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Ein Ausflug im Herbst

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19.08.2013
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Ein Ausflug im Herbst

Eines sonnigen Nachmittags im Oktober beschlossen sie, die Aussichtsplattform in N. zu besuchen. Sie, das waren Carl und Eva, ein in die Jahre gekommenes, in einer Pflichtehe lebendes Paar. Pflichtehe – ein Ausdruck, den sie beide in Gedanken oft benutzten. Ihre Kinder waren aus dem Haus, lebten mit den Enkeln weit weg und einer wie der andere war zu bequem endlich die Scheidung einzureichen. Tagtägliche Grausamkeiten lösten die zärtlichen Gesten ab, Schweigen die langen Gespräche, und wer weiß, wann sie das letzte Mal intim gewesen waren. Doch jeder hatte sich arrangiert. Carl vertiefte sich in seine Holzarbeiten, während Eva sich auf das kleine Blumenbeet konzentrierte, welches ihre Einfahrt säumte. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten lief immer das Radio, da eines der wenigen Dinge, die sie noch verband, der gemeinsame Hass auf das Fernsehprogramm war. Oft dachte Eva darüber nach was schlimmer wäre – allein oder in der Gesellschaft ihres Ehemannes zu sterben. Sie kam nie zu einem eindeutigen Ergebnis.
An diesem Nachmittag nun, als Carl zeitungslesend über seinem 2- Uhr-Tee saß und Eva ein wenig döste, sagte der junge Mann im Radio: „So meine Lieben, wenn ihr heute noch nichts vor habt, dann packt die Sonnencreme ein, denn das beste Wetter bekommt ihr auf dem Berg in N.! Und für die unter euch, die sich eine Erfrischung gönnen wollen, das Aussichtscafé dort ist auch nur zu empfehlen! Lasst euch das nicht entgehen, Leute!“ Carl hob den Kopf. „Hast du das gehört?“, fragte er seine Frau. Eva erwachte aus ihrem Dämmerschlaf. Sie hatte eine Art, ihre Finger wie die Krallen einer Katze auszustrecken, wenn sie erwachte. Außer dieser Eigenart hatte Carl aber nie etwas Außergewöhnliches an ihr entdecken können. Sie war eine Frau wie jede andere, und aus dem Grund hatte er sie auch geheiratet. Doch nun, mit zunehmendem Alter machte er sich immer mehr Sorgen, ob es das schon gewesen sein sollte. Er hatte diese Phase schon einmal, kurz nach seiner Hochzeit, aber da hatte er sich auf das alltägliche Eheleben neben Eva gefreut. Sie bot ihm Halt und das gute Gefühl von eintöniger Sicherheit. „Was sagtest du?“ Evas Stimme war überraschend tief für eine Frau, das kam, wie Carl wusste, vom Alkoholmissbrauch, den sie schon seit Jahren vor ihm geheimzuhalten versuchte. „Im Radio erzählten sie gerade etwas von einer Aussichtsplattform in N., wo es heute ganz schön sein soll. Möchtest du dorthin fahren?“ Eva überlegt einen Moment. Ihren warmen Platz auf dem Sofa einzutauschen gegen den unbequemen Stuhl in einem Café, zwischen lauter anderen alternden Leuten, das klang nicht gerade überzeugend. „Nun gut, von mir aus“, antwortete sie letztendlich. Sie war gespannt, was Carl ihr erzählen wollte, wenn er sich nicht mehr hinter seiner Zeitung verstecken konnte. Er war der mit Abstand uninteressanteste Mann, den sie je gekannt hatte. „Gut“, sagte Carl, „in einer Viertelstunde fahren wir los.“

Später saßen beide im Auto und glitten über die Landstraße nach N. Die Felder draußen verwandelten sich in Hügel und endlich tauchte das Ortsschild mit dem Namen des kleinen Bergdorfs auf, in dem sich die Liftstation befand. Die Aussichtsplattform konnte nur durch die Seilbahn erreicht werden. Es war ein wunderschöner Herbsttag und die gelb- und orangegefärbten Blätter hingen von keinem Lufthauch bewegt vor dem strahlend blauen Himmel. Carl parkte den Wagen und gemeinsam gingen sie hinüber zu der kleinen Liftstation.
Eva hatte schon immer Höhenangst gehabt und ihr Mann bemerkte ein vergnügtes Kribbeln im Bauch als er ihre nervösen Handbewegungen und unsicheren Schritte beim Einstieg in die Gondel registrierte. Mit einem Ruck setzte sich der Aufzug in Bewegung und das Paar schwebte Richtung Gipfel. Sie sah die ganze Zeit immer wieder aufgeregt aus dem kleinen Fenster und er machte ab und zu Bemerkungen wie: „schau nur, da unten ist unser Auto“, „mann, ist das hoch“ oder „wann die dieses Ding hier wohl zum letzten Mal gewartet haben?“, bis Eva so verstört war, dass sie die ganze restliche Zeit ihre Knie umklammert hielt und auf ihre kleinen weißen Stoffschuhe starrte. Oben angekommen entstiegen sie der Gondel und Carl war sehr gut aufgelegt.
Ein kleiner, schmutzig grau gepflasterter Weg führte bis zum kahlen Gipfel hinaus, wo ein flacher Bau mit allseitiger Verglasung die Aufschrift „Café „Zur schönen Aussicht“ trug. Vor dem Eingang standen ein paar ältere Herren und bliesen blauen Pfeifenrauch in die saubere Herbstluft. Sie trugen ausgewaschene Hemden mit geschmacklosen Pullundern darüber. Ihre Gesichter waren vom jahrelangen Tabakkonsum gezeichnet und, wäre Eva in der Stimmung gewesen, hätte sie Carl „schau mal, Schildkröten“ zugeflüstert. Das Ehepaar betrat das Café und bekam einen der besseren Tische am Fenster, da trotz des guten Wetters nicht viele Gäste außer ihnen dort waren. Dennoch ließ sich die Kellnerin Zeit, und da Carls Blase nicht mehr die jüngste war, erhob er sich nach einer Weile des schweigenden Wartens und ging ins Bad.
Als er zurückkehrte, saß Eva vor einem Milchkaffee mit riesiger Sahnehaube, während auf seinem Platz eine winzige Tasse Espresso stand. Eva wusste genau, wie sehr er Espresso hasste und Sahne liebte, und er wusste auch, dass sie sich mit ihren Cholesterinwerten die Sahne nicht erlauben konnte. Außerdem war sie sich im Klaren darüber, dass Espresso bei ihm einen „durchschlagenden“ Effekt erzielte.
Dies alles wissend starrten sie sich eine Weile an, der eine verbissen, der andere vergnügt, bis Carl seinen Blick auf das Tässchen vor ihm senkte und mit verkniffener Wut Zucker hinein streute. So weit war es schon gekommen mit ihnen, aber was sollte das Nachdenken darüber, ändern konnte man ohnehin nichts mehr. Also trank er einfach seinen Espresso, obwohl er wusste, dass er dies in spätestens einer halben Stunde bereuen würde. Die Kellnerin schaute an ihrem Tisch vorbei und sie bestellten Torte, er ausdrücklich mit viel Sahne. Als der Kuchen endlich kam, hatte ihr Schweigen wieder einen Grund und es fühlte sich für beide sofort angenehmer an. Ab und zu blickte einer nach draußen auf die fantastische Aussicht und die nackten Bergspitzen. Das Ehepaar am Nachbartisch begann sich lauthals um eine Nebensächlichkeit zu streiten, bis die Kellnerin herbeieilte und um Ruhe bat. Eva beobachtete während der gesamten Auseinandersetzung den verzweifelten Gesichtsausdruck der Kinder, die zwischen ihren Eltern saßen. „Wir haben alles richtig gemacht“, ließ Eva mit verbissener Überzeugung beiläufig in Richtung Carl fallen, und der nickte und prostete ihr mit seinem Espresso zu. Sie zog sich zurück in die Stille und betrachtete die blassblauen Gipfel in der Ferne, dann wandte sie sich wieder dem Inneren des Cafés zu. Ihr Blick wanderte über die Tische und blieb an den Zeigern einer Wanduhr aus Holz hängen. Eva zählte die Sekunden, bis Carl aufstehen und sich gemessenen Schrittes aber mit unterschwelliger Eile, in Richtung Toilette bewegen würde.
Endlich war es soweit: Carl erhob sich, hielt mit schmerzverzerrtem Gesicht eine Hand auf den Bauch, warf seiner Frau einen wütenden Blick zu und verschwand. Dies war ein eindeutiger Sieg, beschloss sie, nach der Sache im Lift war sie geradezu verpflichtet gewesen ihm Paroli zu bieten. Eine stille Übereinkunft zwischen ihnen legte fest, dass man nie dem anderen Zorn für eine von dessen Grausamkeiten zeigen durfte. Diesen Triumph würde sie also seelenruhig auskosten können. Sie blickte zurück zu der jungen Familie, dorthin, wo die Erwachsenen sich böse anfunkelten und die Kinder mit gesenktem Blick traurig in ihren Eisbechern stocherten. Erbärmlich, dachte Eva, aber diese Eltern werden auch noch dahinter kommen, wie es gemacht wird.
Plötzlich durchschnitt ein Knall die Stille ihrer Gedanken. Sie blickte auf und sah Scherben von Geschirr und Glas, und dazwischen die Reste von Sahnetorte. Überall auf dem Boden war Rotwein verspritzt und besudelte die glänzende Linoleumfläche. Die Kellnerin stand in dem Chaos, mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund – ein furchtbar dämlicher, unvorteilhafter Anblick für ihr ansonsten angenehmes Gesicht, dachte sich Eva. Vor der Frau stand ein Mann, jedoch konnte man ihn nicht richtig erkennen, da er den anderen Gästen den Rücken zu wandte. Er war groß, dunkel und unauffällig gekleidet und hielt ein Messer auf sie gerichtet. „Ich sagte, sperren Sie die verdammte Tür ab!“, brüllte er die Kellnerin an und das ganze Restaurant starrte verstummt. Er hatte es anscheinend zuvor leise zu ihr gesagt und sie wollte nicht spuren – was für ein dummes, einfältiges Ding. Nun wankte sie zur Tür und sperrte ab. Draußen stand niemand mehr und rauchte, die Schildkröten hatten sich an einen Tisch in der Ecke zurückgezogen, von dem sie nun mit violett unterlaufenen Augen herüberstierten.
Der Mann drehte sich langsam zu den Gästen um und unter den Rändern seiner schwarzen Sonnenbrille glänzte das Fleisch weiß wie das einer Made, er war nur nicht so fett. „Keiner“, schnurrte es aus seiner Kehle mit rauchiger, jedoch nicht unsympathischer Stimme, „rührt sich vom Fleck.“ Keiner sah aus als wollte er Anstalten dazu machen. Als er sich zurück zum Tresen wandte, bemerkte Eva in der Drehung seines Körpers den Umriss eines Revolvers, der sich in der Tasche seines Kapuzenpullovers abzeichnete. „Mach mir 'nen Kaffee“, wies er die Kellnerin an, „und dann kehr das auf.“ Sie tat es, und während er seinen Kaffee schlürfte und sie auf Knien die Scherben zu seinen Füßen auffegte, betrachtete das Publikum im Café die Szenerie gespannt, wie als wären sie Zeugen eines gut inszenierten Stücks und nicht die Mahlzeit eines Geparden im Zoogehege. Der Koch kam aus der Küche und wurde sofort von der Bedienung dorthin zurückgedrängt. Eva begann sich zu amüsieren. Da passierte nach 30 Jahren Ehe endlich etwas, worüber man sich ernsthaft unterhalten konnte, und Carl hockte auf dem Klo – das war mal wieder typisch für ihn.
Sie betrachtete den Rücken des Mannes und ihre Stimme klang lauter als sie vermutet hatte durch die erdrückende Stille: „Was wollen Sie hier?“ Der Mann wandte sich langsam zu ihr um und konnte sie sofort als Urheber der Frage ausmachen. Nach einer kurzen Pause, während der die Anspannung so groß wurde, dass Eva am liebsten vor Vergnügen gekichert hätte, antwortete er. „Kennen Sie das Gefühl, wenn Ihnen die Hände gebunden sind, wenn Sie jemanden vor etwas bewahren wollen, es aber nicht können? Nein, vermutlich nicht, denn Sie sind nur eine durchschnittliche Hausfrau. Und Sie maßen sich an, mich zu fragen, was ich will! Ich kenne dieses Gefühl nur zu gut!“ Er redete sich in Rage und das blütenweiße Gesicht wurde rot, „Ich will Gerechtigkeit!“ Dann zog er blitzschnell seine Waffe, richtete sie auf die Kellnerin in der Küchentür und drückte ab. Mit einem Aufschrei ging sie zu Boden.
Totenstille senkte sich über das Café, als ihre Schreie endlich versiegten.
Eva sah Carls Gesicht vom Bad her zu ihrem Tisch spähen und sie schämte sich mehr denn je für ihn. Carl - der so hilflos war, mit seinem lächerlichen Strickpullover und den ergrauenden Haaren. Carl – den sie nur wegen seiner guten Arbeitsstelle geheiratet hatte, weil er eine gesicherte Zukunft versprach. Carl – der während der Momente, in denen sie intim gewesen waren, aussah wie ein kleiner Junge, so – lächerlich.
Sie wandte sich ab von dem Mann, der ihr so viele Stunden ihres Lebens so wenig bedeutet hatte und schaute lieber auf die große rote Lache, die sich unter der kleinen Gestalt in der weißen Schürze ausbreitete. An den Nachbartischen hörte sie Schluchzen und vermutete, dass die Kinder diese Gräueltat hatten mit ansehen müssen. Schade, dass die Bedienung nun tot war, da würde sie sich ihren Nachmittagsbrandy wohl alleine holen müssen.
Carl beobachtete von der Toilettentür aus, wie sich seine Frau erhob und zum Tresen schritt. Sie war vollkommen ruhig und zeigte keinerlei Interesse für den nervösen Mann, der mit noch erhobenem Revolver über der Toten stand. Während sie ihn passierte, ließ er die Waffe sinken, fuhr sich erschöpft durch die Haare und setzte sich mit einem Seufzer an die Bar. Eva stieg über die leblose Kellnerin und begann, Brandy und Eiswürfel in ein Glas zu füllen, sie trank ihn so am liebsten. Der Mann legte seine Pistole beinahe liebevoll auf die Bar und stützte seinen Kopf in die Hände. „Für mich bitte auch einen.“ Wortlos stellte ihm Eva den Brandy hin und begann, einen zweiten zu machen. Dann setzte sie sich neben ihn. Carl war fassungslos. Er hätte gern noch mehr gesehen, doch ein stechender Schmerz in seinen Eingeweiden zwang ihn zur Rückkehr in den gekachelten Ort der Erlösung. Eva und der Mann nippten schweigend an ihren Gläsern.
Nach einer Weile begannen die Männer in der Ecke zu flüstern, denn niemand hält Stille lange aus. Als klar wurde, dass sich die Situation vorerst nicht ändern würde, wurden Spielkarten heraus geholt. Die Eltern verteilten weiße Blätter und Wachsmalstifte an ihre Kinder und diese begannen, bunte Linien zu ziehen, die fettig glänzten wie die Lache auf dem Boden vor der Küchentür. Einer der anderen Männer schaffte gemeinsam mit dem Koch die tote Frau in der hinteren Teil der Küche wo keiner sie sehen konnte, nur der Fleck, von dem eine kleine Tropfspur wegführte, blieb. Immer, wenn die Gläser an der Bar sich leerten, füllte Eva auf. Sie machte sich keine Vorstellung darüber, was als nächstes geschehen würde sondern genoss den Ausnahmezustand. Da sie Hochprozentiges gewohnt war, blieb ihr Verstand genau so scharf wie im nüchternen Zustand, während der Fremde zunehmend betrunken wirkte.
Nach einer Weile nahm er die Sonnenbrille ab und der Anblick seiner roten, verquollenen Augen, die so verletzlich aussahen, überraschte sie. „Was denkst du, was ich als nächstes tun werde?“, fragte er plötzlich. Eva blickte ihn verwundert an. „Ich weiß nicht.“ Er lachte. „Ich bringe euch alle um. Keiner wird dieses Café lebend verlassen. Und ihr sitzt alle hier und wartet nur auf euren Tod! Das beste ist doch, ihr könnt einander dabei zusehen!“ Sein Lachanfall machte allen Anwesenden mehr als deutlich klar, wie ernst er es meinte.
Carl war gerade von seiner zweiten Sitzung auf der Toilette zurückgekehrt, als er Lärm aus dem Schankraum hörte.
Eine der Schildkröten aus der Ecke war aufgesprungen und mit einem Tempo, das man ihr gar nicht zugetraut hätte, zur Bar gestürmt, hatte nach dem Revolver gegriffen, ihn aber um Zentimeter verfehlt und war hingefallen. Der Mann sprang auf, packte die Waffe und richtete sie auf den am Boden Liegenden. „Du willst also der Erste sein?“ Die Schildkröte wimmerte etwas Unverständliches, was mit der Kugel aus der Mündung der Waffe und einem erneuten Knall jäh abriss. Alle saßen wie die Kaninchen vor der Schlange, nur Eva nutzte den Moment. Ihr war klar geworden, dass dieser Mann, egal welche Motive er für seine Tat hatte, kein Mensch sein konnte. Deshalb entschied sie sich, aus ihrer bisherigen Trance aufzutauchen und schlug dem Mann, der noch wie gebannt auf den Toten zu seinen Füßen starrte, die Waffe aus der Hand. Er fuhr herum und griff nach ihrem Hals. Sie entkam ihm und es begann eine Jagd um den Tresen. Ihr Ziel war das Messer, welches auf der anderen Seite lag, dort wo die Spülbecken waren. Genau als sie dort ankam, packte er ihre Haare und riss sie zurück. Evas Hand verfehlte das Messer und griff stattdessen in seine Schneide. Blut verschmierte dunkelrot die saubere Metalloberfläche der Bar. Alle sahen gebannt zu und der Mann lachte erneut. „Meine Damen und Herren, die Vorstellung ist noch lange nicht vorbei! Kinder, seht her! Ich zeige Ihnen nun: die Alte stirbt, und keiner hilft ihr!“ Evas Kopf wurde nach unten gedrückt. Glatt und friedlich lag das Wasser des Spülbeckens vor ihr. Es war tief, ihr Kopf würde genau hineinpassen. Mit einer kräftigen Bewegung tauchte er ein und Eva schloss die Augen. Sie konnte ihre Todesangst nicht länger vor sich verstecken und instinktiv fragte sie sich, wo Carl war. Er, der auch diesmal wieder den Moment verpasste, in dem er beweisen konnte, dass er ihr Mann war.
Plötzlich lockerte sich der Griff und sie spürte, wie jemand sie am Arm hochriss. Carl war da, er zog sie hinaus und hatte das Messer an den Hals des Mannes gelegt. Eva reagierte sofort. Gemeinsam mit Carl packte sie den Mann und, unter den Blicken aller Gäste, drückten sie ihn solange unter Wasser, bis keine Luftblasen mehr aufstiegen.

Später hörten Carl und Eva beim Frühstück einen Radiobeitrag über den Vorfall. Der Mann im Café war ein Witwer gewesen, dessen Frau Kellnerin in der „Schönen Aussicht“ war. Eines Tages war sie auf Arbeit ausgerutscht, hatte sich den Kopf angeschlagen und alle, Gäste und Personal, hatten ihr beim Sterben zugesehen, ohne dass auch nur einer geholfen hatte. Ihr Mann hatte erst am nächsten Tag von ihrem Tod erfahren. „Das arme Ding“, meinte Eva kopfschüttelnd und sah von ihrem Strickzeug auf. „Wen meinst du, den Mann?“, fragte Carl. Sie schaute aus dem Fenster, nach draußen, wo die Bäume ihre Blätter abschüttelten wie nasse Hunde das Wasser. Mit einer fließenden Bewegung stand sie auf, ging um das Sofa herum und knetete sanft seine Schultern. Er blickte auf zu ihr, und sie lächelte.

 
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Hi, Lotta Johanna,
herzlich Willkommen bei kg.de.

Kriegst beides, ernsthafte Kritik und auch kleine Komplimente.
Hauptsächlich aber ganz ernsthafte Kritik, und ach ja, bitte nicht ärgern oder böse sein, denn es ist null persönlich gemeint und ich denke es bringt dir nichts, wenn ich nicht klar und ehrlich sage, was mir an deiner Geschichte noch nicht gefällt.
Ich glaube, du schreibst auch noch nicht so superlange, da ists ja klar, dass da noch einiges zu tun ist.
Aber erst mal das Lob. Man merkt deiner Geschichte an, dass du große Lust am Schreiben hast, ich finde es auch klasse, dass du den Mut hast, nicht nur eine kurze story zusammenzufabulieren, sondern dich an einem längeren plot zu probieren. Du schreibst flüssig in einem alltäglichen Stil, machst angenehm wenige Fehler (das ist beileibe keine Selbstverständlichkeit) und hin und wieder merkt man, dass du ungewöhnlichere Bilder gebrauchst, um Atmosphäre zu erzeugen oder etwas zu charakterisieren. Manchmal schießt du da über das Ziel hinaus, aber das finde ich jetzt auch nicht so schlimm, besser man schießt drüber raus, als es gar nicht zu probieren. Und dazu ist ja so ein Forum auch da, dass man sich da hilft.

Der Hauptkritikpunkt ist, dass die Geschichte inhaltlich auf tönernen Füßen steht. Man fragt sich als Leserin halt dauernd, warum die so bescheuert sind, aneinander festzuhalten, verheiratet zu bleiben, wenn sie sich doch so ätzend finden. Man muss heutztage doch nicht mehr verheiratet bleiben, wenn man sich scheiße findet. Wo ist denn da der Grund? Du musst/solltest den gar nicht so genau hinschreiben, aber du musst ihn in der Geschichte mitschwingen lassen.
Und da gibst du ja einen Anknüpfungspunkt, das ist, dass sie sich gegenseutig so schön verletzen und ärgern können. Das würde ich viel mehr ausbauen.
Manchmal empfand ich Aussagen der beiden übereinander auch als widersprüchlich, aber dazu später mehr.

Es ist auch doof, wenn die ganze story auf Figuren basiert, die so gar nicht nachvollziehbar sind. Ich finde es ja klasse, dass die sich gegenseitig so ferttig machen, aber wieso säuft denn der Ehemann den Espresso, er könnte ihn doch auch stehen lassen? Man hat dadurch das Gefühl, du schusterst dir das zurecht, damit die story geht, aber sowas darf man als Leser gar nicht merken. Also du müsstest irgendwie klar machen, warum die trotzdem zusammenbleiben, trotzdem den Espresso trinken oder in den Lift zu steigen. Und du müsstest das Kunststück hinkriegen, nachvollziehbar zu machen, wieso diese kleine Hausfrau so eine abgebrühte Nudel ist, die so gar keine Angst oder kein Mitleid zu haben scheint, als der Geiselnehmer da auftaucht. Ich find das ja irgendwie drollig und abgefahren, dass das Pärchen bei aller Altbackenheit so ein paar Agententricks drauf hat, auch dass die Leute in dem Cafe so ungerührt mit ihrem Treiben weitermachen, ist sehr skurril, aber irgendwas musst du dir was Zwingendes ausdenken oder es so hinkriegen, dass der Leser das mitmachen muss.

Du hast einen Erzähler gewählt, der aus der Perspektive beider Eheleute schaut. Also einen eher auktorialen Erzähler. Das hat man früher fast nur so gemacht, heutzutage ist das nicht mehr so üblich. Ich weiß nicht, ob das nur Zeitgeist ist, oder ob es einen guten Grund dafür gibt, warum man heute eher personal erzählt, ich persönlich fühle mich jedenfalls sehr schnell gelangweilt vomm allwissenden Erzähler, weil ich mich nicht mit einer der beiden Personen identifizieren kann und mir alles vom Erzähler vorgegeben wird, wie ich die Gefühle der Personen zu sehen habe.
Also wäre mein erster Ratschlag, dieses fiese kleine Kammerstück (das mein ich gar nicht negativ) aus der Perspektive von einer der beiden Personen zu schreiben. Ich rate dir zu der der Frau, weil du das am Ende auch so drin hast.

Mein zweiter wäre, szenischer zu schreiben. Den ganzen Anfang kannst du im Prinzip streichen, weil da berichtest du alles so einfach runter, was zwischen den beiden ist. Das will ich als Leser aber selbst erleben, ich will es sehen und hören und riechen, einen zusammenfassenden Bericht kann ich nicht riechen. Da müsste die muffige Atmosphäre spürbar werden, die Hosenträger, die ungewaschenen Socken, die fiesen kleinen Spitzen, ich will nicht gesagt bekommen, dass sie säuft, sondern lass sie das tun. Also mehr wie mit einer Kamera das alles begleiten und sie hören und wenn du magst um Gedanken des Protagonisten ergänzen.

Und jetzt noch Detailkritik:

Eines sonnigen Nachmittags im Oktober beschlossen sie, die Aussichtsplattform in N. zu besuchen. Sie, das waren Carl und Eva, ein in die Jahre gekommenes, in einer Pflichtehe lebendes Paar. Pflichtehe – ein Ausdruck, den sie beide in Gedanken oft benutzten. Ihre Kinder waren aus dem Haus, lebten mit den Enkeln weit weg und einer wie der andere war zu bequem endlich die Scheidung einzureichen. Tagtägliche Grausamkeiten lösten die zärtlichen Gesten ab, Schweigen die langen Gespräche, und wer weiß, wann sie das letzte Mal intim gewesen waren. Doch jeder hatte sich arrangiert. Carl vertiefte sich in seine Holzarbeiten, während Eva sich auf das kleine Blumenbeet konzentrierte, welches ihre Einfahrt säumte. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten lief immer das Radio, da eines der wenigen Dinge, die sie noch verband, der gemeinsame Hass auf das Fernsehprogramm war. Oft dachte Eva darüber nach was schlimmer wäre – allein oder in der Gesellschaft ihres Ehemannes zu sterben. Sie kam nie zu einem eindeutigen Ergebnis.
Ich bin mal gemein. Das, was du alles hier schreibst, sollte man nicht so einfach zusammenfassen. Das sollte man als Szene erleben, wie die sich anschweigen und man sollte es miterleben, wie die fies zueinader sind. Dass die sich mit Holzarbeiten oder Blumenbeeten beschäftigen ist übrigens für die Geschichte nicht besonders wichtig. Schön finde ich den Satz, wo sie sich überlegt, was für sie schlimmer wäre, allein oder in Gesellschaft ihres Ehemannes zu sterben. Mit dem kannst du sogar anfangen, wenn danach was Szenisches käme, also in die Radioszene kannst du ja eine Menge Wahrheiten über sie reinpacken, über ihr eigenartiges Eheleben usw. Ist bestimmt eine Aufgabe für dich, wärs für mich auch. Aber schad ja nix. Probieren kann man ja mal.

„So meine Lieben, wenn ihr heute noch nichts vor habt, dann packt die Sonnencreme ein, denn das beste Wetter bekommt ihr auf dem Berg in N.!
Gut ist es immer, wenn man Dinge benennt, also nicht einfach eine Wurstsorte, sondern dass der Ehemann Mortadella frisst, also denk dir einen Ort mit N aus. Oder wähle einen bestehenden mit N.

Sie hatte eine Art, ihre Finger wie die Krallen einer Katze auszustrecken, wenn sie erwachte.
Gefiel mir, weil du hier durch ihre Bewegung zeigst, dass mehr hinter ihr steckt, als nur Gurken ziehen.
Ist allerdings hier mehr aus der Perspektive von Carl, formuliert so würde sie selbst ja nicht über sich reden, müsstest es vielleicht eine Spur abwandeln.

Außer dieser Eigenart hatte Carl aber nie etwas Außergewöhnliches an ihr entdecken können. Sie war eine Frau wie jede andere, und aus dem Grund hatte er sie auch geheiratet. Doch nun, mit zunehmendem Alter machte er sich immer mehr Sorgen, ob es das schon gewesen sein sollte.
Außer dass das hier wieder mehr aus Carls Sicht ist, später kommen halt ganz viele Sachen, die nur die Frau wissen kann, das müsste man also abgleichen, wenn man aus der Persp. nur einer der beiden Personen schreibt, gefällt mir dieser Satz nicht. Man heiratet doch nicht eine Frau, weil sie ist wie jede andere. Ich meine, ich finde diese Idee für eine Geschichte ja irgendwie toll, aber das muss man dann ganz anders aufbereiten. Und wenn er eine Frau wie jede andere wollte, dann passt dazu so übergangslos nicht, dass er jetzt was vermisst.

Sie bot ihm Halt und das gute Gefühl von eintöniger Sicherheit.
eintöniger - das ist wieder so eine Erzählerwertung, die nicht zum Rest passt. Eintönigkeit ist kein gutes Gefühl.

Evas Stimme war überraschend tief für eine Frau, das kam, wie Carl wusste, vom Alkoholmissbrauch, den sie schon seit Jahren vor ihm geheimzuhalten versuchte.
Das muss man sehen oder miterleben, aber so dahingesagt, ist das eben nur Bericht und nicht Geschichte.

Eva überlegt einen Moment
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überlegte

Er war der mit Abstand uninteressanteste Mann, den sie je gekannt hatte.
Wieder mein Einwand. Warum heiratet man den langweiligsten Kerl auf Gottes weiter Erde? Warum bleibt sie? Das Ärgern scheint ja etwas zu sein, was beide zusammenhält, also bau das mehr aus.

Es war ein wunderschöner Herbsttag und die gelb- und orangegefärbten Blätter hingen von keinem Lufthauch bewegt vor dem strahlend blauen Himmel.
das Fette ist überflüssig, denn durch das Verb wird schon klar, dass es windstill ist. Mir gefällt aber auch "hingen" nicht so, es könnte ein schöneres Verb sein als das profane "hingen", was mir hier ganz gut gefällt, das ist nämlich, dass du zu diesem Psychopathenehepaar so ein paar idyllischeNaturdinge zeigst. Das würd ich glatt noch ein bisschen betonen, wär ein frecher Kontrast.

]

Eva hatte schon immer Höhenangst gehabt und ihr Mann bemerkte ein vergnügtes Kribbeln im Bauch als er ihre nervösen Handbewegungen und unsicheren Schritte beim Einstieg in die Gondel registrierte.
Ist halt wieder seine Sicht.

Vor dem Eingang standen ein paar ältere Herren und bliesen blauen Pfeifenrauch in die saubere Herbstluft. Sie trugen ausgewaschene Hemden mit geschmacklosen Pullundern darüber. Ihre Gesichter waren vom jahrelangen Tabakkonsum gezeichnet und, wäre Eva in der Stimmung gewesen, hätte sie Carl „schau mal, Schildkröten“ zugeflüstert.
Gefällt

So weit war es schon gekommen mit ihnen, aber was sollte das Nachdenken darüber, ändern konnte man ohnehin nichts mehr. Also trank er einfach seinen Espresso, obwohl er wusste, dass er dies in spätestens einer halben Stunde bereuen würde.
Ne, ne, ne, da machst du es dir zu einfach. Er braucht ihn nicht zu trinken, das ist ein Autorengrund, also ein hingeschriebener, aber das darf einem als Leser gar nicht auffallen, das muss absolut klar rüberkommen, der muss wirklich den Espresso trinken wollen aus einem nachvollziehbaren Grund und wenn nur, um auf den Rosenkrieg einen draufzusetze.

So, bis hierhin mal.
Ich wünsche dir noch eine Menge Spaß hier, ich hoffe, du kannst mit meinen Ideen und Eindrücken was anfangen.
Jedenfalls noch einen schönen Abend.
Viele Grüße
Novak

 
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Liebe Novak,

zuerst einmal: wahnsinn!
Wahnsinnig viel Dank für den langen Text mit so viel Kritik, Anregungen, und, und, und! Ich habe mich beim Lesen deines Kommentars zugegebenermaßen ertappt gefühlt, weil mir vieles, was du angesprochen hast, im Nachhinein als so dilletantischer Fehler aufgefallen ist. Aber dafür ist Kritik ja da! Der Ausflug im Herbst ist zwar nicht mein Erstlingswerk, jedoch mein erster längerer Text, dem ich Größeres zugetraut habe. Das Problem an der Geschichte ist, wie du ganz richtig erkannt hast, die Story, die an vielen Stellen ganz gravierend auf Krücken geht. Ich bin dir sehr dankbar, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast, besonders auf die kleinen Stützen, die ich meiner Geschichte ab und zu gebe, die für Leser nicht schlüssig sind.
Alles in allem habe ich mich sehr über deinen Kommentar gefreut, und kann mich jetzt konkret an die Verbesserung dieser kleinen "Fingerübung" machen.

Vielen Dank und einen schönen Dienstag noch,
Lotta

 

Hallo Lotta

Auch von mir ein Herzliches Willkommen in unserer Runde.

Mich hattest du mit dem ersten Abschnitt sofort in der Geschichte drin. Zwar passiert da nicht viel Außergewöhnliches, aber du bist sehr nah dran an den Figuren, das hat mir gleich gefallen.

Als Ausgangsbasis wählst du ein eingängiges Bild: eine Ehe, in der man irgendwann feststellt, dass man nebeneinander alt geworden ist, anstatt miteinander. Die Kluft wird umso größer, wenn die Kinder aus dem Haus sind (was du auch erwähnst) - das ist ein Bild, vor dem glaube ich viele Leute Angst haben. Man bekommt dann im Alter so einen Blick zurück auf sein Leben, wo einem vieles vielleicht verpfuscht vorkommt, was aber gar nicht so schlecht gewesen ist - die Traurigkeit im Alter trübt da den Blick auf das Vergangene:

Außer dieser Eigenart hatte Carl aber nie etwas Außergewöhnliches an ihr entdecken können.

Er war der mit Abstand uninteressanteste Mann, den sie je gekannt hatte.

Für mich sind das subjektive Empfindungen, die vor dreißig oder vierzig Jahren nicht gegolten haben müssen - heute meint man aber, man habe damals schon so gedacht, weil man sich an die schöne Zeit mit dem Partner gar nicht mehr erinnern kann, zu zerfressen ist man inzwischen vom Alltag.

Novak hat viele gute Dinge zur Erzählperspektive gesagt, und das ist auch tatsächlich das Problem am ersten Absatz - ein "objektiver" Erzähler von außen redet hier, dh. man kann das streng genommen gar nicht als subjektive Empfindungen lesen. Das macht das Ganze tatsächlich ein Stück weit kaputt, also ich würde dir raten, wenn du hier auf das personale Erzählen umschwenkst, diese Abschnitte beizubehalten, da sie dafür passender sind und dann auch dort eine stärkere Wirkung bekommen. Denn dann muss man diesen Sätzen nicht mehr unbedingt trauen und weiß automatisch, das ist subjektiv.

Evas Stimme war überraschend tief für eine Frau, das kam, wie Carl wusste, vom Alkoholmissbrauch, den sie schon seit Jahren vor ihm geheimzuhalten versuchte.

In einer Ehe ist das unmöglich, behaupte ich. Bestimmte Dinge kann man geheim halten, aber keinen Alkoholmissbrauch.

Eva hatte schon immer Höhenangst gehabt und ihr Mann bemerkte ein vergnügtes Kribbeln im Bauch als er ihre nervösen Handbewegungen und unsicheren Schritte beim Einstieg in die Gondel registrierte.

Ja das sind die kleinen Grausamkeiten, die du eingangs erwähnt hast. Ich finde es gut, dass du hier jetzt Beispiele bringst. Das "vergnügte Kribbeln" finde ich allerdings nicht so passend, Kribbeln bringe ich eher mit etwas Seltenem in Verbindung, aber die Gemeinheiten gehören ja irgendwie schon zum Alltag der beiden. Da kribbelt dann eigentlich nichts mehr. Auch "vergnüglich" ist mir schon fast zu viel, denn echten Spaß oder Vergnügen empfindet der Mann wohl schon lange nichts mehr. Mein Vorschlag ist "Genugtuung", und vielleicht fällt dir noch ein gutes Adjektiv dazu ein :)

Stilistisch ist mir an diesem Absatz folgendes aufgefallen:

Eva hatte schon immer Höhenangst gehabt und ihr Mann bemerkte ein vergnügtes Kribbeln im Bauch als er ihre nervösen Handbewegungen und unsicheren Schritte beim Einstieg in die Gondel registrierte. Mit einem Ruck setzte sich der Aufzug in Bewegung und das Paar schwebte Richtung Gipfel. Sie sah die ganze Zeit immer wieder aufgeregt aus dem kleinen Fenster und er machte ab und zu Bemerkungen wie: „schau nur, da unten ist unser Auto“, „mann, ist das hoch“ oder „wann die dieses Ding hier wohl zum letzten Mal gewartet haben?“, bis Eva so verstört war, dass sie die ganze restliche Zeit ihre Knie umklammert hielt und auf ihre kleinen weißen Stoffschuhe starrte.

Diese ganzen Zeitangaben sind unnötig, die ergeben sich alle aus dem Kontext des Erzählten. Da könntest du den Text straffen, was generell bei Kurzgeschichten keine schlechte Idee ist. Wenn sich derselbe Inhalt knapper beschreiben lässt, ist das in vielen Fällen auch besser.

Ihre Gesichter waren vom jahrelangen Tabakkonsum gezeichnet und, wäre Eva in der Stimmung gewesen, hätte sie Carl „schau mal, Schildkröten“ zugeflüstert.

Hat mir ebenfalls gut gefallen. Vor allem, weil hier durchscheint, wie die beiden mal gewesen sind, dass es da durchaus mal eine engere Bindung gegeben hat. Von daher könntest du hier sogar das "wäre in der Stimmung gewesen" ersetzen durch "vor einigen Jahren noch", so als Vorschlag. Das würde dann zumindest meinen Eindruck im ersten Absatz abrunden, dass die Vergangenheit nicht so schlecht gewesen ist, wie sie ihnen heute erscheint.

Dies alles wissend starrten sie sich eine Weile an, der eine verbissen, der andere vergnügt, bis Carl seinen Blick auf das Tässchen vor ihm senkte und mit verkniffener Wut Zucker hinein streute.

Fand ich auch nicht schlecht, ein skurilles Bild. Es ist eine Art Machtkampf, der da zwischen beiden tobt, und indem er den Espresso doch trinkt, sagt er ihr, du kannst mir gar nichts. Schau her, das macht mir nichts aus. So wirkt dieses Bild auf mich, auch wenn ich hier wieder das "vergnügt" durch etwas weniger Positives ersetzen würde, s. dazu meine Anmerkungen weiter oben.

Das Ehepaar am Nachbartisch begann sich lauthals um eine Nebensächlichkeit zu streiten, bis die Kellnerin herbeieilte und um Ruhe bat.

"sich um etwas streiten" heißt doch, das beide dieses Etwas haben wollen, oder? Daher finde ich hier "wegen" oder "über" besser.

„Wir haben alles richtig gemacht“, ließ Eva mit verbissener Überzeugung beiläufig in Richtung Carl fallen, und der nickte und prostete ihr mit seinem Espresso zu.

Hier verstehe ich nicht, was sie meint. Erst dachte ich, weil sie keine Kinder haben, aber die haben sie ja, wie anfangs erwähnt wird. Auch das "verbissen" gefällt mir hier nicht, das hattest du kurz vorher schon, vielleicht fällt dir hier noch was anderes ein.

Eine stille Übereinkunft zwischen ihnen legte fest, dass man nie dem anderen Zorn für eine von dessen Grausamkeiten zeigen durfte.

Würde ich komplett streichen, das geht für mich aus dem Kontext dieser Machtspielchen hervor. Natürlich will man nicht zeigen, das man verletzt wurde, und welchen anderen Grund sollte der Zorn haben? Auch "stille Übereinkunft", das klingt sehr formal, fand ich nicht so gut hier.

Plötzlich durchschnitt ein Knall die Stille ihrer Gedanken. Sie blickte auf und sah Scherben von Geschirr und Glas, und dazwischen die Reste von Sahnetorte.

Gut, es war klar, dass etwas passieren musste in dem Restaurant. Hier bekommt die Geschichte dann auch diesen surrealen Charakter, der die Rubrik "Seltsam" gerechtfertigt. Auch sind dann hin und wieder ganz amüsante Stellen zu finden, bspw. hier:

Da passierte nach 30 Jahren Ehe endlich etwas, worüber man sich ernsthaft unterhalten konnte, und Carl hockte auf dem Klo – das war mal wieder typisch für ihn.*

Das hier würde ich überlegen zu streichen:

„Kennen Sie das Gefühl, wenn Ihnen die Hände gebunden sind, wenn Sie jemanden vor etwas bewahren wollen, es aber nicht können? Nein, vermutlich nicht, denn Sie sind nur eine durchschnittliche Hausfrau. Und Sie maßen sich an, mich zu fragen, was ich will! Ich kenne dieses Gefühl nur zu gut!“

Das sind auch Erklärungen für den Leser. Wirklich reden würde er so ja nicht.

Sie wandte sich ab von dem Mann, der ihr so viele Stunden ihres Lebens so wenig bedeutet hatte und schaute lieber auf die große rote Lache, die sich unter der kleinen Gestalt in der weißen Schürze ausbreitete.

Schöner Satz, nur das "groß" kann raus - wenn die Lache rot ist, reicht das aus, und noch breitet sie sich ja aus, dh. "groß" wird sie ja erst noch.

Nach einer Weile begannen die Männer in der Ecke zu flüstern, denn niemand hält Stille lange aus.

Auch gut. Das ist eine ganz komische Stimmung jetzt, wenn man sich vorstellt, die Kellnerin liegt tot am Boden, und keiner rührt sich. In der Wirklichkeit würde das so wohl nicht ablaufen, aber ich finde das ein schräges Bild und gut platziert in der Geschichte.

Er lachte. „Ich bringe euch alle um. Keiner wird dieses Café lebend verlassen. Und ihr sitzt alle hier und wartet nur auf euren Tod! Das beste ist doch, ihr könnt einander dabei zusehen!“

Und damit beschreibt er nicht nur die Situation im Restaurant, sondern auch Carls und Evas Leben der letzten Jahre. Denn was haben sie schon groß gemacht, außer auf den Tod gewartet und sich selbst dabei zugesehen?

Das Ende ist dann ... hm, ja, seltsam eben :). Carl wird plötzlich doch aktiv, und das Ehepaar "unternimmt" wohl seit Jahren mal wieder etwas Gemeinsames, tritt wieder wirklich als "Paar" auf und tötet den Geiselnehmer. Am Ende wirken sie dann wie eine verschworene Gemeinschaft, wie sie ihm die Schulter knetet und lächelt ... als wüssten sie mehr als der Leser.

Insgesamt, Lotta, finde ich das ein schönes, interessantes Debüt. Stilistisch sind mir nur wenige Dinge negativ aufgefallen, hier und da lässt sich etwas straffen, hier und da fehlt auch noch ein Komma, aber das ist alles nichts Wildes. Ich fand das flüssig geschrieben und gut überarbeitet und freue mich auf weitere Texte von dir.

Viel Spaß noch hier beim Lesen und Kommentieren!

Grüsse,
Schwups

 
Zuletzt bearbeitet:

Servus Lotta Johanna,

dieses fiese kleine Kammerstück

wie Novak es so treffend nennt, hat mir überwiegend wirklich gut gefallen.
Also die Idee fand ich originell und auch sehr gelungen umgesetzt. Wie du diese alltägliche, eigentlich furchtbar deprimierende Ehehölle darstellst, mit all den herrlich schrägen Details, dieses lakonische und sozusagen automatisierte sich gegenseitig Quälen der Partner und wie du dann die Geschichte gegen Ende ins wirklich Absurde steigerst, ist schon klasse. Wobei du für mein Gefühl gerade die Schlussszene im Café, also diesen Showdown mit dem armen Amokläufer, ruhig noch ein bisschen überdrehter zeigen könntest. Muss ja nicht gleich tarantinomäßig sein, aber, weiß nicht, Carls Rettungsaktion geht mir irgendwie ein wenig zu glatt über die Bühne.

Zu den paar handwerklichen Schwächen wie wacklige Erzählperspektive, nicht hundertprozentig plausibles Verhalten der Figuren usw. haben dir sowohl Novak als auch Schwups schon sehr Hilfreiches und Kluges gesagt, das brauch ich jetzt nicht zu wiederholen, und du sagst ohnehin:

und kann mich jetzt konkret an die Verbesserung dieser kleinen "Fingerübung" machen.

Also ein paar kleine Vorschläge will ich dir auch noch machen:

und einer wie der andere war zu bequem [Komma] endlich die Scheidung einzureichen.

Er hatte diese Phase schon einmal [gehabt], kurz nach seiner Hochzeit, aber …

Ihren warmen Platz auf dem Sofa einzutauschen gegen den unbequemen Stuhl in einem Café, zwischen lauter anderen alternden Leuten, das klang nicht gerade überzeugend.

verlockend fände ich hier passender

da trotz des guten Wetters nicht viele Gäste außer ihnen dort waren.

Finde ich überflüssig

nach der Sache im Lift war sie geradezu verpflichtet gewesen [Komma] ihm Paroli zu bieten.

betrachtete das Publikum im Café die Szenerie gespannt, wie als wären sie Zeugen

wie gehört weg.
Das Publikum ist Singular, es müsste also „als wäre es Zeuge“ heißen. Klingt komisch, ich weiß, vielleicht schreibst du’s irgendwie anders.

und ihre Stimme klang lauter als sie vermutet hatte durch die erdrückende Stille:

Die Satzstellung gefällt mir hier nicht, und Kommas (eben habe ich spontan beschlossen, nie mehr Kommata zu schreiben, weil das einfach idiotisch klingt) fehlen auch, glaub ich.

Ja, Lotta, ein wirklich sympathischer und ambitionierter Einstand ist dir da gelungen. Ich bin schon auf die Überarbeitung gespannt und auf weitere Texte von dir.


offshore

Edit:
Fast vergessen: Mir gefiele es, wenn du die Formatierung dahingehend ändern könntest, dass bei direkter Rede jeder Sprecher eine eigene Zeile bekäme. Das strukturiert den Text und macht ihn angenehmer zu lesen.

Und noch ein Edit:
Ehrlich gesagt kann ich die Rubrikwahl nicht ganz nachvollziehen. Dein Text mag vielleicht schräg sein, aber seltsam ist er für mein Gefühl nicht. Der könnte allemal in Alltag stehen. Ich glaube auch, dass du dort mehr Leser bekämest.

 

Vielen Dank auch an Schwups und offshore für die liebe, durchdachte und kluge Kritik! Ich bin momentan ziemlich beschäftigt, aber die Überarbeitung ist in Arbeit und kann hoffentlich bald veröffentlicht werden. :)

 

Lobende Worte auch von mir. Deine Story erinnerte mich sofort an den Diner-Überfall in "Pulp Fiction". Rein vom Plot her kann man sicher noch mehr daraus machen, aber die Figurenzeichnung ist klasse, die Geschichte ist ohne großen Gähner lesbar. Nicht so toll fand ich, wie bereits Novak richtig bemerkte (Zitat: "Der Hauptkritikpunkt ist, dass die Geschichte inhaltlich auf tönernen Füßen steht.") dass es ein Paar in dieser Form wohl nicht geben kann. Entweder sie hassen sich oder eben nicht, keiner der beiden hätte Veranlassung, die genannten Gemeinheiten über Jahre zu ertragen.

Danke, nastro.

 

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