Ein Augenblick der Reue
Seine Schritte hallten laut in dem langen Gang. Kirchenatmosphäre. Der Mann, der hier entlang lief war nicht mehr jung. Sein graumeliertes Haar wurde von einem altmodischen breitkrempigen Filzhut zurückgehalten und ein bis zu den Knöcheln reichender, farblich zur Kopfbedeckung passender, schwarzledernder Mantel umschloss seine dürre Gestalt. Rechts und links zogen hölzerne Sitzbänke an Joshua vorbei. Nicht eine beherbergte einen reumütigen Menschen. Stiefel klackten auf kaltem Steinboden. Die Kirche war leer und sein Herz ausgebrannt von zuviel Leid. Die Hände, schmal und langgliedrig, hielt er in den tiefen Seitentaschen seines Überwurfes verborgen. Sie waren zu Fäusten geballt und pulsierten vor zurückgehaltenen Gefühlen.
Es war später Abend und kein Sonnenstrahl erhellte die breiten Buntglasfenster. Nur trübe Ahnungen christlicher Ereignisse schimmerten auf den durchscheinenden Kunstwerken - die heilige Glorie war ihnen von der Nacht geraubt worden. Joshua ging weiter auf sein Ziel, das große, vom hölzernen Körper Jesu geschmückte, Kreuz aus Stein zu.
Zwei bemalte Augen aus toter Eiche blickten auf ein vom Leben zerfurchtes Gesicht hinab. - Ohne Anteilnahme. Bar jeden Trostes für sein Gefolge. - Dicke Wachskerzen waren zu Füßen des Erlösers aufgestellt und brannten hier mit steter Flamme. Flackernde Schatten erfüllten die starren Muskeln der dornenbekränzten Skulptur mit falschem Leben. - Kein Mitleid. -
Joshua blickte eine Weile hinauf. Seinen Hut hatte er abgenommen und hielt ihn nun in der Hand, so dass sein wallender Schopf frei auf seine Schultern herabgefallen war. - Der Ritter vor seinem Herrscher. - Er fiel auf die Knie. Der aufblitzende Schmerz dabei kam gewollt und war befriedigend.
Zorn durchspülte seine Gedanken. Sprudelte endlos und füllte die schwarzen Abgründe seines Bewusstseins mit scharlachfarbenem Chaos. - So, wie das Blut aus ihnen herausgeflossen war und seine Füße warm gischtend bedeckt hatte. - Die wogende Brandung aus verebbender Existenz, welche seine Seele, die eines Mörders, auf alle Ewigkeit mit der Farbe des Todes branntmarkte. Was konnte er noch tun, um sein Leben, sich selbst, wahrhaftig angemessen für die schrecklichen Taten der Vergangenheit zu bestrafen, die Schuld abzuwaschen, welche sein Innerstes als rostroter Schorf überkrustete und stetig zersetzte.
Hoch droben, an der fernen Decke der Kirche, flogen gemalte Cherubim, pausbäckige kleine Kreaturen, erfüllt von heiliger Unschuld, über einen künstlichen, mit flauschigen Wolken verhangenen Himmel. Dort tollten sie mit- und umeinander herum, in ihr ewiges, sinnloses Spiel vertieft.
Der Mann senkte sein Haupt und schloss müde Lider. Eine wohlvertraute bleierne Schwere griff nach seinen Gliedern, aber dennoch erhob er sich langsam, wie um zu gehen. >> Jetzt. <<
„Du möchtest schon fort, mein Sohn?“ Die Worte kamen leise und kündeten dabei von einer geduldigen Sanftheit ihres Besitzers. Joshua wandte sich zu der Quelle dieser Stimme um und nahm einen kleinen gebeugten Mann im Priesterornat wahr, der sich in eben diesem Moment aus der Dunkelheit an der Seite des Altars schälte und gemütlich auf ihn zuschritt. Die Schatten entblößten ein freundliches runzliges Gesicht, welches von zwei gütig blinkenden Augen unter einer hohen zerfurchten Stirn ergänzt wurde. Er musste Joshua bereits seit einer Weile beobachtet haben.
„Ich habe dich schon oft hier her kommen sehen. Immer allein und spät am Abend, wenn die Kirche leer war.“ Während dieser kurzen Bemerkung kam der alte Geweihte ein Stück auf Joshua zu, bis er schließlich neben ihm zum Halten kam und sie beide gemeinsam das gekreuzigte Symbol des katholischen Glaubens betrachteten.
„Sagt mir, Vater, warum ist ein Mensch, wie er ist?“ Der Geistliche sah sein Gegenüber an, dieser starrte aber weiterhin unbewegt nach oben und ließ nicht erkennen, was er bei diesen Worten empfand. - Ein Räuspern. Den Blick senkend. - „Menschen sind verschieden. Alle Taten unseres Lebens liegen in unserem Ermessen und wir müssen entscheiden, was das Beste für unseren weiteren Weg im Diesseits ist. Ein jeder von uns hält die Fäden des Schicksals in seinen Händen und ist allein dafür verantwortlich, welches Muster er damit in den Teppich webt, den wir Vergangenheit nennen.“ Der Priester schaute wieder auf und lächelt flüchtig beim Studium des unbewegten bärtigen Gesichtes weit über ihm. Joshua sprach leise - der scharfe Unterton war schneidend scharf. „Und wo ist Gott bei all dem? Welche Rolle spielt er auf dieser Welt, wenn er uns keine Hilfe und Rettung anbieten kann... oder will?“ Eine kurze Pause unterbrach den Dialog, bis eine zögernde Antwort erfolgte: „Er ist da. Bei jedem von uns. Der Herr hat uns erschaffen und mit einer wundervollen Seele beschenkt. Aber Gott sieht sich nicht als Beherrscher seiner Schöpfung, sondern nur als stiller wohlwollender Beobachter, der uns dann schließlich nach dem Lebensende wieder in seine Arme schließt und unser Selbst in sich aufnimmt. Wo es dann auf alle Zeit hin in seiner Liebe schwimmt und frei ist von allen irdischen Qualen. Aber bis dahin hat er uns das Kostbarste in diesem Universum verliehen - den freien Willen, mit welchem wir unsere physische Existenz nach bestem Wissen und Gewissen gestalten und auskosten dürfen.“
>>Auskosten... << der dunkelgewandete Kirchenbesucher rollte das Wort genüsslich über seine Zunge, wendete es auf ihr, wie ein halb gares Stück Fleisch. „Aber die Hölle, was ist mit ihr? Unsere Verfehlungen müssen vergolten werden - irgendwie?“ Die Stimme des Fremden war dunkel gefärbt und zitterte vor unterdrückter Anspannung. Ein Schmunzeln vom Priester folgte gleichauf. „Hölle? Sie ist nichts weiter als das persönliche Fegefeuer, das unser Gewissen sich schafft, um eine Ausrede für die Folgen der Vergehen zu haben, welche wir in unserem Dasein irgendwann unweigerlich begehen ‚müssen’. Denn wir sind doch alle nur Menschen und dazu gehört es eben auch Fehler zu machen. Nicht wahr, mein Freund?“ Die grau überbuschten Augen des Alten zwinkerten Joshua zu.
„Fehler, ja... . Mein Leben ist voll von ihnen.“ Joshua wandte seinem Gesprächspartner das von einem Lächeln zerfetzte Gesicht zu. Auf der Miene des Priesters stritt indes bei diesem Anblick ein Zusammenspiel unterschiedlichster Emotionen um die Vorherrschaft. - Verständnisloses Entsetzen obsiegte letztlich. Der Alte wich einige Schritte zurück und sank kraftlos zu Boden. Mit belegter Zunge stammelte er: „Was ist mit euch geschehen? Euer Gesicht? Wer seid ihr?“ Schweißperlen glänzten im Kerzenschein auf seiner Stirn, während er langsam immer weiter vor dem fremdartigen Wesen vor ihm zurückkroch.
Ein purpurnes Leuchten umgloste Joshuas Kopf und illuminierte seine Züge auf eine unwirkliche Weise. Er sprach und seine Worte hallten wie der Donner eines Gewittersturms in der großen Kapelle: „Und der Herr sah am sechsten Tage, dass seine Schöpfung gut war. Am siebten Tage ruhte er und bedachte die glorreiche Zukunft, welche die Zeit für seine Kinder bereithalten würde, die zwei Wesen, Adam und Eva vom Namen. Ein Abbild seiner selbst, aber ohne die Perfektion, die Gott selbst gegeben war, da bis dahin nur er allein darüber entscheiden konnte, was wahr und falsch sein durfte, auf dieser unserer Welt. Aber Menschen entwickeln sich. Die Nachfahren des ersten Paares verlernten die Dinge, welche da Gott ihnen einst verkündet hatte. Sie schufen sich viele Arten des Glaubens, viele Weisen auf die sie ihren Schöpfer, ihren Ursprung, ja sich selbst sahen. Letztlich die Kriege. Millionen verlorener Seelen im Feldzug wegen der Uneinigkeit um etwas Ungreifbares geopfert. Dabei ist es so einfach...“ - Eine Gedankenflut. Schmerz. Offenbarung. Schweigen. - Zwei Augenpaare taxierten sich gegenseitig. Kerzenflammen hüpften aufgeregt auf ihren Dochten herum. Der Geruch kalter Angst erfüllte mit langsam zunehmender Intensität die Luft und Joshua ging. Knarrend öffneten sich die massiven Doppeltüren nach draußen und alles war wieder still. Theodor, auf dem Boden kauernd, seufze schwer auf. Seine von den ersten Anzeichen der Gicht befallene knorrige Hand wischte eine funkelnde Träne von der Wange. Deutlich hatte er die letzten Worte Joshuas in seinem Geist vernommen, in denen sie bis zu seinem Tode weiterleben und gedeihen würden. ‚Bittersüße Wahrheit, du umarmtest mich mit deiner dir eigenen samtenen Unerbittlichkeit und ach... ich genoss den Schmerz der Erkenntnis.’
Der alte Mann merkte nicht, wie er abwesend an seinem Kragen nestelte.