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Ein anderes Leben
Auf einmal stand sie in Aleppo. Um sie herum alles vertraut. Sie wusste, wo sie hin musste. Zügigen Schrittes ging sie die Straße entlang, um sich herum einige Gestalten, die auf den schmutzigen, trockenen Boden blicken, um nicht aufzufallen. Menschen überall und doch unsichtbar. Die Mauern waren gelblich verblichen, weißer Staub lag auf den geordneten Ziegelsteinen. Ein Haus halb abgerissen oder gesprengt. Auf dem Boden Scherben, die in der Sonne glitzerten. Sie versprachen Glück, aber diese Ironie wurde von dem Mann, der ihr entgegenkam, achtlos beiseite getreten. Das lauteste Geräusch war das Klirren, als die Scherbe auf einem Stein aufkam.
Sie suchte sich ihren Weg durch die Gassen und wusste, dass sie ein Ziel hatte, aber nicht welches. An jeder Ecke spähte sie zuerst vorsichtig um die Kurve. Sie konnte nie wissen, was sie dahinter erwartete. Es war schon längst Gewohnheit geworden. Ebenso wie die Flieger, die bisweilen hoch über ihren Köpfen kreisten. Sie wirkten harmlos, so weit weg, wie schwarze Vögel vor der Sonne, die über sie wachten. Langsam bewegten sie sich über den blauen Himmel, suchend, wartend… Vielleicht nur auf den richtigen Augenblick? Sie erschrak, sprang beinahe in einen Haufen aus Schutt und Geröll, als direkt neben ihr eine Tür aufgestoßen wurde. Der Mann, der im Türrahmen erschien, schaute sie prüfend an. Erschrockene Gesichter von allen Seiten wegen dem Lärm, den sie verursacht hatte, als sie im Wegrutschen einige Steine zur Seite gekickt hatte. Sie richtete sich auf, blickte wieder auf den Boden und versuchte, Gelassenheit zu vermitteln. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die Menschen sich wieder abwandten und ihren Weg weitergingen. Hinter ihr traten nun Frauen und Kinder auf die Straße, offenbar der ganze Haushalt des Mannes samt Gepäck. Die Frau weinte leise, zog sich schutzsuchend in das Haus zurück, strich mit der Hand über die Mauern und ließ die Hand dann dort liegen, als wollte sie das verfallene Haus stützen. Der Mann drehte sich um, und sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht mehr erkennen, aber als er den Arm seiner Frau ergriff, wirkte er zugleich bestimmend und sanft. Widerwillig löste die Frau sich von der Sicherheit ihres Zuhauses, um das Gepäck zum Auto zu bringen.
Sie zwang sich, weiterzugehen und die Szene zu ignorieren, doch sie hörte noch eine Weile, wie immer weitere Gepäckstücke verfrachtet wurden, eines der Kinder zu weinte und die Familie hastig zu beten begann, für die schwere Reise, die ihnen bevorstand. Sie mahnte sich zu Konzentration. Sie sollte ihren Weg auf Gefahren überprüfen. Aber was sollte sie denken über den Mann, der sich hinter einem staubigen Fenster verbarg und ihr mit seinen Blicken folgte? War er eine Gefahr? Ihr Herzschlag beruhigte sich, erhöhte sich an der nächsten Ecke schon wieder und pumpte so kräftig in ihrer Brust, als wollte er ihr sagen, ich bin noch da, ich lebe, denk an mich! Sie wollte in das Auto steigen zu der ängstlichen Frau und dem Mann, der bestimmt einen Plan hatte und wusste, wie man zu diesem besseren Leben kommt, von dem alle erzählen. Sie wusste aber, sie konnte nicht fliehen, sie musste diesen Weg entlang gehen und sich den Bildern stellen, die sich ihr boten. Den dünnen Kindern, die in einem Innenhof saßen und etwas aßen, das sie freiwillig nicht einmal angefasst hätte. Den Ruinen auf der Seite, die verlassen von dem Krieg zeugten, der hier bisweilen wütete. Den Drohnen, die ab und an näher kamen, als wollten sie hämisch darauf hinweisen, über welche Macht sie verfügten.
Sie hörte feste Schritte, eine Gruppe von Menschen kam von der Seitenstraße aus in ihre Richtung. Sie drückte sich an die Mauer, schlich weiter im Schutz der drei Leute, die auf der anderen Straßenseite mit geduckten Schritten weiter gingen. Eine offene Tür neben ihr, durch die sie sich gerne zurückgezogen hätte. Was sollte sie tun, wer war es, der gleich um die Ecke biegen würde? Ihr Herz pumpte nicht mehr, es raste. Ihr Schleichen hörte sich für sie an wie Stampfen auf dem Boden, ein rollender Stein wirkte wie eine Lawine. Sie war zu langsam, eine Gruppe von Männern bog um die Kurve, schwer bewaffnet, die Gewehre bereits in der Hand. Der Mann auf der anderen Straßenseite war stehen geblieben. Sie tat es ihm nach, schwer atmend, als ob sie selbst mit der schweren Ausrüstung der Soldaten marschieren würde. Einer der Männer stoppte kurz und schaute sich um. Sie wollte rennen, weit weg von hier. In ein Haus, auf den Hügel, raus aus dieser Stadt, in das Auto, das sie an einen sicheren Ort bringen würde. Sie wagte es nicht, den Blick des Vorangehenden zu erwidern, der sie doch eindeutig anstarrte. Wen sonst, hinter ihr war nichts als ein hohes Gebäude. Der Mann drehte sich auf der Stelle, suchend. Sie folgte seinem Blick über die Kreuzung. Einen Moment war alles starr und die Zeit stand still. Dann zerriss ein ohrenbetäubender Knall die Luft. Sie spürte eine Druckwelle, die sie noch stärker an die Mauer zwang. Hatte jemand geschossen? Orientierungslos blickte sie an sich herunter, ihre Hände fühlten sich taub an, aber sie sah nichts und erst Sekunden später konnte sie wieder klar denken. Der Knall war von keiner Waffe gekommen, sondern von einer Explosion. Eine Hitzewelle traf ihre linke Seite. Als sie den Kopf kurz nach oben drehte und für einen Moment vergaß, wo sie selbst war, sah sie Rauch in einigen hundert Meter Entfernung aufsteigen. Sie atmete unwillkürlich auf, weil der Knall nicht ihr gegolten hatte, obwohl eine Explosion in solcher Nähe nicht gerade eine Erleichterung war. Es war eben auch Gewohnheit geworden.
Wirklich Gewohnheit? Sie kam doch nicht aus Aleppo oder? Etwas stimmte nicht. Ein anderes Bild, eine andere Geschichte keimte in ihr auf, doch jetzt hieß es erst einmal weitergehen. Eng an die Wand gedrückt, vorsichtig die Soldaten beobachtend, die sich genauso abrupt, wie sie gestoppt hatten, wieder in Bewegung gesetzt hatten.
Noch zwanzig Meter bis zur nächsten Kreuzung. Die Menschen auf der anderen Seite gingen ebenso schnell wie sie, es war ein Wettlauf weg von der Aufmerksamkeit. Jedes Nicken eines Soldaten drohte damit, dass sein Kopf sich auch einfach umdrehen könnte. Jeder langsamere Schritt schien nur die Voraussage, dass gleich einer stoppen könnte.
Noch zehn Meter. Die Steine auf dem Boden hartes Geröll, woher kam der weiche Stoff und die kühle Brise, die sie an ihren Füßen spürte? Wohin wollte sie überhaupt laufen? Aber sie musste sich doch konzentrieren, in dieser Welt der Gefahren, musste die Häuser um sie herum überprüfen. Ein Glitzern auf der linken oberen Seite. Auf 5 Uhr, kam ihr in den Sinn, obwohl das überhaupt keinen Sinn machte, sie war doch kein Soldat. Hatte sie wohl zu viele Actionfilme gesehen? Sie drehte sich um, aber in Aleppo drehte sie sich nicht um, sah nur kurz auf um herauszufinden, was dort drüben die Sonne reflektiert hatte. Der Mann auf der anderen Seite hatte es auch gesehen. Er begann zu rennen. Blieb noch genug Zeit? Wie in Zeitlupe drehten sich die Soldaten hinter ihr um, sie konnte ihre Waffen klirren hören, sie hatte es zu spät gesehen! Um sie herum alles warm und geborgen, ihre Hand fühlte sich seltsam taub an. Woher kam das?
Sie durfte nicht an ihre Hand denken. Sie musste rennen, ohne Rücksicht auf den Müll auf dem Boden, den Plastiktüten, die unter ihren Füßen knirschten, den Scherben, die sie viel zu laut zur Seite kickte. Im Blick nur der Gewehrlauf, der sie anvisierte. Sie wurde schneller, es ging um ihr Leben. Sie rannte und rannte, doch der Lauf folgte ihr, sie musste schneller, schneller! Dabei musste sie doch nur die Augen aufschlagen, oder nicht? Aber es ging noch nicht, es fehlte noch das entscheidende Ende. Die Soldaten hinter ihr, die jedoch auf die schwarze Gestalt hinter dem Fensterbrett zielten. Ein erster Schuss ertönte. Wach auf, schrie ein Teil von ihr! Sonst passiert es!
Der Schuss ging daneben, gegen das Fensterbrett und verschaffte ihr noch eine Sekunde mehr Zeit, aber auch wenn sie schon so lange um ihr Leben rannte, kam die Kreuzung nicht näher! Die Häuser neben ihr nur noch eine durchgehende Mauer, in der es keine schützenden Hauseingänge mehr gab. Die Soldaten weder Schutz noch Gefahr, nur sie und der Gewehrlauf, der nach der kurzen Ablenkung wieder genau auf sie zeigte. Es gab kein Entkommen. Du bist nicht in Aleppo, sagte ihr Verstand. Der Rest von ihr wusste, was jetzt kommen musste. Ein letzter Schritt auf dem braunen, trockenen Boden. Dann der erlösende Knall. Sie wusste, sie war getroffen.
Sie fiel. Tiefer und tiefer, ohne auf dem Boden aufzuschlagen. Etwas anderes versuchte, sie zu packen. Sie in die Realität zu ziehen. In die Realität? Sie war doch tot, sie musste irgendwann aufkommen. Der Schuss hatte ihr gegolten! Ihre taube Hand, auf der sie immer noch lag. Der Mann hinter dem Fenster, es hatte es auf sie abgesehen. Ihre Füße, viel zu kalt. Der Schuss, der sie irgendwo getroffen hatte. Sie wusste nicht wo. Wo blieb der Schmerz? Doch endlich, als sie ihre andere, schweißnasse Hand spürte, konnte sie sich lösen.
Mit einem Ruck erwachte sie, setzte sich im Bett auf und stützte sich ab. Verlor das Gleichgewicht beinahe, weil die Hand immer noch taub war. Ihr Herz pumpte wie wild in ihrer Brust. Es schrie jetzt, jubelnd und zugleich panisch, ich bin noch da, ich lebe noch. Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Sie sah die Möbel um sich herum, ordentlich eingerichtet in dem kleinen schlichten Zimmer. Aus dem offenen Fenster erblickte sie die grünen Gipfel der Bäume um das Haus. Die roten Dächer einer ordentlichen deutschen Kleinstadt. Kein Geröll, keine Explosion. Keine Gewehre. Ihr Atem wurde ruhiger. Langsam wurde sie die Bilder in ihrem Kopf los, die immer wieder diese eine Szene wiederholten. Soldaten, Schuss, Fall. Soldaten, Schuss, Fall. Verschwommen, weit weit weg, und doch so unglaublich real. Wenn sie die Augen schloss, war sie wieder dort.
Langsam konnte sie rational darüber nachdenken, ihren Alptraum gleichzeitig schrecklich und faszinierend finden. Die Nachrichten mit Bildern von Flüchtlingen und dem Krieg in Syrien hatten sie offenbar bis in den Schlaf verfolgt. Schrecklich war das. Erschreckende Bilder, jeden Tag. Aber sie konnte jetzt weiterschlafen. Die grausame Szene war verschwunden, sie war wieder eine ganz gewöhnliche Deutsche. Sie konnte die Decke um ihre Schultern ziehen. Ihre Füße zurückziehen in die wohlige Wärme. Sich einkuscheln und das ganze Leid vergessen, dass ihr in ihrem Traum wiederfahren war. Das war nicht ihre Welt. Gute Nacht.