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Ein angenehmes Leben
Ein angenehmes Leben
War es nicht ein angenehmes Leben, das Marion und ich führen durften? Wir hatten ein kleines Häuschen, das für unsere Bedürfnisse vollkommen genügte, auch wenn es sehr einfach eingerichtet war. Für uns reichte es. Die meiste Zeit verbrachten wir auf der kleinen Bank vor unserem Haus, blickten in die Ferne und schwiegen. Wovon hätten wir auch erzählen sollen? Wir haben beide keine Erinnerung mehr an das, was vorher gewesen war.
Ist denn vorher etwas gewesen?
Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich vor diesem Haus erwachte. Damit beginnt das, was wir beide Vergangenheit nennen. Ich erwachte und sah Marion neben mir liegen. Damals hieß sie noch nicht Marion. Wir wussten unsere Namen nicht mehr und auch nicht, wie wir hierher gelangt waren. „Wo bin ich?“, fragte ich, aber Marion konnte keine Antwort geben. Bis heute gibt es keine Antwort auf diese Frage.
Ich mag unsere Umgebung nicht besonders. Überall liegt feiner, gelber Sand, ab und zu giftgrüne Büsche, die lieblos in den Boden gesteckt wurden. Aber ich will mich nicht beklagen. Jeden Morgen finden wir vor unserem Haus genügend Nahrung, um überleben zu können. Das Leben ist einfach, aber es genügt mir. Am Anfang suchten wir noch nach einem Ausweg, aber das war sinnlos.
„Wie heißt Du?“, fragte ich Marion. Sie zuckte nur mit den Schultern. Dann sagte sie: „Marion vielleicht, und Du?“ Ich nahm den erstbesten Namen, der mir einfiel. „Klaus“, sagte ich. Unsere Namen sind so falsch oder richtig wie das Leben, das wir führen.
Eines Tages gingen wir gemeinsam durch den gelben Sand und suchten nach etwas, dass uns vielleicht bekannt vorkommen würde. Es gab nichts. Nur diesen Sand und die giftgrünen Büsche. Irgendwann stießen wir auf das, was wir die Barriere nennen. Vor uns schien der gelbe Sand bis zur Unendlichkeit zu reichen, aber wir konnten keinen Schritt mehr vorwärts gehen. Es war, als wären wir auf eine Glaswand gestoßen, die sich vor uns bis in den Himmel erhob. Aber die Barriere ist nicht aus Glas, da ist nichts, was sich fest oder kalt anfühlt. Wir können nur nicht weitergehen. Manchmal glaube ich, dass diese Barriere nur in unseren Köpfen existiert und man den festen Willen aufbringen muss, den Weg weiter zu gehen, um die Barriere zu überwinden. Aber wenn ich die Grenze erreiche, kann ich nur daran denken, dass es nicht mehr weitergeht.
Wir folgten vorsichtig der unsichtbaren Barriere, die uns in einiger Entfernung um unser Haus herumführte. Seit dem ersten Mal bin ich sehr oft diesen Weg gegangen, allein oder mit Marion. Es sind immer rund dreihundert Schritte, die wir gehen können. Ein perfektes Quadrat und unser Haus steht genau in dessen Mitte.
„Wie kannst Du Dich nur mit unserer Situation zufrieden geben?“, schreit mich Marion manchmal an. „Was sollen wir denn tun?“, antworte ich. Dann schweigen wir wieder. Sie weiß, dass ich Recht habe und es keinen Ausweg gibt.
Meistens sitzen wir auf der kleinen Bank vor unserem Haus und starren in die Unendlichkeit. „Hast Du sie gesehen“ flüstert Marion und ich nicke stumm. Manchmal können wir sie sehen. Wir nennen sie „unsere Versorger“. Ab und zu tauchen in der Ferne undeutlich ihre schemenhaften Köpfe auf und riesige Augen, die uns beobachten. Sie sehen nicht aus wie Menschen, sie haben überhaupt nichts menschliches an sich. Aber sie beobachten uns – und sorgen dafür, dass wir am Morgen genügend Nahrung vor unserem Haus finden.
Wenn es hell wird, ohne das eine Sonne zu sehen wäre, verlassen wir das Haus und setzen uns auf die Bank. Wenn es dunkel wird, gehen wir in unser Haus und schlafen. Wir nennen dies Tag und Nacht. Den Dingen einen Namen zu geben, hilft uns, nicht verrückt zu werden.
Ich weiß nicht, was die Versorger von uns wollen. Sie scheinen uns nur zu beobachten. Sie sehen uns und wir sehen sie.
Manchmal finden wir am Morgen vor unserem Haus auch Dinge, die nicht zum Essen sind. Ich frage Marion, aber sie kann mir nicht sagen, was wir damit machen sollen. Es sind merkwürdige Geräte mit vielen Knöpfen und blinkenden Lichtern. Wir lassen sie liegen und am nächsten Morgen sind sie wieder verschwunden.
Eines Morgens fanden wir einen Mann vor unserem Haus. „Wer bist Du?“, fragte Marion. Der Mann sagte zögernd: „Klaus!“
„Das kann nicht sein“, rief ich, „mein Name ist auch Klaus.“
„Jetzt nicht mehr“, antwortete Klaus.
Ich habe keinen Namen mehr. Ich lebe auch nicht mehr im Haus. Marion hat entschieden, mit dem neuen Mann die Nächte im Haus zu verbringen. Für mich sei kein Platz mehr, sagen beide.
In der Nacht gehe ich zur Barriere und warte darauf, dass es wieder Tag wird.