt löste sich in graue Asche auf.
Diese sammelte sich an einem Punkt im Himmel und zeichnete von dort aus das schreckliche Labyrinth, in dem sie sich zuvor befunden hatte.
Erneut verdunkelten Wolken den Himmel und es regnete in Strömen. Kälte nistete sich in Lisas Körper ein und umwob ihr Herz, denn der frostige Regen besudelte sie wie zuvor. Lisa starrte den Boden geistig abwesend an, denn ihr Verstand begriff nicht, was vor sich ging.
Der Geruch verwesenden Fleisches stieg in ihre Nase, Lisa wurde übel.
Sie bemerkte in ihrem oberen Blickwinkel schwarze Stiefel und den Teil eines zerfledderten Umhangs. Schlagartig fiel ihr auf, dass sie wieder in der verzweifelten Ausgangssituation angelangt war, der sie kürzlich auf mysteriöser Art entschwunden ist.
Zuerst unscheinbar, aber immer mehr begreiflich fühlte sie kalten Stahl in der rechten Hand. Sie griff fest zu, die Augen rollten in Richtung des unerwarteten Gegenstands. Tatsächlich, es war ein Küchenmesser!
Ihr Instinkt drängte sich in den Vordergrund und schob ihre Kapitulation vor dem Ungeheuer mit einem gewaltigen Schub beiseite.
Sie war in die Ecke gedrängt - Wegrennen war ihr versagt. Also konzentrierte sie sich voll auf den Angriff auf ihren Kontrahenten!
Lisa hob den Kopf und blickte mit Grimm dem Scheusal in die dunklen Augenhöhlen, was sie sah, irritierte Lisa kurzzeitig, das Gesicht Isabelles zeichnete sich für den Bruchteil einer Sekunde auf der Fratze des Ungeheuers ab, es verschwand so urplötzlich, wie es erschienen war.
Darauf folgend schlug der scheinbar übermächtige Gegner mit seinen scharfen Krallen nach Lisas Hals. Doch diese duckte sich geistesgegenwärtig nach links unter dem gewaltigen Hieb hinweg und trat mit voller Wucht gegen die Innenseite des rechten Knies ihres Opponenten, hiernach taumelte dieser nach vorn über. Seine massive körperliche Überlegenheit wurde für einen Moment nutzlos. Lisa nutzte die missliche Lage des Ungetüms und rammte ihm beherzt die Klinge des Küchenmessers mit voller Länge in den Hals und zog es sofort wieder hinaus.
Ein Schwall Blut strömte aus der klaffenden Wunde empor. Es überströmte Lisa von Kopf bis Fuß. Das Monster fiel zu Boden, es zuckte noch ein paar Sekunden lang und presste eine Hand vergebens gegen die offene Wunde, dann verebbten die Zuckungen und es sackte endgültig zusammen.
Lisa fuhr mit dem Oberkörper aus dem Bett. Rasant pochte ihr kleines Herz. Kalter Schweiß kühlte ihre glühende Stirn. Sie keuchte. Lisa kniff sich in die Wangen, um sicherzustellen, dass sie wach war.
Endlich hatte dieser wirre Traum ein Ende gefunden.
Ihr Herzschlag entschleunigte auf den Rhythmus des gewöhnlichen Ruhepulses und die Atmung beruhigte sich.
Langsam schloss Lisa ihre Augen. Nun atmete sie besinnlich durch die Nase ein, sie hielt die Luft einen Augenblick lang in ihren Lungen, dann atmete sie sie wieder durch den Mund aus.
Nach diesem furchtbaren Traum brauchte sie etwas Zärtlichkeit; sie griff Knuffi, weil sie sein beruhigendes Gesicht anschauen und ihn fest an sich drücken wollte.
Anschließend schaltete sie das gedimmte Nachtlicht an, hierauf betrachtete sie das sandfarbene Fell des Teddybären mit den dunkelbraunen Knopfaugen in ihrer Hand und tätschelte behutsam seinen felligen Kopf.
Auf ihrer Hand spürte sie eine klebrige Substanz, an der Stelle, wo sie den Teddy gerade noch getätschelt hatte. Verwundert runzelte sie die Stirn.
Lisa beugte sich näher zum weißlichen Lichtkegel der Nachtlampe, daraufhin tauchte sie die Hand in das Licht, mit der sie zuvor den Bären gestreichelt hatte, um diese zu untersuchen.
Die Handinnenfläche war mit Blut befleckt.
Entgeisterung und Verwirrung packten sie gleichzeitig. Vermutlich fing über Nacht, während des zehrenden Kampfes mit dem Ungetüm, ihre Nase an zu bluten.
Allmählich bereute Lisa, dass sie einen Horrorfilm geschaut hatte, dennoch war sie sich ihrer Neugier bewusst.
Hastig riss Lisa die Bettdecke von ihren Beinen, dann stand sie mit Knuffi in der Hand auf und ging Barfuß über den Parkettboden zur Zimmertüre. Dabei ärgerte sie sich, dass sich dort der einzige Lichtschalter für ihr Kinderzimmer befand.
Lisa legte den Schalter um, abrupt erfüllte warm-weißes Licht den Raum.
Das Bild, welches sich ihr offenbarte, ließ sie durch Mark und Bein schaudern.
Kindergroße Fußabdrücke aus Blut führten von der gemaserten Zimmertüre über das Laminat zu ihrem Bett.
Die Augen weit offen, konnte sie das Grauen kaum fassen. Hastig pulsierte ihre Brust; eine Peitsche trieb ihren Atem.
Auch das Bett war bei näherem Hinsehen mit Blut besudelt.
Sie musste noch träumen, das konnte nicht wirklich sein!
Fest presste Lisa ihre Augen zusammen und kniff mit den zarten Fingern in die Wangen, dass diese weiß anliefen.
Die Augen wieder offen, blieb das verstörende Bild dennoch bestehen.
Eindeutig war sie wach. «Das kann doch nicht wahr sein! Das darf doch nicht wahr sein!», dachte sie. Hitze- und Kältewallungen wechselten sich rasch in ihr ab.
Von Panik erfüllt riss sie die Zimmertüre auf und knipste das Licht im Flur an. Die blutigen Fußabdrücke zeichneten weiter den Flurboden bis um die Ecke. Lisa ging ihnen nach, den Blick gefangen in einem Tunnel.
Um die Ecke blieb sie stehen. Die Fußabdrücke führten vom elterlichen Schlafzimmer her. Ihr rutschte das Herz in die Hose. Sollte sie es wagen, einen Blick in das Schlafzimmer zu werfen?
Sie musste!
Also schlurfte sie behäbig auf die braune Türe zu; ihre Sinne verschwammen.
Vor der Türe blieb sie stehen, ihr Herz rannte einen Marathon.
Die rechte Hand hob sie langsam wie eine Schnecke in Richtung der schimmernden Türklinke.
Endlich am Ziel angekommen, packte Lisa sie fest.
Sie atmete ein paar Mal hintereinander tief ein und wieder aus. Dann sammelte sie ihren ganzen Mut, drückte die Klinke hinunter und stieß zögernd die Schlafzimmertüre auf.
Behutsam trat Lisa in das Zimmer ein. Niemand reagierte, scheinbar schliefen ihre Eltern. Das Licht der Flurlampe war zu schwach, um bis zum elterlichen Bett zu leuchten. «Hallo…, seid ihr wach? Ich hatte einen fürchterlichen Albtraum.»
Ihre Stimme zitterte. Nur Stille folgte. Die Hand tastete nach dem Lichtschalter neben dem Türrahmen, sie fühlte und legte ihn um.
Entsetzten! Grauen! Horror!
Das aufkommende Szenario war wahnsinnig; mit Menschenverstand nicht annähernd greifbar.
Der sonst blaue Teppichboden, welcher das eheliche Bett umgab, in roter Blutlache getränkt.
Ein Blutfall sickerte das Bett hinunter bis in den Teppichboden hinein.
Jenes ehemalig unschuldige Weiß der Laken in purpurrot erstickt.
Auf dem Opferaltar des Satans lag der arme Vater, die Kehle aufgeschnitten.
Sein hoffnungsloser Blick ging starr zur Decke.
Die Ritualwaffe, ein schnödes Küchenmesser, lag neben ihm.
Rote Spuren eifrig abgewischter Hände klebten an der Bettdecke am Fußende.
Ein gellender Schrei fuhr durch das Haus.
Lisa trieb die Luft in höchsten Oktaven wie Sturm aus ihren Lungenflügeln, dass es selbst Gott am Firmament aus dem Tiefschlaf riss.
Isabelle fuhr geweckt durch den ohrenbetäubenden Lärm hoch. Sie hatte auf der Couch geschlafen. Ihr Kind war in großer Not! Geschwind stand sie auf und rannte schnell wie der Blitz die knarrende Treppe empor.
Sie verlor die Fassung, als sie den Ort des Horrors erblickte, in dem die Tochter stand. Abrupt kam Isabelle zu stehen. Ihr Körper bebte, ihre Organe zogen sich zusammen und aus aufgerissenen Augen strömte das blanke Entsetzen. Die Hand legte sie vor den aufgeklappten Mund. Sie wollte schreien, doch die Schreie erstickten. Das Herz raste dahin und pumpte Blut immer schneller wie ein startender Jet. Isabelle winselte, das war das einzige, was sie im Moment der sie voll einnehmenden Ohnmacht zu Stande brachte.
Lisa wandte sich ihrer Mutter zu, als sie diese bemerkte. Ihre Blicke trafen sich, sie zeugten von purer Hilflosigkeit. Ein paar Sekunden, Minuten, Stunden, eine gefühlte Ewigkeit standen sie so da. Dann aber ergriff Isabelle die Initiative. Der mütterliche Instinkt, das eigene Kind zu schützen, glühte so stark stark in ihr auf, dass sie sich aus aus der Schockstarre löste. Schleichend ging sie auf Lisa zu, den Blick auf ihre Tochter fixiert. Selbst vollkommen überfordert, musste sie das angsterfüllte Kind irgendwie aus seiner misslichen Lage befreien. Isabelle zog Lisa an den Schultern zu sich, drückte sie fest an ihren Bauch und legte behütend eine Hand auf ihren Kopf. Die Bestürzung löste sich ein kleines Bisschen von Lisa, dass sie begann, Wasserfälle zu weinen. Ihr Zetern glich dem Heulen eines Wolfs, der den Mond anbettelte.
Isabelle blickte ihren hingerichteten Mann an. Der Anblick war unerträglich, doch sie musste hinsehen. Da weinte auch sie bittere Tränen, während sie probierte, Lisa gut zuzureden. «Sch...es wird alles gut werden, alles wird gut.»
Die Polizei-Ermittlungen der folgenden Tage trugen Lisas Wirken an dem Tod des armen Vaters an das Tageslicht.
Laut diesen sei Lisa im Traum einem Wahn verfallen, der so intensiv war, dass sie diesen unbewusst körperlich nachvollzogen habe.
Lisa war schlafgewandelt und hatte den Kampf gegen das Ungetüm völlig bewusstlos im realen Leben ausgetragen und infolgedessen dem Vater die Kehle aufgeschnitten.
Wieso sich der Vorfall genau in dieser Weise abspielte, konnten die polizeilichen Ermittler nicht herausfinden.
Lisas Uterbewusstsein habe den gesehenen Horrorfilm nur äußerst mühselig verarbeiten können, was dazu führte, dass sie im Traum körperlich aktiv wurde.
Die Justiz sprach Lisa von jeglicher Schuld frei, denn sie war zum Zeitpunkt der Tat noch minderjährig und sei das Opfer vollkommener Ohnmacht über Körper und Geist gewesen.
Auch der Mutter kam keinerlei Schuld zu; die Eltern hätten nicht fahrlässig gehandelt, weil sie den besagten Horrorfilm für Lisa leicht zugänglich verwahrt haben. Eine solch schwerwiegende Beeinträchtigung der kindlichen Psyche, ausgelöst durch einen geschauten Horrorfilm, habe niemand vorhersehen können.
Lisa saß allein auf ihrem Bett. Der Kopf hing schwer wie von einer Stahlkette mit einem Anhänger aus Blei heruntergezogen.
Sie starrte die Maserung des Parkettbodens an. Ihre Augenlider schlossen sich nur alle paar Minuten. Die Gesichtsmimik war vollständig eingefroren. Eine Leichenblässe umhüllte ihre sonst so gesund aussehende Haut. Jene langen, schlaflosen Nächte, die Lisa durchlebte, hatten tiefe, violettfarbene Ringe unter ihre Augen gegraben. Nicht einmal die Nestwärme der Mutter konnte sie nachts in den Schlaf wiegen.
Leere durchflutete ihren Geist und ihren Körper vollständig. Nicht einmal Trauer konnte sie in einem Wipfel ihres Selbst finden. Es fuhr auch kein einziger Gedanke durch ihren Kopf. Nur Stille war da. Einzig ihr Herzschlag erinnerte sie an ihre Lebendigkeit. Lisa war sich sicher, sie schlief und würde bald aus diesem noch schlimmeren Albtraum erwachen, doch es geschah nicht. Sie war die Gefangene ihres Selbst, eingesperrt in einem düsteren Verlies aus purem Elend. Seine faustdicken Gitterstäbe waren geschmiedet aus reiner Verzweiflung.
Lisa ließ jegliche Hoffnung fahren.
Es gab kein Entkommen, es gab kein Entkommen.
Behutsam wurde die Zimmertüre geöffnet. Das leise Quietschen vernahm Lisa, doch es war nicht real. Isabelle trat ein. Lisa blieb regungslos so sitzen, wie sie schon seit Stunden oder Jahren saß. Sie wusste es nicht. Einsamkeit war ihre einzige wirkliche Freundin, die sie akzeptierte. Einsamkeit sprach ihr nicht gut zu und unternahm auch keinerlei zwecklose Versuche, sie zu trösten. Sie war einfach nur da und ließ Lisa gewähren, ihrer Stimmung in Ruhe Ausdruck zu verleihen.
Alle anderen wollten nur ihr Bestes und sie zwingen, sich besser zu fühlen. Doch das war genau das Gegenteil von dem, was Lisa wollte.
«Hallo, Lisa ich wollte nur einmal nach dir sehen.» Es folgte nur bedrücktes Schweigen. «Ich weiß nicht, was du durchmachen musst. Die Sache tut mir so unendlich leid.» Isabelles Stimme war ein Hauch. Tränenwasser benetzte ihre Augen, es waberte auf der Hornhaut bis es ihr in Form von feinen Tränen die Wangen hinunter lief.
Ihr stieg die Verzweiflung aus allen Poren. Seit jener Nacht konnte niemand mehr Lisa ansprechen. Sie ignorierte jeden; Mutter, Großeltern, Onkel, Tanten, Freunde, ja selbst die Kinderpsychologin konnte sie nicht erreichen. Die Expertin, Dr. Wohltat, versicherte Isabelle, dass Lisas Verhalten völlig normal sei. Sie müsse ein furchtbar tiefgreifendes Trauma verarbeiten. Isabelle hatte ihr von Lisas Vergangenheit erzählt; von ihrer Person, dass sie bisher ein fröhliches Kind, neugierig und gut in der Schule war. Eines, welches gerne lachte und auch hin und wieder Mist baute und aus seinen Fehlern lernte. Aufgrund dessen prognostizierte die Psychotherapeutin, dass Lisa einfach sehr viel Zeit bräuchte, um diesen schweren Schock zu verarbeiten. Wegen ihrer starken Persönlichkeit bestünde die herausragende Chance, dass Lisa das Trauma verarbeiten und keine Persönlichkeitsstörung hinterbleiben werde. Die Ärztin hatte auch Isabelle geraten einen Psychotherapeuten in Anspruch zu nehmen, doch Isabelle war der Meinung, dass sie das Erlebte selbstständig verarbeiten könne.
Isabelle schritt mit unendlicher Behutsamkeit auf Lisa zu, so als sei sie auf der Pirsch und Lisa ein Ree.
Sie setzte sich neben ihre Tochter auf die Bettkante. Sanft kraulte Isabelle ihren blonden Kopf. Lisa starrte den Boden immer noch an. Sie regte sich kein bisschen - der Blick der Medusa hatte sie getroffen.
Helles Glockengeläut drang in das Haus ein, es schlug zwölf Uhr Mittag.
Isabelles Augen liefen rot an und ihre Tränen flossen in Bächen. Sie fühlte sich vollkommen hilflos, denn sie konnte ihre Tochter nicht retten.
Wochen später hatte sich nichts an Lisas Verhalten geändert. Ihre Stimmung war nach wie vor am Boden. Kein Mensch konnte ihr helfen, nur sie allein konnte sich aus dem Jammertal entfliehen. Doch es schien, als sei sie für die Ewigkeit seine Gefangene.
Die warmen Strahlen eines Juli-Nachmittags schienen durch das Fenster in das Kinderzimmer, in dem Lisa noch immer auf dem Bett vor sich hin vegetierte.
Sie schienen Lisa direkt ins Gesicht und ließen sie dennoch kalt.
Selbst damals, während der Beerdigung ihres Vaters, war sie wie an das Bett gefesselt. Ihre Großmutter mütterlicherseits hatte währenddessen auf sie aufgepasst.
Noch immer war Lisa von Leere erfüllt. Isabelle hatte derweil die bittere Pille geschluckt, dass Lisa wohl den Rest ihres Lebens in einer psychiatrischen Klinik verbringen müsse, dennoch verbannte sie diesen Gedanken in das Exil, sobald er sich wieder bemerkbar machte, lenkte Isabelle sich von ihm ab. Sie suchte sich Hobbies; mit der Zeit schmückten dutzende von ihr handgearbeitete Stickereien das Haus, welches jedoch nur das Resultat angestrengten Wegsehens waren.
Dr. Wohltat war noch immer der festen Überzeugung, dass Lisa sich mit der Zeit wieder fangen würde. Täglich besuchte sie Lisa für mehrere Stunden. Ihren Vorschlag, Lisa in einer Kinderpsychiatrie unterzubringen, hatte Isabelle dutzende Male vehement abgewehrt. Lisa sei am besten Zuhause bei ihr aufgehoben.
Von draußen flog eine Fliege durch das offene Fenster in das Kinderzimmer. Isabelle hatte vor kurzem versehentlich das anthrazitfarbene Fliegengitter beschädigt. Sie wollte es austauschen, aber bisher kam sie noch nicht dazu, denn zu viel flog ihr um die Ohren.
Die kleine, schwarze Fliege surrte durch das weiß gestrichene Kinderzimmer. Lisa nahm sie zunächst nicht war. Dann landete das winzige Insekt auf ihrem Handrücken. Sie spürte das Krabbeln der Beinchen auf ihrer Haut, es kribbelte sie. Doch wie ein Komapatient reagierte sie darauf äußerlich nicht.
Die Fliege putzte ihre Flügelchen und ging dann Lisas Handrücken entlang den Arm hinauf.
Mit der Zeit nervte dies Lisa; der Drang überkam sie, die Fliege mit einer Handbewegung zu verscheuchen.
Doch halt, was geschah? Sie merkte, wie die Taubheit ein wenig in ihr schwand. Also ließ sie die Fliege weiter auf und ab krabbeln. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater im Sommer mit der Fliegenklatsche in der Küche auf die Fliegenjagd ging. Er hasste es, wenn sich die kleinen Insekten auf das Essen in der Küche setzten. Er verfluchte sie dafür, weil sie sich auch auf Misthaufen der Kühe niederließen. Isabelle hatte ihn jedesmal beschwichtigt, wenn das bekannte Spiel wieder seinen Lauf nahm. Lisa fand das immer wieder aufs Neue amüsant und kicherte in ihre kleinen Hände, wenn sie ihren Eltern dabei zusah.
Auf einmal bemerkte sie, wie nach einer Ewigkeit wieder ein Gedanke in ihrem Verstand aufkeimte. Das warme Gefühl der Hoffnung kribbelte in Lisas Fingerspitzen. Sie hob den Kopf und sah durch das Fenster.
Das hereinströmende Licht war grell, die Sonne schien warm in ihr Gesicht. Das Tageslicht blendete sie.
Lisa kniff erst die Augen zusammen, anschließend platzierte sie die Hand waagerecht vor die Stirn, über ihre Augen .
Die Fliege startete in Luft und surrte durch das Fenster zurück in die Natur. Lisa sah ihr verwundert nach.
Die beigen Essteller klapperten gegeneinander, als Isabelle sie mit einer Hand gleichzeitig in die Geschirrspülmaschine einräumte und das Besteck klirrte, sobald sie es in den grauen Besteckkorb der Spülmaschine fallen ließ.
Damals, als die Welt noch in Ordnung war, hätte Isabelle sich tierisch aufgeregt, wenn Peter, Lisa oder sonst jemand so grob den Hausrat behandelt hätten.
Doch seit letzter Zeit war alles egal. Ihre Welt war trist und grau geworden, wie ein Schwarzweißfilm.
Unverhofft polterte es vom obigen Stockwerk ausgehend. Isabelle erschrak ad hoc und horchte auf. Erstarrt hielt sie ein paar gestapelte Gläser in der Hand, die sie vor einer Sekunde noch in die Spülmaschine einräumen wollte.
Das Poltern rückte schnell näher, die Türe zur Treppe wurde mit einem lautstarken Knall aufgestoßen.
Die Stegen knarrten schnell und unüberhörbar verbunden mit Aufschlägen wie aus einer Kanonensalve. Dann folgten noch ein paar hastige Schrittlaute und auf einmal stand sie da.
Lisa umgab eine Aura, als sei sie von den Toten auferstanden. Das Unmögliche wurde möglich. Der Gevatter Tod unterlag den Engelskräften.
Sie war noch ein wenig blass um die Wangen, aber das Lächeln in ihrem Gesicht verriet den Sieg über das innerliche Martyrium. Sie war der Phönix, der aus seiner Asche empor stieg.
Isabelle starrte Lisa ungläubig an. Ihre Lippen bebten. Das konnte doch nicht sein! Oder etwa doch? Sie schloss die Augen für eine Sekunde und öffnete sie dann wieder. Lisa stand noch immer dort mit dem Lächeln im Gesicht. Nun begriff auch Isabelle, vor ihr stand kein Geist, sondern ihre Tochter aus Fleisch und Blut!
«Lisa, da bist du ja wieder!» Isabelle stürmte auf ihre Tochter zu und ließ sich vor ihr auf die Knie nieder. Weit öffnete sie die smaragdgrünen Augen, als wolle sie Lisa mit ihrem Blick einfangen und nie wieder loslassen. Tränen der Rührseligkeit sammelten sich in ihnen zu einem See und flossen in Strömen die Wangen herab. Isabelle umgriff Lisa, tastete sie ab, um ihre Echtheit zu prüfen. Sie war es tatsächlich! Nun zog Isabelle Lisa an sich heran und drückte sie mit all ihrer Liebe und Lisa erwiderte diese Geste gleichsam und auch sie weinte, dass Mutter und sie endlich wiedervereint waren.
Einige Wochen später schlenderte Lisa fröhlich den altbekannten Schulweg heimwärts. Es war nun Ende August und die großen Ferien eine Woche um.
Sie war wieder guter Dinge und insgesamt ein fröhliches Kind. Natürlich hatte das erlebte Trauma tiefe Narben in ihr hinterlassen. Dr. Wohlfahrt lehrte sie im regelmäßigen Zyklus, diese zu glätten und mit ihnen umzugehen. In einem rasanten Tempo fand Lisa den Weg in ihr weitgehend unbeschwertes Leben zurück. Während der Therapiestunden arbeitete sie das durchlebte Übel in großen Schritten auf. Dr. Wohlfahrt war nach jeder Sitzung aufs neue über Lisas starken Geist erstaunt.
Lisa pfiff auf dem Nachhauseweg “Walking on Sunshine”, was sie zuvor mit der Band der Musik AG und ihrem betreuenden Lehrer, Herrn Springer, geprobt hatte. Das quirlige, blonde Mädchen war seit Beginn der Schule nach den Sommerferien die dortige Sängerin und sie liebte dieses Lied, es erfüllte ihr Herz mit heiterer Stimmung und das Wetter spiegelte die Fülle ihres Herzens in Gestalt von Sonnenschein und Vogelgezwitscher wider.
Während sie gut gelaunt weiter lief, raschelte ein Teil einer Buchenhecke in etwa vier Metern vor ihr. Die Äste zitterten zusammen mit den angewachsenen Blättern. Wenige lösten sich von ihren Zweigen und fielen herab auf den gepflasterten Gehweg. Das Grün der Blätter stach im auffälligen Kontrast zu den roten Steinen hervor. Dann sprang eine pechschwarze Katze aus dem Geäst. Kleine Zweige und Blätter hingen hartnäckig in ihrem Fell. Die Katze schien dies allerdings nicht zu stören. Bemerkenswert groß gewachsen war sie für ihre Art. Einen Kopf länger und auch breiter gebaut als ihre gewöhnlichen Artgenossen stand sie dort stolz.
Jene hellgrünen Augen des Raubtieres fokussierten Lisa, die Ohren gespitzt. Das eminente Tier wirkte furchtlos, dennoch wachsam.
Lisa hatte sich erschrocken, als der immense Kopf des Räubers aus der Hecke hervorgeschnellt war.
Auf der Stelle blieb sie stehen, presste schlagartig Luft aus ihrer Lunge.
Gebannt von der fulminanten Größe der schwarzen Katze stand sie starr auf der Stelle. Die Füße waren wie angewurzelt und die Augen fokussierten so gebannt ihr mächtiges Gegenüber, dass sie das Blinzeln vergaßen.
Für einige Sekunden musterten sich beide, sahen sich nun einen Momente lang in die Augen. Doch die Katze verlor das Interesse an Lisa, sah sie nicht länger als potenzielle Gefahr an und trabte davon.
Lisa liebte Tiere, Katzen und Hunde gleichermaßen. Doch ihre Eltern haben all ihr Bitten und Flehen nach einem Haustier abgewiesen. Sie wollten nie eins. Es machte nur zusätzliche Arbeit und sei teuer.
Dieser Vierbeiner wirkte auf Lisa besonders anziehend, als entstamme er aus einer anderen Welt. Sie konnte sich ihre Hingezogenheit zu diesem Tier selbst nicht mit rationalen Argumenten erklären. Bis auf die spektakuläre Größe und das blasierte Gehabe war nichts Besonderes an ihm und trotzdem zog es Lisa an wie die Sirene den Seefahrer.
Also schlich sie der Katze auf dem Gehweg entlang hinterher. Ob sie männlichen oder weiblichen Geschlechts war, konnte Lisa nicht mit Sicherheit beurteilen. Sie vermutete aufgrund der immensen Größe des Jägers, dass er ein Männchen war.
Dem Kater schien nach ein paar Metern Fußweg aufzufallen, dass Lisa ihm nachging, denn hin und wieder drehte er eines seiner erstaunlich beweglichen Ohren nach hinten, um vermutlich zu lauschen, was in seinem Rücken geschah. Scheinbar war es dem Tier gleichgültig, von Lisa verfolgt zu werden, denn es flanierte gemächlich seiner Wege.
Sie gingen bis in Lisas Nachbarschaft hinein und weiter bis zu ihrem Haus. Der Kater hielt vor dem kleinen Eingangstor, holte zum Sprung aus und mit einem Satz hob er ab. Er landete elegant auf der schmalen Kante des Tores. Bemerkenswert geschickt balancierte er seinen massigen Körper auf den vier Pfoten, derweil er mit seinem Schwanz das Gleichgewicht tarierte. Der Kater hielt nun Ausschau nach einem geeigneten Landeplatz. Er beugte sich vorwärts, stieß sich vom braunen Holztor ab und landete sanft auf dem harten Naturstein des Eingangswegs.
Dann drehte er sich herum in Lisas Richtung, die verdutzt vor dem Tor stand und den Kater ungläubig anschaute. Nun putzte er in aller Ruhe sein kohlschwarzes Fell.
Eigenartigerweise schien der Kater auf Lisa zu warten. Sie öffnete das Tor und machte einen großen Bogen um ihn, dabei hielt Lisa den Kater stets im Blick. Sie stieg die Treppe hinauf und läutete einige Male hintereinander die Schelle, doch Isabelle regte sich nicht. Lisa drückte den Klingelknopf noch ein paar Male energisch hintereinander. Dennoch blieb alles stumm. Na toll, ihr Bauch knurrte schon seit Anfang der letzten Schulstunde! Vermutlich war sie daheim. Lisa ärgerte sich darüber, dass sie nie einen Hausschlüssel mitnahm. Aber für gewöhnlich war ihre Mutter zu dieser Zeit zu Hause, egal ob sie Feierabend hatte oder nur ihre Mittagspause zusammen mit Lisa verbrachte.
Genervt von sich selbst und ihrem Hunger suchte sie Ablenkung bei dem Kater.
Das Tier hatte sich mit dem halben Körper auf den Rasen des Vorgartens hinter die Hausecke gesetzt. Lisa sah nur sein schwarzes, felliges Rückteil.
Sie hockte sich neben ihn und streichelte sein weiches Fell. Der Kater schnurrte und sein Körper vibrierte wie ein kleiner Motor. Vielleicht wollte er schon die ganze Zeit von ihr gestreichelt werden.
Das auffällige Verhalten des Tieres und vor allem die Abwesenheit der Mutter zur Mittagszeit stimmten Lisa nachdenklich. Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus und sie atmete flach. Nervös rieb sie die Finger aneinander, während sie den pechschwarzen Kater kraulte.
Leider hatte sie in den großen Pausen, wie so oft, ihren Handyakku komplett mit Candy Crush leer gespielt, sonst hätte sie ihre Mutter auf der Arbeit angerufen.
Ratlos und geistesabwesend liebkoste sie weiterhin das zutraulicher Tier. Der Kater genoss seine Streicheleinheiten.
Lisa fasste sich ein Herz: ihre Mutter war höchstwahrscheinlich noch im Labor, vermutlich, weil sie die Arbeit im Moment nicht unterbrechen konnte oder sie war beim Einkaufen und der anhängliche Kater suchte bloß die Aufmerksamkeit eines Menschen mit der Hoffnung auch noch gefüttert zu werden. Wahrscheinlich war er ein Streuner oder mochte nicht nur die Liebkosungen seiner Menschen, falls er ein Hauskater war. Schlechte Erfahrungen mit Menschen schien er bisher keine gemacht zu haben.
Möglicherweise hatte der große Schwarze Lisa des öfteren schon beobachtet. Katzen waren ja durchaus intelligente Tiere, vor allem dann, wenn sie sich etwas zu Fressen erhofften. Darauf fiel ihr ein, dass sie am Vortag ja noch eine Bifi in die rechte Jackentasche gesteckt hatte. Freudig zog sie diese heraus und teilte sie zusammen mit dem Kater. Der schnurrte vor Glück. Als er gierig das letzte Stück der Salami verschlungen hatte leckte er sich die die Fettreste von den Pfoten. Dann begann er sich zu putzen, erst hinter den Ohren und dann den Rücken. Lisa erstaunte die mühelose Gelenkigkeit des Tieres mit der er beinahe alle Stellen seines eindrucksvollen Körpers erreichte.
Unvorhergesehenerweise richtete er sich auf, buckelte in die Luft und tappte ein paar Schritte weiter lautlos über den Rasen. Dann ließ er sich auf seinem Hinterteil nieder, sah Lisa mit seinen perfekt ellipsenförmigen Augen an und miaute. Die Laute klangen wie ein beschwerliches Jammern, doch Lisa konnte sich nicht erklären, warum auf einmal er sich hätte beschweren wollen. Schließlich hatte sie ihn ja kürzlich noch ein Leckerli verabreicht.
Das Verhalten des Katers war höchst seltsam.
Erhoffte er sich noch mehr Futter von ihr? Sie konnte sich keinen Reim auf sein plötzliches Abwenden machen. Vielleicht vertraute der Kater ihr ja noch nicht richtig. Immerhin mussten Tiere in ihrer Umgebung besonders achtsam sein, um nicht möglichen Feinden in die Falle zu tappen.
Also schlich sie dieses Mal besonders behutsam auf den Kater zu. Dieser behielt sie stets im Auge. Sie ging sogar in die Knie, um kleiner zu erscheinen als sie in Wirklichkeit war. Vielleicht wirkte sie auf diese Weise umgänglicher.
Dennoch nochmals ereignete sich dasselbe Geschehen wie gerade zuvor.
Dieses Mal lief der Kater sogar in die mächtigen Tannen, die ein Areal erreichten, so groß wie zwei Fußballplätze zusammen. Ärger keimte in Lisa auf. Sie war doch so vorsichtig! Warum lief dieses Vieh nur wieder davon? Zu allem Überfluss auch noch in den Wald hinein. Peter und Isabelle hatten ihr ausdrücklich verboten dort hineinzugehen. Vor allem Isabelle beharrte besonders darauf. Als Lisa klein war, erzählte sie ihr sogar, dass dort Räuber lebten, nur um sie von dem Wald fernzuhalten. Aber vor diesen Märchen ängstigte sie sich seit langem nicht mehr. Lisa mied den Wald nur aus Liebe zu ihrer Mutter. Nun packte sie der Ehrgeiz, diesen widerspenstigen Kater zu finden.
Schnurstracks marschierte sie ihm hinterher. Sie schob die langen, herunterhängenden Tannenäste beiseite und stieg in den Wald hinein.
Kühle Luft legte sich auf Lisas Haut. Ein wirklich angenehmes Gefühl im Vergleich zur Sommerhitze. Unter den Bäumen des Waldes war es schattig, nur ein paar Sonnenstrahlen drangen vereinzelt durch das dichte Geäst der Tannen.
Vögel zwitscherten Es war ein magischer Ort. Ruhe und Frieden herrschten hier.
Das subtile Mauzen des Katers erklang erneut, doch Lisa konnte ihn zwischen den Bäumen nicht entdecken. Sie lief seinen Lauten nach. Erde sammelte sich in ihren flachen Sommerschuhen. Die roten Socken färbten sich stellenweise braun. Wenn sie wieder zurück war, musste sie diese entsorgen bevor Isabelle sie sah, damit ihre Mutter keine unangenehmen Fragen stellen konnte. Lisa log nur ungern und gar schämte sie sich, ihre Mutter zu belügen.
Das Miauen wirkte wie ein Klagelaut. Lisa ging ihm nach, sie folgte der rechten Spur, denn es wurde mit jedem Schritt und mit jeder Wurzel, die sie überstieg, lauter. Ein buschiges, schwarzes Fell lag auf einem mächtigen Stein einer grauen Felskette inmitten einer Lichtung. Zwei grüne Augen funkelten Lisa an. Das Tier rührte sich nicht. Lisa stand still da und leistete mit ihrem Blick Widerstand. Geduldig lief sie auf das hohe Gestein zu, dabei behielt sie den Kater im Blick. Lisa spürte, dass sie nicht zufällig in dieses entlegene Stück Natur hergekommen war. Der Kater hatte sie hergelockt. Die Härchen in ihrem Nacken und auf den Armen sträubten sich und eine Gänsehaut fuhr über ihren kalten Rücken. Jedoch trat sie mutig an den Jäger heran. Irgendwie erinnerte sie das Tier an das Ungetüm aus ihrem damaligen Albtraum, obwohl sie scheinbar nichts gemein hatten. Wie ein König thronte er erhaben und blickte auf Lisa herab.
Der Kater erhob sich aus der liegenden Position und verschwand zwischen den Windungen im Fels. Lisa umrundete das Gestein, sie wollte ihn finden, doch lautlos und unsichtbar schlich er umher. Plötzlich sprang er aus einem schmalen Spalt hervor. Lisa erschrak und hüpfte vor Schreck einen Satz zurück. Sie war höchst irritiert, dass ein Wesen mit diesem massigem Körper sich so windig durch einen schmalen Felsspalt wie diesen bewegen konnte.
Geschickt auf dem Boden gelandet, grub er Gras und Muttererde mit seinen Tatzen aus dem Boden. Lisa verzog verwundert die Augenbrauen, der Kater benahm sich wie ein Hund - dieses Tier wurde immer skurriler.
Nach einer kurzen Dauer stoppte er die Grabung, ging in etwa einen Meter zur Seite, setzte sich auf seinen Hintern und begann, dass nun das mit Erde verdreckte Fell zu putzen.
Lisa hatte keine Ahnung, warum der Kater wie eine Hund gegraben hatte. Sie ging eine paar Schritt vor, dorthin wo das ungewöhnliche Tier vor wenigen Sekunden noch gebuddelt hatte. Misstrauisch sah sie einen Augenblick den Kater an, dieser leckte sich in aller Seelenruhe die Dreckkrümel aus dem Fell. Sie richtete ihren Blick mit zusammengezogenen Augenbrauen wieder auf die Grabungsstätte. Lisa fragte sich, was dort für den Kater denn so interessantes vergraben lag, dass dieser sich das Fell dafür schmutzig machte? Normalerweise vergraben Katzen doch nichts, das jedenfalls dachte sie bisher. Sie ging vor den Grabungsspuren in die Hocke und begutachtete die schmalen Abdrücke, die die Pfoten hinterlassen hatten. Sie konnte nichts ungewöhnliches entdecken. Während der Kater sich noch putzte, grub sie selbst mit den eigenen Händen das angefangene Loch weiter. Dreck warf sie zu Seite, der Kater beobachtete Lisa dabei aufmerksam. Nach einer Weile streiften ihre Finger über eine raue Oberfläche. Lisa hielt kurz inne, dann grub sie weiter. Etwas braunes, gemasertes kam zum Vorschein - neugierig grub sie schneller. Holzbohlen aus Fichte traten in das Licht. Lisa strich die restliche Erde beiseite. Das Holz fühlte sich feucht auf ihren Händen an. Es war aufgequollen und mit der Zeit hatte es durch das Gemisch von Wasser und Erde stark nachgedunkelt, bis es schwarz befleckt war. Zu Lisas Rechten war ein runder Griff aus Metall am Holz mit Schrauben befestigt. Er war zum größten Teil verrostet und hatte rot-braune Spuren auf der Stelle hinterlassen, auf der er auflag. Insgesamt ergaben die verwitterten Bohlen zusammen mit dem rostigen Griff eine Lukentüre.
Lisa war erstaunt, was sie hier entdeckt hatte. Sie blickte zu der Stelle, an der sich der Kater vor kurzem noch geputzt hatte, jedoch war dieser spurlos verschwunden. Sie fragte sich, wo er wohl hingegangen war. Vermutlich hatte er seine Bestimmung erfüllt, sie zu diesem Ort zu führen und ihr die Türe nahe der Felsgruppe zu zeigen.
Lisa packte den Griff mit einer Hand und zog kräftig an ihm, die Türe aber hob sie nur ein paar Zentimeter an. Sie nahm die andere Hand zur Hilfe dazu und zog mit aller Gewalt an der Türe. Die Holzbohlen ließen sich schwerfällig anheben. Unter Ächzen und mit zusammengebissenen Zähnen schaffte es Lisa tatsächlich, die massive Tür zu öffnen. Schweiß rann ihr von der Stirn in den gähnenden Abgrund, der sich nun vor ihr aufat.
In das schwarze Loch hinein führte eine Aluminiumleiter, sie lehnte am oberen Rand des Eingangs an.
Lisa griff in die linke Hosentasche ihrer Jeans und zog ihren Schlüsselbund heraus. An ihm hing neben ihrem Haus- und Fahrradschlüssel noch eine kleine, schwarze Mclight. Sie drehte ihren Anfang ein wenig im Uhrzeigersinn, dann leuchtete ein heller LED-Strahl. Lisa schien in den Abgrund hinein. Der Strahl drang bis auf den Grund. Die Leiter warf einen schmalen Schatten. Lisa erkannte, dass der Gang horizontal fortführte. Scheinbar hatte hier jemand ein unterirdisches Tunnelsystem oder einen Minenschacht angelegt.
Lisa fühlte, dass die Begegnung mit dem Kater Schicksal war. Irgendwas sollte sie sehen, das vermutlich mit der grausamen Nacht vor einigen Monaten zu hatte.
Sie sah mutlos in den dunklen Gang hinein. Die Angst davor, die Leiter hinunterzusteigen und das Innere in der Tiefe zu erkunden, bereitete ihr ein kaltes Schaudern von der Fußspitze an bis zum Scheitel.
Doch es musste sein! Es ging nicht anders, denn schlussendlich war sie überzeugt davon, dass sie hier unten die Wahrheit über die Unglücksnacht ihres Lebens herausfinden konnte und das ging nur in dem sie dafür auch ein Opfer brachte oder Lisa musste ihr restliches Leben mit Grübeln darüber verbringen, was damals der Auslöser für ihr außerordentlich brutales Verhalten war.
Also erklomm sie die Leiter - sie stand erstaunlich fest. Ihr eingegrabenes Ende bildete ein solides Fundament.
Jeder Lisas Schritte schallte hell nach außen. Unten angekommen setzte sie auf weicher Erde auf. Es war feucht, sie befand sich nur wenige Meter über dem Grundwasserspiegel.
Ein modriger Geruch stieg in Lisas Nase, sie rümpfte sie, da sie etwas Ekel überkam.
Lisa schien in den vor ihr liegenden Gang hinein. der weiße LED-Strahl reichte nicht bis zum Ende. Der Gang war mit Holzbalken gestützt; sie warfen lange Schatten. Das Holz der Stützen wurde vermutlich aus den Bäumen des Waldes angefertigt.
Lisa fasste sich ein Herz und schritt behutsam in den Gang hinein; der modrige Gestank wurde intensiver. Übelkeit erreichte ihren Magen; Lisa widerstand dem Drang, sich zu übergeben. Aus Reflex hielt sie sich die Hand vor Mund und Nase, auch wenn das wenig effektiv gegen den Gestank war. Nach einer Weile gewöhnte sie sich allmählich an den üblen Geruch.
Der Weg führte sie tiefer in das Erdreich hinein. Hier unten unten war es kalt; Lisa fror und zitterte in dessen Folge am ganzen Leib; sie verschränkte die Arme voreinander.
Die kurze Jeans und die gelbe Sommerjacke aus dünner Baumwolle waren für derlei Expeditionen gänzlich ungeeignet.
Außerdem verengte sich der Tunnel um jeden Schritt, den sie ging, dass sie die Enge immer mehr bedrückte.
Sie sorgte sich gleichermaßen sowohl über die Stabilität der Balkenkonstruktion als auch über ausreichende Atemluft, denn das modrige Gebälk wirkte äußerst instabil und sie atmete bedrückend schwerfällig, dass sie langsam werdender vorankam. Lisa hechelte nach Luft, als der Gang links abbog und sie beinahe mit der Stirn gegen eine jäh auftauchende Türe aus grob aneinander geschlagenen Brettern stieß. Sie legte eine kurze Verschnaufpause ein, stützte sich kopfüber-hängend an einem Balken ab und prustete angestrengt.
Als sie sich wieder gefangen hatte, drückte Lisa abgezehrt die Türe auf.
Der Lichtstrahl der Taschenlampe schien in den dahinterliegenden Raum.
Merkwürdigerweise wurde er von der anderen Seite wieder zurückgeworfen.
Im Kegel des Lichts erkannten Lisa müde und leicht geblendeten Augen, dass die beschienene, gegenüberstehende Wand rundum mit Folie verkleidet war. Rustikal gearbeitete Arbeitstische standen davor. Auf ihnen waren verschiedene Laborgerätschaften platziert.
Zögernd betrat Lisa den Raum. Sie fühlte sich gänzlich unwohl - Unbehagenheit drückte auf ihren Magen und feine Schweißtröpfchen rannen ihre Stirn hinunter. Kurz hinter dem hölzernen Türrahmen stehend, beschien Lisa einen weite Teile des Raums. In der linken Ecke entdeckte sie einen etwas angerosteten Stromgenerator.
Dann schlug es ihr schaurig wie abrupt ins Gedächtnis, dass es mittlerweile zu spät war, den gesamten Weg zurückzulaufen, denn der Schein ihrer Taschenlampe begann zu schwächeln und die Luft war für den gesamten Rückweg merklich zu knapp.
Wie betrunken, bedingt durch die Luftknappheit, torkelte sie zum Generator, in der Hoffnung, Strom für irgendwas zu erzeugen, dass ihr Luft beschaffte.
Lisa griff mit zittriger Hand die schmierige Kordel des Generators, der scheinbar mit Kraftstoff lief. Sie betete, dass dieser betankt und funktionstüchtig war. Mit ihrer letzten Kraft zog Lisa und rutschte beinahe ab; der Generator stotterte nur. Verzweifelt ließ sie die Taschenlampe aus der Hand fallen und riss noch einmal kräftig mit beiden Händen; wieder passierte nichts. Panik vor dem Erstickungstod breitete sich in ihr aus. Hitze und Kälte durchströmten gleichzeitig ihren Nacken. Ihr Blick verschwamm und plötzlicher Schwindel überrumpelte sie. Beinahe kippte sie ohnmächtig um, doch sie raffte sich noch einmal auf und zog verzweifelt mit dem letztmöglichen Aufgebot ihrer Kräfte an der verdammten Kordel.
Nun kraftlos vor Anstrengung und Sauerstoffmangel ging sie schließlich doch ohnmächtig zu Boden. Der Stromerzeuger brummte laut auf, dann brodelte er lärmend und gleichmäßig weiter.
Darauffolgend flackerten an der bröckeligen Decke montierte Lampen bis sie konstant ein dunkelgelbes Licht abwarfen. Lautes Brummen der alten Stromleitungen erfüllte den Raum. Der Krach, der von der gestarteten Lüftungsanlage herkam, glich dem Lärm alter Flugzeug-Propellermaschinen. Die Anlage saugte nun die verbrauchte Luft in dem unterirdischen Labor ab und strömte frische hinein.
Lisa blinzelte ein paar mal. Der rechte Teil ihres Schädels pochte höllisch. Sie verzog ihr Gesicht schmerzverzerrt. Dann hob sie behutsam den Kopf an und mit einer Hand tastete sie die den schmerzenden Teil ab. Auf der Handfläche und an den Fingern konnte sie kein Blut feststellen. Erleichtert atmete sie aus. Dann erst merkte sie, dass sie auf dem staubigen Boden lag. Wieder hatte sie Schwindel ergriffen. Sie hob den Kopf und neigte ihn. Im verschwommenen Gesichtsfeld erblickte Lisa den Stützbalken, der nur ein paar Meter weit von ihr stand.
Sie erinnerte sich, dass sie hemmungslos versuchte, den Generator zu starten und dabei Todesangst spürte. Dann begriff sie, dass sie die Kontrolle verloren haben und mit dem Kopf gegen den Balken gestoßen sein musste.
Lisa richtete sich behutsam auf. Wankend, als ob sie an Deck eines Segelschiffes auf hoher See bei kräftigen Sturm das Gleichgewicht austarierte, taumelte Lisa auf ihren Füßen, drohte wieder umzufallen, doch noch rechtzeitig ergriff sie den Balken, der ihr zuvor im Weg stand, und hielt sich an ihm fest.
Sie sah sich im Raum um - gespenstisch gelbes Licht warf lange Schatten der Laborinstrumente. Allerlei verschiedene Gläser, Fassungen und Geräte zum Zwecke der Analyse und Methoden-Anwendungen von Chemikalien standen geordnet auf den primitiven Wandschränken und Arbeitstischen.
In einigen Kolben und Reagenzgläsern weilten Flüssigkeiten mit unterschiedlichsten Farbtönen. Berichte, Statistiken und Notizen spickten die Folien, die Instrumentarien vor den bröckeligen Erdwänden schützten. Ein paar hohe Stahlschränke, die beinahe bis zur ebenfalls mit Folien verkleideten Decke reichten, standen neben den Labortischen. Ihre mattgrauen Türen waren beklebt mit den Namen derer Stoffe, die sie vermutlich beinhalteten. Lisa malte sich aus, was für eine Person hier unten im Geheimen wohl sein Unwesen trieb. Ihre Handflächen begannen bei ihren gruseligen Vorstellungen zu schwitzen.
Als Lisa sich wieder fing, ging sie ein paar vorsichtige Schritte in Richtung eines dunkelgrauen Laptops, der inmitten der Laborausrüstung stand.
Sie klappte seinen Bildschirm hoch und drückte den Powerbutton.
Der Computer fuhr hoch und nach kurzer Weile forderte Windows den Bediener auf, ein Passwort für den Zugang einzugeben. Lisa raunzte genervt, weil sie die Zugangsdaten natürlich nicht kannte. Auch konnte sie von dem angezeigten kryptischen Benutzernamen nicht ableiten, wer der Eigentümer dieses Laptops und schlussfolgend des gesamten Labors sein konnte.
Sie wusste nur, dass ihre Mutter von Beruf aus Chemikerin war und in einem Firmenlabor arbeitete. Isabelle hatte ihr mal erklärt, dass sie dort an der Erforschung von Medikamenten arbeitete, um schwerkranken Menschen die Genesung zu ermöglichen.
Doch was hätte ihre Mutter in so einem Versteck denn bitte erforschen wollen? Lisa fand den Gedanken vollkommen abwegig, dass sie hier unten im Geheimen an irgendetwas arbeitete, geschweige denn etwas aushecken wollte. Deshalb schüttelte sie nur den kopf und verdrängte diesen absurden Gedanken.
Ratlos sah sie sich im Raum um. Das Rauschen der Lüftungsanlage war das Einzige, was die Stille in diesem beengendem Schlupfloch durchbrach.
Lisa schlurfte nach einem Hinweis suchend, das Rätsel zu lösen, rüber zu den Reagenzgläsern, beugte sich vor, um die Flüssigkeiten in den ihnen näher zu betrachten. Das gelbe Licht der Deckenbeleuchtung, die auch hätte in einem Bergwerk hängen können, verfälschte die eigentlichen Farben der Chemikalien. Deshalb knipste Lisa Tischlampe neben sich an, um das wahre Aussehen der Chemikalien zu begutachten. Das weiße LED-Licht gab den Flüssigkeiten ihre wesentlichen Farbnuancen zurück.
Der helle Schein holte auch ein unscheinbar beschriebenes Papier aus dem Dunkeln des gedämpften Scheins der Deckenbeleuchtung neben den Reagenzgläsern hervor.
Lisas Aufmerksamkeit widmete sich ihm, weil es anders als die anderen nicht mit Graphen, Formeln oder Notizen bedruckt war, sondern ein ordentlich gegliederter Text in Handschrift mit blauer Tinte auf ihm niedergeschrieben stand.
Daneben lag eine feine Feder, ummantelt in einem Füller aus einem im weißen Licht silber schimmerndem Aluminiumgehäuse. Der Deckel lag daneben. Die gebrauchte Tinte war noch satt im Papier vorhanden.
Lisa nahm den Din-A-4-Zettel in die Hand. Er war mit keinem Namen unterzeichnet. Doch Lisa erkannte die augenscheinliche Handschrift ihrer Mutter wieder. Also las sie gebannt das in ihrer Hand befindliche Essay.
Die Wirkung des Substrats, an dem ich schon eine gefühlte Ewigkeit arbeite, ist verblüffend.
Keinesfalls hatte ich damit gerechnet, dass mir der erste Versuch gelingt.
Schließlich musste ich mich ja erst einmal an das angestrebte Produkt heranwagen, erschwerend hinzu kam auch noch, dass es keinerlei Aufzeichnungen gab oder überhaupt der Versuch bestand, etwas derlei komplexes und effizientes herzustellen.
Mit Hilfe des Mittels, war es mir ein Leichtes, Lisa für meine Zwecke zu manipulieren.
Die Tat, welche sie unter meiner Kontrolle vollzog, war nahezu perfekt ausgeführt. Ein paar Details, wie zum Beispiel die Wahl des Werkzeugs - in diesem Fall eine schlichtes Küchenmesser - hat noch Optimierungspotential.
Dennoch, das Produkt ist gegen all meine Erwartungen schon jetzt marktreif.
Ich freunde mich mit dem Gedanken an, die potenziellen Abnehmer bald schon mit meinem Erfolg überraschen zu können.
Fürs Marketing brauche ich noch einen eindringlichen Namen, vielleicht “Killing Sleep”.
Millionengewinne werde ich mit diesem Produkt auf Schwarzmärkten einfahren.
Dann kann ich endlich meinen mies bezahlten Job schmeißen - ich habe was Besseres verdient, als für diese Penner von Fairtec zu schuften und dabei zuzusehen, wie meine Arbeit irgendwelche blasierten Manageridioten und den Vorstand steinreich macht! Während ich dabei zusehe und mich mit ein paar Almosen begnügen muss.
Mir ist ein wahres Meisterwerk gelungen, ein Geniestreich sondergleichen!
Ich fühle mich euphorisch wie eine Göttin, die sieht, wie herausragend ihre Schöpfung tatsächlich ist.
Peter, dieser verdammte Mistkerl, war das perfekte Opfer - warum geht dieser Wichser auch immer wieder fremd und belügt mich ohne mit der Wimper zu zucken?
Als ob ich das Parfüm dieser Schlampen nicht gerochen hätte!
Ich hoffe, Lisa kommt über ihre Tat hinweg, schließlich trifft sie keinerlei Schuld.
Ich bin mir sicher, sie hat einen starken Geist und wird deshalb mit der Zeit ihrTrauma auch verarbeiten.
Lisa sah von dem Schreiben ab und guckte mit leerem Blick auf die gegenüber hängende Plane.
Ihr Körper zitterte heftig und Schweiß rann in Bächen von ihrer Stirn.
Hitze und Kälte flossen gleichzeitig durch ihren Körper und ihr Atem stockte.
Die fürchterliche Wahrheit hatte Lisa gnadenlos erwischt; sie hatte es doch geahnt, als sie das Labor untersuchte, doch sie wollte diese Unerträglichkeit einfach nicht wahrhaben.
Lisa glitt der Zettel aus ihrer schweißnassen Hand und ihr Blick wechselte gebannt auf den Füller.
Sie starrte ihn an, als wolle dieser ihr vielleicht doch noch das Gegenteil behaupten.
Dann griff sie ihn hastig und betrachte sein Äußeres ungeduldig mit zittrigen Händen von allen Seiten.
Ad hoc stoppte sie das Absuchen des Füllermantels, denn sie hatte den Vor- und Zunamen ihrer Mutter fein eingraviert in extravaganten Lettern im Aluminium entdeckt.
Die Welt stand für einen kurzen Moment still, denn dies war für Lisa das endliche Indiz dafür, welches sich mit der schwerwiegenden Beschuldigung, dass Isabelle in erster Linie eine Geisteskranke war, die sogar nicht davor zurückschreckte, ihre eigene Tochter zur Mörderin zu machen, mit den übrigen Indizien deckte.
Lisas Augen lösten sich zäh von dem Schriftzug, dann starrte sie mit ausgedehnten Augenlidern gegen die vor ihr hängende Folie.
Ihr Blick war vollkommen apathisch. All ihre Gedanken waren ausgelöscht, als sei sie mit einem Hieb wieder in den traumatischen Zustand versetzt worden, aus dem sie sich mühevoll nach gefühlt unendlich langer Zeit befreit hatte.
Dumpfe Schritte aus der Ferne hallten in das Labor herein.
Lisa drehte sich abrupt Richtung Eingang, um zu horchen, denn der Stromgenerator erschwerte das Vernehmen, anderer Geräusche.
Doch es bestand kein Zweifel; die hallenden Schritte kamen schnell näher.
Lisa begann verzweifelt nach einem geeigneten Versteck für sich zu suchen, denn sie war sich sicher, dass es für sie von aller höchster Bedeutung war, hier unten in diesem streng gehüteten Geheimnis nicht entdeckt zu werden. Ganz egal wer auch immer sie hier unten antreffen würde, vermutlich ginge diese Situation nicht gut für sie aus und auch ihrer eigenen Mutter traute sie jetzt die grausamsten Dinge zu.
Lisa öffnete hastig ein paar Schränke, um in einem Unterschlupf zu finden.
In den ersten beiden waren zu viele Böden verankert, auf denen Materialien gelagert waren. Lisa schloss eilig die metallen Schranktüren wieder, um ihre Spuren bestmöglich zu verwischen, trotzdem sie wusste, dass der laufende Generator und das elektrische Licht sie als erstes verrieten.
Die immer näher kommenden Schritte hallten lauter und lauter bis sie bald das Labor erreichten.
In ihrer Not sah sie sich verzweifelt im Raum um, dann unterbrach sie die hibbelige Suche nach einem passendem Versteck und schaute mit vor Panik verzerrtem Gesicht zum Eingang.
Ihr Herz raste vor Aufregung ihren Hals hinauf. Noch stand niemand in dem schmalen Durchgang zum Labor, also riss sie verzweifelt noch eine Schranktüre auf.
Lisa hatte wahnsinniges Glück im Unglück, denn der Schrank war absolut leer.
Doch bevor sie sich in diesem verkroch, rannte sie geistesgegenwärtig zum Generator und schaltete diesen aus. Das Tuckern der Maschine verlangsamte sich und das Licht schwächelte bis es ganz erlosch.
Lisa sprintete währenddessen zum geöffneten Schrank, quetschte sich in sein klaustrophobisches Inneres und schloss behutsam die Türe, um nicht ihr Versteck preiszugeben.
Die Schritte waren nun ganz dicht - vermutlich waren sie nur noch wenige Meter vor dem Laboreingang entfernt.
Dann stoppte auf einmal ihr dumpfer Takt. Völlige Stille drückte auf Lisas Brust und schnürte ihr die Kehle zu. Vor Angst wimmerte sie und hielt sich selbst den Mund mit einer Hand zu, um sich nicht zu verraten. Die Augen fest zusammengepresst, verloren ein paar Tränen des Leidens.
Ihr Herz trommelte bis zur Oberkante und drohte, durch ihren Hals herauszuspringen. Beinahe machte sich Lisa vor Angst in die Hose, konnte dies jedoch mit vehementer Anstrengung verhindern.
Lisa wagte angsterfüllt, einen Blick durch die Schlitze des Schranks zu werfen, doch sie konnte nur alles im hellen Lichtkegel erkennen.
Das weiße Licht warf Schatten in den Raum, die wie Dämonen geisterten.
Jene Schritte kamen mit aller Gemütlichkeit näher, so als wollte ihr Besitzer Lisa verhöhnen, da er genau wusste, dass sie in der Falle saß.
Wer oder was dort leuchtete, war für Lisa ein schwarzer Butzemann, im ebenfalls schwarzen Labor, nicht sichtbar - dadurch noch bedrohlicher. Lisa wähnte, geistig eingehüllt von ihrer Angst, dass das, was im Labor sein Unwesen trieb, sogar jenes Ungeheuer aus ihrem schlimmsten Albtraum fleischgeworden sein konnte.
Es bewegte sich mit aller Ruhe auf den Schreibtisch zu, beschien die Arbeitsfläche und blieb einen Moment lang davor stehen.
Lisas Augen, weit auf wie ein Scheunentor, vernahmen alles. Ihr ganzer Leib bebte wie die Erde beim Ausbruch eines Vulkans. Denn sie war sich gewiss, dass das, was in diesem Moment den Schreibtisch untersuchte, genau die veränderten Plätze von Füller und Manuskript erkannte.
Ein plötzliches Wimmern entglitt durch Lisas Finger; herausgepresst von Todesangst kombiniert mit unerträglichem Stress. Sie presste die Hände fester vor ihren Mund, als wolle sie sich selbst das Atmen verbieten.
Der Lichtkegel zeigte nun auf ihre Schrankreihe. Lisas Herz pochte rasanter. Sie konnte mitten in die Quelle der grellen Lichtquelle blicken. Es blendete sie. Für einen Augenblick schloss sie die Augen und sank zu Boden. Bereit Abschied von dieser Welt zu nehmen.
Die Schritte kamen bedächtig auf sie zu. Das wars für sie, dachte sich Lisa. Ihre Glieder wurden taub und ihr Kopf leer. Sie schloss mit dem Leben ab, als sie das donnernde Knallen aufgerissener Schranktüren aus Metall links neben sich vernahm. Noch einen Schrank hatte sie als Puffer, bis es sie zwangsläufig entdecken musste.
Das Knallen der zweiten Türe schepperte in ihren Ohren lauthals. Der Schall nistete sich durch ihren Gehörgang in ihr Hirn ein.
Sie konnte nicht mehr an sich halten und machte sich in die Hose.
Es war ja sowieso egal, weil sie in ein paar Augenblicken tot sein würde.
Hinter geschlossenen Augen sah sie ihr kurzes Leben an sich vorbeiziehen.
Es sollte nun einmal nur kurz weilen dürfen, dafür war sie aber hauptsächlich glücklich.
Ein piepsendes Miauen erklang. Lisa öffnete die Augen. Das konnte nur der Kater sein.
Sie stand auf und spähte durch die Schlitze des Schranks: ein Lichtkegel schwankte direkt vor ihr suchend durch den Raum. Was da schien, musste sich direkt mit dem Rücken zu ihr gewand vor dem Schrank befinden, in dem Lisa sich versteckte, auch wenn sie es in der Dunkelheit nicht genau erkennen konnte.
Mit einem Mal stieg der gleiche Mut in ihr empor, wie sie ihn im Kampf mit dem Monster in ihrem Traum vernommen hatte.
Lisa realisierte blitzschnell, dass sich ihr eine Chance bot, doch noch zu entkommen.
Mit dem Herzen in der Hand und ganzem Körpereinsatz trat sie die Schranktüre auf. Lisa spürte auf ihrer Fußsohle den Widerstand der harten Metalltüre, der dann hernach blitzschnell nachließ. Die Türe knallte wuchtig gegen den Eindringling. Er jaulte aus vollem Halse auf, die Stimme klang weiblich, und plumpste mit einem dumpfen Aufschlag zu Boden. Der Lichtkegel wirbelte chaotisch durch die Luft.
Lisa stürmte blitzschnell aus der klaustrophobischen Enge in die ungewisse Dunkelheit. Instinktiv machte sie einen großen Satz über die Stelle, wo das noch geschockte Wesen liegen konnte und stieß weiter vor bis zum Lichtkegel. Sie griff geschwind danach und fühlte den rauen Griff kalten Metalls einer Taschenlampe.
Lisa drehte sich ad-hoc um und hielt den grellen Lichtkegel auf die Stelle, wo sie ihren Gegner vermute, doch zu ihrem Entsetzen lag er nicht auf der angepeilten Stelle. Wild rotierte Lisa um die eigene Achse, in der Erwartung, im Licht der Taschenlampe, den Wüstling zu entdecken, aber sie konnte ihn nirgends im Lichtschein finden.
Ihr Puls raste und schoss Unmengen von Adrenalin durch ihre Blutbahn. In ihren Gedanken schlich sich der Gegner von hinten an sie heran und schlug sie mit einem kräftigen Hieb nieder. Jedoch passierte in Wirkichkeit nichts. Es herrschte nur Totenstille. Lisa blieb angsterfüllt und mit schweißnassen Händen in der beinahe völligen Dunkelheit stehen, allein. Sukzessiv beruhigte sich ihr Puls und ihr Hecheln wechselte zu einem schwerfälligen Keuchen. Lisa beugte sich vor und stützte ihren Körper mit den Händen auf den Oberschenkeln ab - sie war völlig aus der Puste.
Tiefes Unbehagen breitete sich in ihr aus. Der Angreifer konnte doch nicht einfach so ins Nichts verschwunden sein. Zumindest war die Annahme beruhigend, dass dieser jemand eine Frau zu sein schien und kein Monster. Das beschwichtigte Lisas wirren Kopf.
Mit langsamen Schritten und dem Herzen in der Hose bewegte sich Lisa in Richtungs des Ausgangs. Stets wachsam leuchtete sie jeden Höhlen-Winkel in der Dunkelheit aus, von dem sie glaubte, dass er sich als Nische für einen Überfall eignen konnte. Ihr Ohren spitzte sie, wie der Luchs auf der Jagd, um jedes erdenkliche Geräusch wahrzunehmen.
Als sie durch den langen Tunnel in Richtung des Ausgangs schlurfte, vernahm sie eine fremdartige Geräuschkulisse. Sie blieb auf der Stelle stehen, leuchtete vor ihr den Gang aus. Dort konnte sie nichts Ungewöhnliches feststellen, hinter ihr war es genau dasselbe. Nur die hölzernen Stützen warfen lange, gespenstische Schatten im Licht der Taschenlampe und Lisas Atemfrequenz stieg wieder rapide an, als wolle sie einen Sprint gewinnen. Nervös zuckte ihr linkes Augenlid. Stets beschlich sie das Gefühl, etwas säße ihr im Nacken, auch wenn nach vielen Vergewisserungen alles ruhig blieb.
Erleichterung und Hoffnung brachen in Lisa auf, als sie um die Ecke ging und das verheißungsvolle Tageslicht am Ende des dunklen Ganges erblickte, welches von oben herab erlösend die Finsternis in der Grube verjagte.
Sie knipste die Taschenlampe aus und stieg die modrigen Sprossen der hölzernen Leiter empor. Dabei spürte sie die Entlastung ihres Herzens, den Aufstieg aus der Hölle in den Himmel.
Erleichtert darüber wieder das Tageslicht genießen zu dürfen, stand sie mit ausgebreiteten Armen vor dem Loch, den Blick gen Himmel gerichtet. Der späte Mittag war schon angebrochen, die Sonne stand auf ihrem Zenit.
Ihre Strahlen wärmten Lisas fröstelnden Körper und blendeten ihre Augen, dass sie diese zu Schlitzen formte.
Der Himmel war klar - sein kobaltblau gab Lisa die leise Hoffnung, dass alles gut werden konnte.
Ihre Kleidung war von oben bis unten mit brauner Erde verdreckt. Sie rieb sich körnigen Sand aus dem Gesicht.
Was sollte sie denn jetzte nur tun? Nach Hause konnte sie schließlich nicht zurückkehren, wenn Isabelle tatsächlich das war, für das Lisa sie hielt.
Sie überlegte einen Moment, dabei presste sie ihre Lippen fest aufeinander und rieb nervös Zeigefinger und Daumen aneinander. Dann kam sie zu dem Entschluss, dass sie am besten das Labor der Polizei meldete und ihre Mutter dafür verantwortlich machte. So erhoffte sich Lisas zumindest Schutz vor Isabelle.
Leider hatte sie ärgerlicherweise den Zettel mit der Handschrift und den Füller ihrer Mutter im Labor gelassen. Lisa drehte sich um, sie wollte die Beweise holen. Jedoch, als sie in die schwarze Leere des Einstiegs sah, zögerte sie. Schließlich entschied Lisa sich gegen die Rückkehr in das Unheimliche.
Dann ging sie los, das nächste Polizeirevier als Ziel.
«Hallo, meine liebe Tochter. Wohin des Weges? Ich habe dir doch strikt verboten, in diesen Wald hineinzuspaziern!»
Die scharfe Bosheit in der Stimme der Mutter zerschnitt Lisas Herz mit einem Hieb aus dem Hinterhalt.
Sie blieb wie versteinert stehen, als hätte eine Medusa sie mit ihrem lähmenden Blick getroffen, der ihren gesamten Leib einfror und ihr Herz beinahe zum Stillstand brachte. Jedoch fing sich Lisa geschwind und wendete sich ungläubig Isabelle zu. Ihre Augen trafen den erzürnten Blick der Mutter.
Fahl wie ein Vampir stand sie nun breitbeinig, überlegen und gebieterisch vor ihr. Sie schnaufte. Ihre Brust hob und senkte sich so deutlich wie die eines Bullen, der bereit war, den Torero mit seinen wuchtigen Hörnen in Stücke zu reißen.
Dunkle Augenringe zeichneten sich konträr auf ihrer fahlen Haut ab und die sonst leuchtend blonden Haare waren einem Aschgrau gewichen. Ein Netz aus dicken, roten Adern zog sich durch das gesamte Weiß in Isabelles Augen.
Der Teufel in Person stellte Lisa sich hier.
«Ma...Mama, was soll das? Was machst du hier? Wieso siehst du so aus, als hättest du Wochenlang nicht geschlafen?»
Die Angst bebte in Lisas Stimme wie die Erde kurz vor einem Vulkanausbruch.
Doch auch Tapferkeit und Mut strahlte ihr erhobenes Haupt aus, bereit sich sogar ihrer erzürnten Mutter zu stellen.
«Was ich hier mache? Du dumme Göre, ich habe hier versucht für uns beide eine neues, besseres Leben aufzubauen. Was hast du dort unten gesehen?», schnauzte Isabelle ihre Tochter wutentbrannt an. Weißer Schaum flog dabei aus ihren Mundwinkeln - jegliche Liebe zu ihrer Tochter war ausgebrannt, falls sie je wirklich existiert hatte.
«Nichts», flüsterte Lisa. «Nichts, dass ich je von dir erwartet hätte.»
Tränen reflektieren das Sonnenlicht, die sich in Lisas Augen zu traurigen Seen sammelten und schwerfällig ihre kindlichen Wangen hinab flossen.
«Hör’ endlich mit dem Geheule auf. Ich habe dir unzählige Male gesagt, dass du hier nichts verloren hast!», schrie Isabelle Lisa aus voller Kehle an. Sie fuchtelte dabei wie eine Furie mit ihren Armen wilde, beleidigende Gestikulationen in Luft.
«Doch hören wolltest du ja leider nicht auf mich und jetzt ist es zu spät dafür», ergänzte Isabelle giftig, dabei hatte ihre Stimme einen scharfen Ton angenommen, der in eine unausgesprochene Todesdrohung mündete.
«Warum hast du Papa umgebracht und mich dafür als dein Werkzeug benutzt?» Lisas Stimme überschlug sich zusammen mit ihrer Panik und Angst.
«Meine liebe Tochter, das war nicht ich. Das warst du ganz allein du. Dies ist auch das Ergebnis der akribisch durchgeführten Polizeiuntersuchung. Das hast du doch nicht etwa vergessen?», entgegnete ihr Isabelle, währenddessen sich auf ihrem Gesicht ein fieses Grinsen entwickelte, welches in ihrem schattigen Gesicht ihre Bosheit in Gänze widerspiegelte.
«Du hättest hier nie herkommen sollen und diesen Brief nie lesen und das Labor nie sehen sollen! Dann wäre alles gut geworden. Das Trauma, welches du leider erlitten hattest, hast du doch schon längst überwunden. Dr. Wohltat hatte dich schon als beinahe geheilt betrachtet», prustete Isabelle ihre Worte hass entbrannt heraus. Worauf sie eine kurze Atempause einlegte. Dann fuhr sie ihre Schimpftirade fort: «Mit dem Substrat, welches ich ganz allein entwickelt habe, werde ich viel Geld verdienen und mir ein neues Leben aufbauen. Eines, das ich verdiene und du hättest ein Teil davon sein können! Aber du bist ja äußerst renitent und jetzt weißt du mehr als du wissen darfst.» Isabelle legte wieder eine Pause ein und bohrte in aller Stille ihren mörderischen Blick durch die dicke Luft bis in Lisas Herz hinein, das sie mit Furcht vergiftete.
«Nun hast du dir dafür die entsprechende Strafe verdient», schloss Isabelle ruhig ab.
Jene Worte aus dem Mund ihrer eigenen Mutter waren Gift und Galle, die sie ihrer Tochter wie eine bösartige Schlange direkt in das Gesicht spie, ihr Opfer erst zu lähmen und dann mit einem finalen Biss zu erlegen.
Lisas Herz klopfte wild vor Todesangst. Die Zeit schien auf einmal wie gelähmt.
Mit hellwachen Augen fokussierte Lisa den rechten Arm der Mutter, wie sie mit diesem hinter sich Griff und ein dunkles Klappmesser aus der schwarzen Stoffhose zog. Isabelle klappte mit der anderen Hand die daumenlange Klinge hervor. Das Einrasten brachte ein kurzes Klacken hervor. Die schneide blitzte im hellen Sonnenlicht bedrohlich.
Isabelle grinste ihre Tochter irrwitzig an - ihr Verstand war vollkommen dem Wahn verfallen.
Sie stieß zum Angriff einen wilden Schrei aus und stürmte auf Lisa mit der Messerspitze nach vorne gerichtet ein.
Bei dem barbarischen Anblick ihrer wahnsinnigen Mutter, wie diese wutentbrannt und brüllend auf sie los rannte, dazu bereit, die eigene Tochter aufzuschlitzen, fiel Lisa in eine Schockstarre. Jeder Eindruck ihrer Umgebung drang facettenreicher auf sie ein, als er es tatsächlich war.
Sie erkannte das von Hass zerfressene Gesicht Isabelles nicht wieder.
Das war nicht länger ihre Mutter; dieses Ding vor ihr hatte ihre Mutter getötet und sich ihres Körpers und ihres Verstandes ermächtigt.
Im linken Blickwinkel erkannte Lisa den seltsamen schwarzen Kater. Er fauchte wie wild und und bäumte sich in seiner vollen Länge auf.
Da taute Lisas vor Angst erstarrter Körper auf und sie erinnerte sich, dass sie dieses Monster schon einmal in ihrem Traum besiegt hatte, nur dass sie dieses Mal kein Messer in der Hand hatte.
Weglaufen konnte sie nicht, dafür war ihr Gegner einfach zu schnell - er würde sie einholen und mit dem Messer von hinten in ihren Rücken stechen. Der letzte Ausweg aus dieser prekären Lage war es, sich der einstigen Mutter im Kampf zu stellen!
Die Augenbrauen grimmig zusammengezogen, ging Lisa in die Knie, bereit im richtigen Moment zur Seite zu springen um dann überraschend die Flanke des Monsters anzugreifen. Im Sportunterricht hatte ihr Sportlehrer ihre Klasse eine Saison lang im Karate unterrichtet, auch mit Übungswaffen. Damals hatte sie sich eine der besten Noten erkämpft; jetzt war Lisa sich bewusst, dass sie um ihr Leben kämpfte.
Isabelle war nun genau vor ihr, sie stieß gewaltig mit der Messerspitze in Richtung Lisas Bauch. Diese sprang noch schnell genug zur Seite und der Stoß ging ins Leere. Zornig trat sie Isabelle seitlich in die Rippen - Lisa war sehr gelenkig. Ihr Fuß traf diese horizontal; jener wuchtige Stoß presste Isabelle die Luft aus den Lungenflügeln und dumpfer Schmerz trieb durch ihren Körper.
Sie drohte zu stürzen, doch ihre Beine balancierten notdürftig ihren angeschlagenen Körper, dass sie einen Aufprall auf dem Boden vermied.
Verblüfft tastete sie mit ihrer linken Hand die rechten Rippenbögen ab, da spürte sie, dass sie zwei Rippen in ihren Körper hineindrücken konnte.
Der Schmerz ebbte ab, die Wut in ihr hielt ihn zu ihren Gunsten für unabsehbare Zeit fern.
Isabelle spuckte aus. «Du bist ja eine ganz schön hartnäckige Göre, dass muss ich dir ja lassen. Das hast du von deinem Vater, doch dein Widerstand wird dir nichts nützen. Denn du wirst mir auch auch nicht im Weg stehen. Dass du gleich sterben wirst, hast du nur dir zu verdanken. Finde dich die damit ab und schieb’ dein unvermeidbares Schicksaal nicht unötig auf», wisperte Isabelle giftig, doch immer noch laut genug, dass Lisa ihre Drohung vernahm.
Isabelle wendete ihren gekrümmten Oberkörper Lisa zu. Noch immer hielt sie sich die verletzten Rippen. Mit den Augen, dunkel unterlaufen wie die eines Vampirs, fokussierte sie Lisa. Der Jäger fletschte seine Zähne und schnaubte Verachtung aus seinen Nüstern. Gekränkt in seiner Ehre, da das zierliche Ree sich seiner Natur widersetzte, vom Wolf wehrlos gerissen zu werden.
Noch einmal stürmte die Irre auf ihre Tochter zu, tosend wie die Wellen in der stürmischen See, bereit die widerständigen Felsen zu zermalmen. Aber dieses Mal mit mehr bedacht und deutlich angeschlagen.
Statt wie erwartet mit rasender Klinge durch die Luft zu fahren, stieß Isabelle mit der Hacke längs auf ihre Tochter ein. Die Wucht des Rammbocks prallte auf Lisas Abwehr. Sie zog ihren Oberkörper halbwegs aus der Trefferzone und blockte den Tritt mit ihrem Unterarm, dass dieser zur Seite gelenkt wurde. Durch die hastige Aktion geriet sie ins Wanken.
Isabelle schlug mit dem Handrücken nach und traf Lisas Stirn. Der vehemente Aufprall warf Lisa zu Boden. Sie schlug rückwärts auf. Ein hoher Pfeifton stach durch ihr Trommelfell, wie eine spitze Nähnadel durch den Stoff, und ihre Augen sahen nur noch schwammig, wie die eines Betrunkenen. Ihre Stirn pochte heftig. Ihr Leid war unerträglich. Die Schmerzen verzerrten ihr Gesicht und die höllische Qual ließ sie jammern und wehklagen.
Nun bewegte sich eine schemenhaft Gestalt über sie. Trotz ihrer Benommenheit begriff Lisa blitzschnell, dass sie hier weg musste. Sie rollte sich zur Seite. Ihr Blick klärte sich geringfügig - sie erkannte wie ein Fuß dort aufstampfte, wo gerade noch ihr Kopf lag.
Hastig schreckte sie hoch und stand geschwind wieder auf ihren Füßen. Ihr Instinkt kämpfte mit allen Mitteln für ihr Überleben.
Isabelle bereite sich auf die nächste Attacke vor, denn sie witterte, dass ihre Tochter schwächelte. Lisa wankte auf ihren Füßen seitwärts. Ihre Stirn dröhnte und sie vernahm ihre Umwelt durch milchige Augen. Auf der Zunge schmeckte sie Metall - bei dem Aufprall hatte sie sich versehentlich auf die Lippe gebissen, jetzt blutete diese stark und ein roter Faden schlängelte sich ihr Oberteil entlang und drang in seinen Stoff ein.
Lisa brauchte dringend eine Waffe, um sich gegen die Messerschnitte wehren zu können. Da fiel ihr ein, dass am Rand der Lichtung bestimmt große Äste lagen, die von den Bäumen gefallen waren.
Sie kehrte ihrer Mutter abrupt den Rücken zu und sprintete ungestüm auf den Waldrand zu; Isabelle setzte ihr nach. Der Tiger jagte die Gazelle. Lisa durfte jetzt auf gar keinen Fall stolpern, weil das ihr Ende wäre. Die eintretende Taubheit in ihrem Kopf und ihre spärliche Sicht belasteten ihre Orientierung erheblich. Lisa hatte ein paar Meter gemacht, als sie doch auf der Nassen Wiese ausrutschte und längs zu Boden fiel und sich dabei das Knie verdrehte. Geschwind drehte sie sich auf die Seite und machte zum Glück einen dunklen Schatten aus, der noch ein gutes Stück weit hinter ihr lag. Dann rappelte sie sich wieder auf. Den Schmerz im Knie ignorierte Lisa, doch musste sie vorwärts humpeln. Isabelle holte derweil schleunig auf, bald würde sie ihr Opfer erreichen. Lisa warf einen Blick nach hinten und stellte mit Entsetzen die Nähe zu Isabelle fest.
Da entdeckte sie noch rechtzeitig auf dem Boden einen massiven Ast mit dem sie zwischen sich und der Messerklinge ihrer Mutter einen gefahrlosen Abstand schaffen konnte. Hastig hob sie ihn auf; er wog schwer in ihren wunden Händen, doch gerüstet mit einer Waffe gab dies ihr ein Gefühl des Schutzes. Kurz überlegte sie, ob sie nicht einfach in den Wald hinein weglaufen sollte, entschied sich dann doch dagegen, weil ihr klar wurde, dass sie ihrer Mutter auf lange Sicht nicht entkommen konnte.
Lisa dreht sich um. Isabelle stand ihr nun zwei Armlängen entfernt gegenüber.
Sie hielt den Stock mit voller Länge schützend zwischen ihren Körper und ihre Mutter. Lisas Hände zitterten und ihre Nägel gruben sich panisch in die weiche Rinde des feuchten Holzes.
Isabelle grinste sie hämisch an. «Damit willst du mich also aufhalten, mit diesem morschen Stöckchen?»
«Komm mir bloß nicht zu nahe oder ich ziehe dir dieses Stöckchen einmal über den Schädel!»
Isabelle lachte Lisa hönisch aus. «Du glaubst ja wohl selbst nicht, dass du mich aufhalten kannst.» Dann fügte sie in einem mitleidigen Tonfall hinzu: «Lass es mich doch einfach schnell beenden, dann spürst du auch fast nichts.»
Das falsche Mitleid machte Lisa unglaublich wütend, daraufhin lief ihr Gesicht vor Zorn rot an. Sie wollte nicht länger das Opfer sein. Wie ein Vulkan brach sie aus, den Stock erhoben stürmte sie auf Isabelle zu und fuhr ihn mit Gebrüll auf sie nieder. Isabelle wich erschrocken über die plötzliche Attacke im letzten Moment aus und der Stock rammte in den Erdboden. Sie hatte im Leben nicht damit gerechnet, dass Lisa sich so massiv zur Wehr setzte.
Lisa riss ihre Waffe wieder hoch, um damit eine Folge von geschwinden Messerattacken zu parieren. Dann nutzte sie den Moment, in dem Isabelle ihre Deckung dank ihrer Raserei zu sehr vernachlässigte und schlug das Stockende von der Seite gegen ihr linkes Knie, es berstete widerlich.
Sofort knickte Isabelle ein und plumpste zu Boden, wie ein nasser Sack.
Sie schrie qualvoll auf. Ihr knie pochte, als wolle es herausspringen und der Schmerz war so stark, dass sie dachte, ihre Bein sei abgerissen. Isabelle tastete ihr Knie instinktiv ab, vermutlich war das Gelenk zertrümmert.
Geschlagen lag sie elendig am Boden und wimmerte fürchterlich. Lisa verspürte tiefes Mitleid bei diesem Anblick ihrer Mutter.
Trotzdem sie ihre Tochter umbringen wollte, fühlte Lisa jetzt eine innige Verbundenheit zu ihr - Lisa litt mit Isabelle. Tränen kullerten die kindlichen Wangen hinunter, bei dem leidvollen Anblick der Frau, die sie jahrelang liebevoll großgezogen hatte. Die Augen färbten sich feuerrot.
Der ganze Schmerz der vergangen Zeit seit dem Vorfall mit ihrem Vater brach aus ihrem Herzen auf einmal hervor und überrumpelte sie völlig.
Sie fiel auf die Knie und robbte zu Isabelle herüber.
Lisa nahm ihre Mutter fest in den Arm, trotz all der schrecklichen Dinge, die sie verbrochen hatte, liebte sie ihre Mutter immer noch und ihr Herz zersprang bei ihrem leidvollen Anblick.
Isabelle legte einen Arm um den Rücken ihrer Tochter, denn sie wollte ein Erwidern ihrer Liebe vortäuschen.
Lisa merkte nicht, wie Isabelle nach dem Messer tastete, das neben ihr lag.
Isabelle ertastete das kalte Metall des Griffs, dann nahm sie ihn fest in die Hand.
Die Klinge ließ sie behutsam hinaus fahren, dass das typische Klickgeräusch nicht vernehmbar war.
Langsam und vorsichtig führte sie die Klinge zu Lisas Halsschlagader und wollte gerade zustecken. Da hob Lisa den Kopf und blickte sie mit ihren verweinten Augen an «Mama, ich liebe dich. Ich brauche dich»
Isabelle erwiderte den Blick ihrer Tochter. Dort sah sie das Spiegelbild ihrer eigenen Seele. Es war zerfressen von Hass und Neid - widerlich von Kopf bis Fuß.
Sie erschrak vor sich selbst, was aus ihr geworden war, sogar fähig, das eigene Kind zu töten für Geld und ein “besseres Leben”.
Als sie sich selbst erkannte und sie merkte, dass aus ihr ein Monster geworden war, spürte sie, dass sie sich in Wahrheit selbst hasste.
Die plötzliche Erkenntnis überwältigte sie und ein unvorstellbarer Schmerz brach aus ihrem Herzen aus, dann weinte sie bitterlich. Doch auch die Liebe zu ihrer Tochter fühlte sie nun wieder durch den gesprengten Eisblock in ihrem Herzen.
Isabelle ließ das Messer zu Boden sinken und liebkoste ihre Tochter.
Der Kater hatte aus seiner Deckung heraus den Kampf beobachtet und sah jetzt, wie Mutter und Tochter sich versöhnten.
Dann wand er sich aus dem Geäst des Busches ins Freie und entschwand in den dunklen Wald.