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Ein Andermal

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20.04.2002
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Ein Andermal

EIN ANDERMAL
Von Henry Bienek


PROLOG

Ein Spielplatz in der Dämmerung.
Ich und meine Freunde beim Fangen spielen.
Der Schwarze Mann...
Lizzy ist dran.
Sie steht zehn Schritte hinter uns und ruft: „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“
Wir – Pablo, Derek, Tina und ich – schreien zurück: „NIEMAND!!!“
„Und wenn er kommt?“ ruft Lizzy.
„DANN LAUFEN WIR!!!“ Und dann rennen wir, bis wir die Baumstämme erreichen. Entweder hat Lizzy einen von uns gefangen oder sie muß noch mal ran...
Wieder hat sie mich gefangen.
Gemein.
Sie sucht immer mich aus. Ich glaube, sie macht das extra. Dabei habe ich ihr doch gar nichts getan.
Aber das bekommt sie zurück, denn jetzt bin ich dran. Und dieses Mal such ich mir auch sie aus. Eigentlich ist das ja verboten, aber das ist mir jetzt egal.
Sie ist fällig...
Jetzt stehe ich hinter den Vieren – Pablo, Derek, Tina und Lizzy – und rufe: „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“
„NIEMAND!!!“
„Und wenn er kommt?“
„DANN LAUFEN WIR!!!“
Ab jetzt läuft alles in Zeitlupe ab...
Lizzys Rücken vor mir – Sieben Schritte entfernt...
Ich gebe alles, aber wir spielen bereits schon den ganzen Nachmittag und ich bin erschöpft.
Ich bekomme sie nicht.
Sie ist nur noch zehn Schritte vom Waldrand entfernt.
Siebzehn Schritte für mich...
Neun Schritte...
Ich kriege sie nicht.
Acht Schritte...
Ich will aber.
Sieben Schritte...
Zu müde.
Sechs Schritte...
Ich werde langsamer.
Fünf Schritte...
Jetzt kriege ich sie eh nicht mehr.
Vier Schritte...
Ich bleibe stehen.
Drei Schritte...
Lizzy bleibt auch stehen. Abrupt, als wäre sie vor eine Mauer gelaufen. Aber es ist keine Mauer. Es ist eine Hand. Eine Hand an ihrem Hals. Auch die anderen sind stehen geblieben. Schon vorher. Lizzy war die Erste gewesen. Die Vorderste...
Und jetzt hat ER sie.
Atemlos stehe ich da. Kann kaum noch atmen. Der Anblick des Mannes mit dem schwarzen Mantel und meine Erschöpfung machen mir zu schaffen. Rasselnd geht mein Atem...
Alles ist wie erstarrt.
Lizzy am langen Arm des Mannes.
Des Schwarzen Mannes.
Und wir verteilt auf der Spielwiese. Erstarrt wie Skulpturen, zu Stein verwandelt von einer schwarzen Meduse. Keuchend und ungläubig, der Tatsache ins Gesicht blickend, wie schnell aus einem Spiel bitterer Ernst werden kann.
Für einen – langen, kurzen, nicht meßbaren – Augenblick ist die Welt nicht existent.
Dann stößt Lizzy einen kleinen, quiekenden Laut aus, als der schwarze Mann beginnt, sie auf den Waldrand zu zu ziehen. Er klingt überlaut in meinen Ohren. Ich sehe ihr ins Gesicht, als sie ihren Kopf zu mir bewegt, sehe Angst, Schmerz und Hilflosigkeit...
Irgend etwas passiert mit mir. Noch ehe ich darüber nachdenken kann, renne ich auf Lizzy und den schwarzen Mann zu. Brülle ihn an:
„Laß sie los!“
Meine Erschöpfung ist vergessen. Nicht existent. Vorbei...
Noch mal...
„Laß sie los!“
Jetzt habe ich die Beiden erreicht. Der schwarze Mann sieht mich an und grinst. Ein widerliches Grinsen voller gelbbrauner Zähne, die nicht zu diesem Gesicht passen. Zähne, die kreuz und quer und scharf und schartig in seinem Gebiß stecken.
Er wirbelt herum, dreht sich einmal um seine Achse. Sein Mantel weht an meinem Gesicht vorbei und fächelt mir ein letztes Mal Luft zu, bevor mich seine Faust trifft und gegen den nächsten Baum schleudert.
Bevor ich bewußtlos werde, höre ich noch seine gurgelnde Stimme:
„Ein andermal...“
Dann nichts mehr...

(1)
Schweißgebadet erwache ich in meinem Bett.
Wie jede Nacht.
Doch dieses Mal ist es das letzte Mal.
Heute abend wird es enden.
Auf die eine oder andere Weise.
Aber noch habe ich Zeit.
Zeit für den kühlen Stahl, der mir drei Stunden Frieden verspricht.
Kümmerlichen Frieden.
Ich muß nur meine Hände dazu bringen, etwas weniger zu zittern, damit ich mir das Heroin spritzen kann...

(2)
Niemand von den Zurückgebliebenen hatte den Schock jemals überwunden.
Pablo, Derek und Tina sind tot.
Pablo hatte sich mit der Waffe seines Vaters erschossen, als er alt genug war, sie anzuheben. Er war zwölf Jahre alt gewesen, und man gab seinem alten Herrn die Schuld an dem Unglück. Aber Tina, Derek und ich wußten, daß es Selbstmord gewesen war. Wie oft hatte Pablo uns erzählt, daß er die Träume nicht aushalten konnte.
Die Erinnerungen an unseren letzten Tag als Unschuldige.
Bevor der schwarze Mann uns befleckt hatte...
Wir alle träumten seit jenem Abend.
Den gleichen Traum.
Den letzten Abend von Lizzy.
(Niemand hatte sie seither gesehen. Es wurde auch nicht eine Spur von ihr gefunden, so als ob sie nie existiert hätte...Nicht einmal ihre Eltern erinnerten sich mehr an sie...was für Derek besonders schlimm war...)
Derek schien es am ehesten zu verwinden. Zumindest dachte ich das zuerst. Doch er rutschte in die Sadomaso–Szene ab, und verkaufte sich als devoten Sklaven an jeden, der dafür zahlte. Je mehr Schmerz ihm zugefügt wurde, desto glücklicher war er. Er war Lizzys Bruder gewesen, und hatte sich wohl die ganze Zeit die Schuld an ihrem Tod gegeben.
Als ob er es hätte verhindern können...
Als ob es irgend jemand hätte verhindern können...
Irgendwann hatte es einer seiner „Freunde“ übertrieben. Er verfiel in Raserei, als er Derek mit einer Neunschwänzigen bearbeitete. Als er schließlich wieder zu sich gekommen war, war von Dereks Rücken nicht mehr viel zu erkennen gewesen. Aber er war mit einem Lächeln auf den Lippen und Tränen in den Augen gestorben. Auf seine eigene Art war er letztendlich der Glücklichste von uns allen gewesen. Er war zwanzig und hatte seinen Frieden gemacht.
Endgültig...
Tina und ich waren zu dem Zeitpunkt bereits auf LSD...
Ja, wir waren ein Paar gewesen. Auch wenn es nur zum Zweck gewesen war, jemanden an seiner Seite zu haben. Für andere Beziehungen waren wir bereits zu kaputt. Niemand konnte verstehen, warum wir beide (gleichzeitig) schreiend aus dem Schlaf hochfuhren, unter Atemnot litten oder leichte epileptische Anfälle hatten.
Wir wußten wieso und konnten uns aneinander klammern, jeder des anderen Anker in der grausamen Welt unserer Alpträume. Doch Tina hatte nicht meine Ziele, also ging sie ihren Weg schneller als ich, wechselte von LSD - auf Speed - auf Heroin - auf Crack - auf Tod.
Ich weiß nicht, wo sie begraben liegt. Wir haben sie zu viert in einen Müllcontainer gelegt, damit man sie findet. Vielleicht liegt sie jetzt auf einer Müllkippe. Wer weiß das schon?
Aber ihr Tod brachte mich wieder auf den Pfad zurück, den ich einst gehen wollte. Ich ließ mich in eine städtische Drogenklinik einweisen und von den Drogen herunterbringen, nahm einen kleinen Job in einer Bücherei an und ernährte mich von Toast mit Butter und klarem Wasser, damit das Geld für meine Wohnung reichte.
Der Job in der Bücherei war ein Glücksfall gewesen. So oft ich konnte, stöberte ich in den alten Wälzern herum, um das zu suchen, was ich brauchte –
Damit ich den schwarzen Mann wiederfinden konnte...bevor mich die Drogen zurückholten...

(3)
Ich sitze in einem Kirchenschiff und bete.
Ich war noch nie in einer Kirche und ich spüre auch nicht die Hand des HERRN.
Gib mir ein Zeichen, HERR!
Doch das Einzige, was ich sehe, ist ein Pater – nennt man die so??? – der die Kirche betritt, einen Tropfen Wasser nimmt, in die Knie geht und mit dem eingetauchten Finger ein Kreuzzeichen schlägt.
Er sieht nicht so aus, als ob er mir helfen könnte.
Als ob er meinen Träumen glauben schenken könnte...
Vielleicht sollte ich trotzdem mal beichten gehen.
Am letzten Tag meines Lebens.
Und bevor mich die Gnade meiner Droge verläßt und ich nicht mehr in ganzen Sätzen reden kann...

(4)
Ich weiß nicht, wann ich ernsthaft darüber nachzudenken begann.
Darüber, den schwarzen Mann zu finden, und ihn zur Strecke zu bringen - oder ihn das vollenden zu lassen, was er mir versprochen hatte.
EIN ANDERMAL...
Wie hätte ich diese Worte jemals vergessen können?
Ich war der Einzige, der sie gehört hatte. Und ich bin sicher, sie hatten nur mir gegolten. Als hätte der Sprecher dieser Worte gewußt, daß ich alles tun würde, um ihn zu finden. Sogar wenn mein Leben nur aus Dreck bestand.
Und vielleicht war es ja auch so. Vielleicht hatte der schwarze Mann mit dem weißen Gesicht und den grausamen braunen Zähnen genau das getan.
Schließlich war er auch dazu fähig.
Es würde mich nicht wundern, nach allem, was ich über ihn herausgefunden habe...
Die erste Quelle über den schwarzen Mann war eine Abschrift eines alten Theaterstücks. Ich war durch Zufall (???) darauf gestoßen, denn der schwarze Mann wird dort nur am Rande erwähnt und mit der schwarzen Kutte – dem Tod – verglichen.
Nein, die beiden sind nicht die selben.
Ein Auszug:
„...dem Tod ist es egal, wen er sich holt. Er kommt, wenn die Zeit des Diesseitigen abgelaufen ist und die des Jenseitigen beginnt. Doch ER...ER holt sich die Diesseitigen vor ihrer Zeit...Lange bevor das Leben wirklich in ihnen erblühte...ER holt unsere Jüngsten und stiehlt uns unseren Schlaf und die Erinnerung daran...“
Die Erinnerung daran...
Das war es, was mich am meisten daran schockierte.
Keine Erinnerung mehr...
Es war nicht nur so, daß der Schwarze Mann Kinder stahl.
Er raubte ihnen ihre Existenz.
Niemand erinnerte sich mehr an sie. Statt dessen wurden sie zu Ausgeburten unserer Phantasie, so wie es der Schwarze Mann einst gewesen war.
Hatte es so irgendwann begonnen???
Die Legende des Schwarzen Mannes und Kinderdiebes?
Hatte er irgendwann sein erstes Kind geraubt und so zwei Legenden erschaffen. Die des Kindes, die schnell verging, weil sie – im wahrsten Sinne des Wortes – ersetzbar war? Und seine eigene, erschaffen von der Kindergruppe, die ihn das erste Mal gesehen hatte und bis zu ihrem Tode darunter litt, aber noch imstande war ihre Warnung weiterzugeben. Die von den Gleichaltrigen und Älteren müde (kopfschüttelnd) belächelt wurde, während sie diese Gelegenheit nutzten, um ihren Kindern Angst einzujagen und sie zu Hause zu halten.
Und natürlich glaubte niemand den Kindergruppen, die folgen sollten, denn mit den Kindern, die entführt wurden, fehlte auch deren Existenz.
Lizzys Eltern vergaßen, daß sie einst eine Tochter besessen hatten. Es gab keine Papiere mehr. Weder Geburtsurkunden, noch Impfpässe oder Ausweise. Nicht zu vergessen die Lehrerin, die sich ebenfalls nicht mehr an Lizzy erinnern konnte.
Ich hatte mich in der Bibliothek durch viele Bücher gelesen.
(Sehr oft ließ ich mich einschließen, um genügend Zeit dafür zu haben.)
Und beim Durchstöbern fand ich immer wieder Spuren seines Wirkens, von Kindern die – wie ich – in quälenden Alpträumen aufwuchsen und der Fassungslosigkeit darüber, daß niemand ihnen Glauben schenkte. Alle diese Autoren hatten mehrere Dinge gemeinsam:
Sie kamen nie groß heraus, schrieben kaum mehr als ein Buch und immer war ER das Thema. Immer erschien seine Figur nur am Rande, so als ob die Autoren Angst gehabt hätten, sich noch einmal mit ihm auseinandersetzen zu müssen, noch mal das Erlebte zu sehen, das sie dauernd schreiend aus dem Schlaf riß.
Und alle starben jung.
Das war der zweite Hinweis.
Lange dachte ich darüber nach, wie es sein konnte, daß sich die Leidensgenossen nie getroffen hatten um Erfahrungen auszutauschen. Also probierte ich es selbst und machte mich auf die Suche nach anderen wie ich.
Leuten, die zum Teil einer nicht bekannten Wahrheit geworden waren. Hüter eines schrecklichen Geheimnisses, das sie zum Tode verurteilte...
Und ich kam schon sehr bald hinter das System des Schwarzen Mannes.
Der schwarze Mann tut mehr als einfach nur die Existenz der Entführten auszulöschen. Er hinterläßt einen Eindruck in den Zeugen. Einen Eindruck, der sie nachts um den Schlaf bringt und tagsüber mit Erinnerungen quält. Und er scheint unser Leben verfolgen zu können. Er weiß genau, wann unsere Zeit gekommen ist. Ich konnte die Spuren von ihm die letzten 108 Jahre zurückverfolgen. Er holte sich immer erst dann ein neues Opfer, wenn alle Zeugen des vorherigen Vorfalls tot sind.
1892 holte er sich ein Kind aus einer aufstrebenden Siedlung beim jetzigen Garmisch. 1905 waren alle Anwesenden gestorben. Im selben Jahr – am selben Tag, als der letzte in irgendeinem Krieg fiel – holte er sich ein neues Opfer in einer jüdischen Siedlung bei Wiesbaden. 1922 war er in Wümme – an diesem Tag starb der letzte bei einem Fabrikbrand; ich glaube immer noch, daß es Selbstmord war - und 1941 tauchte er in der Nähe von Berlin auf. Und so geht es weiter. Mein Vorgänger – der letzte Überlebende – kam aus Drögnitz. Er erhängte sich am selben Tag als der Schwarze Lizzy stahl.
Ich sehe in dem Schwarzen Mann so etwas wie einen Zeit- oder Existenzparasiten. Er stiehlt Kinder, was deren Existenz auslöscht, sie herausnimmt aus dem Universum und dann läßt er die Zeugen leiden bis zu ihrem Tod, nur um sich ein neues Kind zu schnappen. Aber warum tut er das?
Was geschieht mit den Kindern?
Und warum habe ich das Gefühl, daß er zurückkommt?
Hierher in diese Stadt...
Nur weil er mir EIN ANDERMAL versprochen hat...?
Ich hoffe darauf...

(5)
„Das kann nicht ihr Ernst sein...“ sagt die Stimme neben mir.
Sie unterdrückt ihr Zittern nur ganz schlecht. Aber ich hatte mir von dem Pater sowieso keine Hilfe erhofft...
„Natürlich...ist es unglaublich...aber so war es...außerdem kann es ihnen doch egal sein. Ich habe gebeichtet, damit ist meine Gottespflicht erfüllt. Sie wissen, was ich getan habe – und was geschehen wird. Jetzt liegt es an ihnen und Gott, mir zu vergeben. Dem ist doch so, oder...?“
Anscheinend hält er mich für wahnsinnig, denn er ist nur zu gern bereit, mir meine Sünden zu vergeben. Ich stehe auf und wende mich dem Ausgang zu. Für einen Moment fühle ich Erleichterung darüber, meine Geschichte jemanden erzählt zu haben.
Aber nur für einen Moment.
Denn schon morgen bin ich vielleicht genauso vergessen wie all die anderen.
Ich greife in das kleine Wasserbecken und mache ein Kreuzzeichen, so wie ich es beim Priester gesehen habe. Auch ich hoffe auf ein Zeichen Gottes, auf seine Hilfe.
Plötzlich habe ich eine Idee.
Das ist es...
Gottes Zeichen...
Ich beschließe, doch noch ein Weilchen in der Kirche zu bleiben...

(6)
Wie oft haben Tina und ich über ihn geredet? Und über die anderen.
Wie oft erwachte ich schreiend? Erst zusammen mit Tina – später allein.
Wie oft verfluchte ich mein Schicksal? Nur, um meine Neugier siegen zu lassen.
Wie oft wollte ich sterben? Und war doch schon länger tot als jeder andere gewesen.
Heute abend sollte es enden!
Endgültig...

(7)
Ich sitze an einen Baumstamm gelehnt am Rande unseres alten Spielplatzes.
Ich zittere, obwohl es selbst im Schatten noch 28 Grad sind. Es ist der fehlende Stoff, der mich zittern läßt, und ich fühle das kühle Plastik der Spritze in meiner Hand, die ich ganz schnell aus meiner Jacke ziehe.
Noch nicht.
JETZT noch nicht.
Es ist neun Uhr abends. Eine halbe Stunde noch bis die Sonne untergeht. Ich beobachte die Kinder wie sie Fangen spielen. Es werden weniger. Einige müssen schon bald nach Hause gehen. Und eines wird vielleicht schon bald für immer gehen.
„Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?!“ schallt es über die Wiese zu mir herüber.
„NIEMAND!“ antwortet es aus mehreren Kehlen.
Eine Wolke ekelerregenden Gestankes umgibt mich plötzlich. Etwas drückt schwer auf meine Schulter – wie der Gestank auf meine Sinne drückt – und flüstert rauh:
„Und wenn er kommt?“
„DANN LAUFEN WIR!“ ertönt es aus mehreren Kehlen und der Klang hastender Schritte ertönt.
Und kommt näher...
„Noch nicht“, raspelt die Stimme hinter mir. „Noch nicht.“
Mein Rückgrat versteift sich. Kalter Schweiß läuft mir den Rücken hinunter, während meine rechte Hand Hilfe suchend in die Jackentasche gleitet. Ich hatte mir die Worte so oft überlegt, die ich ihm entgegnen wollte, aber sie sind weg. Statt dessen gebe ich nur einen röchelnden Laut von mir, wie ein Ertrinkender, der gerade zum ersten Mal Luft holt. Der schwarze Mann könnte mich jetzt mit Leichtigkeit töten, doch er tut es nicht. Noch immer sehe ich ihn nicht, spüre nur die Hand auf meiner Schulter und die Fingernägel, die sich in die Kleider bohren. Ich höre nur seine Stimme:
„Ich hatte es Dir versprochen...weißt Du noch...natürlich weißt Du es noch...wie hättest Du es auch je vergessen können...“ Die Stimme kichert eine Weile, bevor sie wieder zum Reden ansetzt. „Ein Andermal...das hatte ich Dir versprochen...und jetzt...jetzt ist es so weit...aber zuerst ein paar schöne Grüße von...Du weißt schon wem...“
Wieder kichernd legt er mir einen handgroßen ovalen Gegenstand auf den Schoß, eingewickelt in fleckiges, stinkendes Leder. Noch immer kann ich mich nicht rühren. Starre nur auf den Lederball. Hypnotisiere ihn. Wünsche mir das Leder weg. Wünsche mir Metall drum herum.
„Sag guten Tag...“, ist das letzte, was ich von ihm höre. Dann verschwindet die Hand von meiner Schulter, läßt mich zurück mit dem Eisklumpen in meinem Magen und dem Gegenstand auf meinem Schoß.
Ich will das nicht...
Aber ich kann nicht anders.
Langsam – ohne mein Zutun – bewegen sich meine Finger auf das Lederpäckchen zu, streifen langsam – und doch viel zu schnell – Lederschicht um Lederschicht ab, bis ich auf ein Bündel dunkler Haare blicke.
Lizzy´s Haare...
Angeekelt, doch auf morbide – masochistische – Weise fasziniert, nehme ich eine Strähne auf und ziehe daran das ganze Bündel nach oben, bis es mit meinem Gesicht auf einer Höhe ist, und ich das erkenne, was noch daran hängt.
Lizzy´s Kopf!
Um das Vierfache verkleinert und genauso ledrig wie die Schichten, in denen er gelegen hatte, die Augen mit Lederbändern zugenäht, die Nase ein schwarzes, kleines Loch...
Und der Mund, dessen Kiefer nach unten fällt und meinen Namen haucht...
Magensäure schießt einer Springflut gleich meinen Rachen hoch und ich übergebe mich. Ich weiß selbst nicht, wie ich es dabei schaffe, Lizzy von mir weg zu halten.
Das kann doch alles nicht wahr sein...
Aber es ist wahr...so wahr wie der sprechende Schrumpfkopf in meiner Hand. Wie grausam muß dieses Wesen sein, daß es so etwas tut?
Ich will es gar nicht wissen.
„...iiiiiiiiiiiiiiiiitteeeeeeeeeeee“, röchelt Lizzys Kopf. „Beeeeeeeeeeeeeeendeeeeeeeeeee...meeeeeeiiiiiiiiiiineeeeee Quaaaaaaaaaaaaaal...stiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiirb... füüüüüüüüüüüüüüüüüüüüa...meeeeeeeeeeech...“
Etwas in meinem Gehirn fügt sich zusammen.
Das letzte Puzzleteil, das sich zum kompletten Bild fügt:
Der Parasit entführt ein Kind und so, wie die Beobachter fortan darunter leiden, leidet auch das entführte Wesen darunter. Der Parasit lebt vom Leid, das wir empfinden. Das Leid ist die Verbindung über die er unser Leben beobachten kann. Er weiß, was wir tun.
Aber kann er uns beeinflussen???
Nur durch unsere Träume, glaube ich. (Hoffe ich.)
Und erst, wenn der letzte von uns – der letzte Beobachter der Tat – gestorben ist, endet damit das Leid für die entführte Person und der Parasit muß sich eine neues Opfer suchen.
Ein neues Opfer suchen!
Noch immer weht Lizzy´s Stimme an mein Ohr, doch ich ignoriere sie. Denn mir kommt ein noch viel schlimmerer Gedanke. Ist das sein Plan? Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen?
Mein Blick wandert über den Spielplatz – und tatsächlich...da steht er...im Schatten des selben Baumes wie damals, die Kinder beobachtend, deren Spielweise sie langsam - aber unaufhaltsam - auf ihn zu treibt.
Das ist es also:
Er glaubt, wenn ich Lizzys Leid sehe, würde ich ihr ihren Wunsch erfüllen, wohl wissend, daß ich eh nicht mehr lange zu leben habe. Welch schöneres Opfer kann es geben, als für einen geliebten Menschen zu sterben? Denn von mir als Opfer hätte er nicht viel. Für mich gibt es keine Beobachter, keiner der um mich weint oder sich meiner – wenn auch nur in Schrecken – erinnern kann.
Ich bin entbehrlich...
Und während Lizzy mein Herz und meinen Verstand brechen und mich in den Tod treiben soll, sucht er sich sein neues Opfer, um den Reigen des Leids erneut zu eröffnen.
Aber nicht mit mir...
NICHT MIT MIR!!!
Ein letztes Mal schaue ich Lizzy in die zugenähten Augen. Wie sehr hatte sie gelitten? Wie unendlich mehr hatte sie gelitten als wir? Wir wurden von Alpträumen geplagt aber Lizzy war zu einem geworden...
„Auf Wiedersehen, Lizzy...“ flüstere ich.
Dann drücke ich zu.
Und der Kopf von Lizzy explodiert in einer Wolke aus Staub und Lederstücken, während ich sehe, wie der Kopf des Schwarzen Mannes, der schon auf die Kinder fixiert war, in meine Richtung zuckt. In dem entstellten Gesicht ist nichts zu erkennen, aber ich könnte wetten, daß er überrascht ist.
Das wird nicht seine einzige Überraschung bleiben.
Ich greife in meine Jackentaschen, hole zwei volle Spritzen heraus, springe auf und hetze auf den Schwarzen Mann zu.
SHOWTIME!!!

EPILOG
Ein Spielplatz in der Dämmerung.
Fünf Freunde beim Spielen.
Der Schwarze Mann...
Joachim ist dran.
Er steht zehn Schritte hinter den anderen und ruft: „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“
Die Anderen schreien zurück: „NIEMAND!!!“
„Und wenn er kommt?“ ruft Joachim.
„DANN LAUFEN WIR!!!“ Und dann fangen alle an zu rennen...
Joachim wetzt hinter her. Natürlich hetzt er hinter Jenny her. Weil Jenny das Einzige Mädchen in der Gruppe ist, ist doch klar. Und weil man Mädchen zeigen muß, wo’s langgeht. Sagt Joachims Papi immer...
Er hat sie schon fast erreicht, als er etwas aus den Augenwinkeln sieht. Etwas Blitzendes, Kleines...
Joachim bleibt stehen und guckt über den Platz.
Auch die Anderen bleiben stehen.
Verständnislos beobachten sie den etwas zerlottert aussehenden Mann, der mit zwei Spritzen in der Hand unter einer Trauerweide hervorgerannt kommt und schreit:
„Du liebst Schmerzen?!!! Ich gebe Dir Schmerzen!!!“
Dann fängt der Mann an, mit den Spritzen wild durch die Luft zu fuchteln. Er schreit immer noch, aber Joachim versteht keinen Ton. Ehrlich gesagt, sieht der Fremde aus wie ein Penner, denkt Joachim. So wie sein Vater Penner zu nennen pflegt, die er im Fernsehen sieht. Abgerissen, hager und fertig - was immer das auch heißen mochte.
Dann geschieht etwas Seltsames.
Etwas rumort mit tiefer Stimme aus der Richtung des Penners. Es rumort mit so tiefer Stimme, daß Joachim ganz flau im Magen wird. Und dann...
Für einen Augenblick, der zwischen zwei Liderschlägen liegt, bekommt Joachim etwas zu sehen. Etwas Großes, Dunkles, das einfach nur schrecklich aussieht. Es scheint viele Augen zu haben, aber nur zwei, die leben, und es hat einen ganzen Mund voller Zähne.
Und es stinkt...
(Aber der Geruch fällt Joachim jetzt noch nicht auf. Erst wenn er die nächsten zehn Nächte schreiend aus dem Schlaf erwacht, wird er diesen Geruch nach Fäulnis, Kot und Erbrochenem in der Nase haben. Aber da niemand sich an seinen schrecklichen Träumen nährt, wird er sie schon bald vergessen haben...)
Das Rumoren in seinem Magen wird schlimmer, und während er langsam in die Knie geht, sieht er, daß seine Freunde ebenfalls im Sand liegen.
"Das ist aber seltsam", denkt er sich. "Warum läuft Ihnen denn Blut aus der Nase?" Dann fällt er in den Sand und sinkt in Ohnmacht, während auch aus seiner Nase Blut läuft...
Und so bekommen Joachim und seine Freunde nicht mit, wie der "Penner" auf etwas Unsichtbarem herumspringt, während er immer lauter schreit und sein Geschrei schließlich in hysterisches Gelächter umschlägt. Schließlich braucht es sieben Personen, um ihn davon abzuhalten, sich wieder loszureißen und immer wieder auf seiner "Vision" herumzuspringen.
Als er schließlich - auf eine Bahre geschnallt - untersucht wird, fallen seine Einstichstellen sofort dem Krankenpfleger auf.
"Eindeutige Überdosis, Magen auspumpen", ist alles, was er von sich gibt. "Gib ihm ne Spritze."

ICH HABS GESCHAFFT. ICH HAB IHN BESIEGT. ICH HABE ALLE KINDER GERETTET. MEINE ALPTRÄUME WERDEN ENDEN. ENDLICH AUFHÖREN. RUHIG SCHLAFEN.
DABEI HABE ICH IHM DOCH NUR WASSER GESPRITZT.
NUR WASSER.
EINFACH NUR WASSER.
GESEGNETES WASSER...


ENDE

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Henry,

vermutlich muss ich Deine Geschichte nochmal ganz in Ruhe durchlesen, was mir aber extrem auffiel ist der abgehackte Stil der mir das Lesen eher schwer machte. Ich habe außerdem den Eindruck, dass die Story für die komplexe Handlung zu kurz geraten ist.
Die Idee ist gut, aber mir verläuft alles etwas zu schnell. Schon der Anfang liest sich mühsam wie die Kinder spielen; es gibt sehr viele kurze Sätze die meiner Meinung nach eher kurzzeitig bei spannenden Stellen verwendet werden sollten, nicht aber über so lange Zeiträume.

Dann der Sprung was nach Lizzys Tod passierte, auch das geht mir zu schnell. Okay, natürlich war das ein furchtbar traumatisches Ereignis für die Kinder, aber Pablo erschießt sich, Derek wird masochistischer Stricher, Tina und der Erzähler werden drogenabhängig - da hätte ich gerne mehr erfahren was in der Zwischenzeit passierte, mehr über das Innenleben der Kinder damit mir diese Entwicklungen plausibler werden.

Alles in allem gefällt mir der Plot, aber noch mehr Details schaden hier nicht, finde ich. Es geschieht so viel, es vergeht so viel Zeit, das kann man alles noch etwas eindringlicher schildern. :)

So, hoffe Du kannst damit etwas anfangen.

Gruß, Ginny

 

Achso, vergessen: Was auch ein bisschen stört ist die GROßSCHREIBUNG zwischendurch ... vor allem wenn noch mehrere Ausrufezeichen angehängt werden. Besser sprachlich darstellen sowas. :-)

 

Hey Henry!
Ich hab bei dem langgezogenen "Stirb für mich" ein Leerzeichen reineditiert, weil der Text das Design gesprengt hat.

Ugh

 

Hallo Ginny,

ja, ich weiss, man hätte viel mehr aus der Geschichte machen können. Allerdings muss ich zugeben, dass ich ein sehr "undisziplinierter" Schreiber bin.

Was bedeutet, dass ich mich nicht lange bei einem Thema aufhalten kann, und es dann erst lange - halbes Jahr und länger - herumliegen lasse, bevor ich mich wieder damit befassen kann...

Deswegen gibt es nur eine lange Kurzgeschichte, die ich jemals "gut" geschrieben habe - meiner Meinung nach...

Diese Geschichte hier entstand in einer Art Wahn...sie fiel mir morgens ein, und über den Tag entstanden so viele Ideen, das ich sie einfach herunterschreiben musste, sonst wäre mein Kopf explodiert...und am Ende war ich so ausgelaugt, dass ich einfach keine Lust mehr hatte, daran herum zu editieren - Schande über mich...ich weiss

Als ich sie dann wieder"fand", begann ich sie nochmal zu überarbeiten, musste aber an einigen Stellen einfach aufhören, weil sonst vielleicht eine ganz andere Geschichte daraus geworden wäre - vor allem eine noch viel längere Geschichte...

Ursprünglich hatte ich auch überlegt, ob ich sie nicht in Seltsam oder Experimente poste, aber sie ist halt doch eher eine Horrorstory, deswegen ist sie hier gelandet.

Falls aber auch andere Deiner Meinung sind, dass sie unbedingt länger sein sollte, werde ich vielleicht den Versuch wagen, sie als Serie nochmal zu schreiben, da ich eigentlich gerne an den Hintergründen handelnder Personen arbeite - wenn sie bloss nicht so lang wären... :rolleyes:

Natürlich würde sich dann einiges ändern:cool:

Henry Bienek


PS: Danke Bibliothekar für das Editieren des Leerzeichens. Manchmal neigen Autoren halt einfach zu Übertreibungen:D

 

Hallo gcsha,

zuerst mal lasse ich etwa die Hälfte der stilistischen Fehler nicht gelten, da ich sie als literarischen "Kunstgriff" - mir fällt gerade kein besseres Wort ein - sehe.
Natürlich hätte ich stilistisch etwas genauer arbeiten können, aber ich fand, dass gerade das Abgehakte und kurz Gefasste dem ganzen Text etwas Gehetztes gibt.
Etwas vom Wahnsinn - des Geschehens und dem eigenen Wahn - Verfolgtes.
Naja, anscheinend funktionierte dieser Kniff nur bei mir selbst...:D

Vielleicht hatte ich damals, als ich die Geschichte schrieb, auch noch zuviel im Kopf behalten, ohne es in der Geschichte zu verarbeiten.

Für mich klingt sie immer noch ganz gut, auch wenn ich den Hintergrund wahrscheinlich beim nächsten Mal wirklich näher erläutern sollte...

Zu Deinen Bemerkungen:

ZUFALL - okay, eindeutig meine Schlamperei.
Ich habe noch mal den Text überlesen und dabei ist mir aufgefallen, dass ich das nicht deutlich genug gemacht habe. In meinem Kopf leuchtet es wie eine Signalleuchte, wenn ich den Text lese, aber es steht nicht wirklich drin.
Also:
Ursprünglich sollte mehrfach in dem Text ein Hinweis stehen, dass sich der Protagonist fragt, ob die Sache mit dem Töten des Schwarzen Mannes seine eigene Idee ist, oder ob er von dem Schwarzen Mann dazu gebracht wird...das hätte das Finden des Buches in der Bibliothek in einem anderen Licht zeigen können - Chance verpasst...

DROGEN - Würde man nicht alles versuchen, um Alpträume zu vermeiden, die man bekommt, wenn man KEINE Drogen nimmt???
(Liebe Kinder, das war kein Aufruf. Also Finger weg von dem Zeug. Wenn ihr Alpträume habt, macht Geschichten draus. Das klappt ganz gut - kleiner Einwurf, bevor ich hier falsch verstanden werde :p)


"Starre nur auf den Lederball. Hypnotisiere ihn."
Wollt den Satz "Ich starre wie hypnotisiert auf den Lederball in meiner Hand" einfach nur mal anders schreiben, grins...okay, Ausrede...ich fand den Satz einfach gut so...

Ansonsten gebe ich Dir in vielen Dingen recht. Sollte ich die Geschichte nochmal schreiben, würde ich es akkurater anfangen. Aber wie ich schon in einer Antwort vorher bemerkte: Diese Geschichte hatte mich, nicht ich sie.
Ich habe sie ein halbes Jahr in meinem Kopf herumgeschleppt, und dann musste ich sie loswerden und niederschreiben.

Sowas passiert manchmal...

Henry Bienek

PS: Ich habe noch nie in meinem Leben ein Ander"n"mal gehört oder gesagt, sorry...
:D

 

Hallo gcsha,

für was steht das eigentlich???Gcsha???Wenn man fragen darf...

Danke für das Kompliment - natürlich ist man verschiedener Meinung - das ist ja grad das Schöne an Diskussionen...

Dann werde ich mal gucken, ob ich irgendwas von Dir finde:p

Henry Bienek

 

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