Ein altes Stück Holz (kurze Version)
Die Sonne tauchte langsam am Horizont auf, und läutete einen neuen Tag ein. Dem kleinen Königreich Norem stand ein warmer Frühlingstag bevor. Doch so richtig darüber freuen konnte sich keiner, der knapp zweitausend Einwohner.
Es waren schlechte Zeiten angebrochen. Die Ernte war schlecht ausgefallen, und das Volk litt Hunger. Aber nicht nur dem einfachen Volk erging es schlecht, auch am Hofe des Königs war das Geld knapp.
Und so war es auch nicht wunderlich, dass König Arnus übel dreinblickte, als er mühevoll die Augen öffnete.
Die Sorgen um sein kleines Reich ließen ihn nur noch äußerst schlecht schlafen, und dazu kamen Schmerzen in seiner linken Brust. Sie plagten ihn schon seit mehreren Monaten. Er hatte Heiler aus aller Welt an seinen Hof kommen lassen und ihnen eine hohe Belohnung versprochen, wenn es ihnen gelänge ihm von seinem Leiden zu befreien.
Sie hatten alles versucht, hatten Kräutersäfte und Salben aus alten Rezepten hergestellt, aber nichts hatte geholfen. Im Gegenteil, eigentlich ging es ihm von Tag zu Tag schlechter.
Mittlerweile war es soweit gekommen, dass Arnus befürchtete zu sterben. Seine letzte Hoffnung war ein Medicus aus Gerin, einer kleinen Siedlung am äußersten Rand seines Reichs.
Er war vor sieben Tagen vor den König getreten, und Arnus hatte gleich gefallen an ihm gefunden.
Er hatte ein ahnsehnliches Aussehen und Gott hatte ihm ein schmales, kantiges Gesicht geschenkt.
Zudem waren seine Manieren vorzüglich gewesen, und hatten Arnus tief beeindruckt.
Der Medicus, der den Namen Milus trug, hatte ihm von einer alten Sage berichtet, die man sich in Gerin erzählte, und die besagte, dass es in einem Waldstück, zwei Tagesreisen von dem Schloss des Königs entfernt, ein altes Kräuterweib geben solle, der übernatürliche Fähigkeiten nachgesagt würden.
„Man sagt sich, Gott hätte ihr die besondere Gabe der Heilung mit in die Wiege gelegt,“ waren Milus’ Worte gewesen.
Arnus hatte nie an solche Märchen geglaubt, hatte sie früher nur als Lügen abgetan. Aber das war früher gewesen, als sein Finanzminister noch keine Sorgen und er selbst noch keine Schmerzen in der Brust gehabt hatte.
Und so hatte er dem vertrauensvollen Medicus mit dem Auftrag weggeschickt, diese mysteriöse Frau aufzusuchen, um ein Heilmittel von ihr zu bekommen.
Der Medicus hatte sofort sein Pferd bestiegen und war davon geritten, allerdings nicht ohne zuvor eine Belohnung von fünf Golddukaten für seine Bemühungen zu verlangen.
Der Wert von fünf Golddukaten war nicht unverschämt hoch, aber in solch schlechten Zeiten doch beträchtlich.
Trotzdem hatte Arnus eingewilligt und so wartete er seit sieben Tagen auf die Rückkehr des Medicus.
Es klopfte an der Tür, und der König wurde aus seinen Gedanken gerissen.
„Wer da?“ fragte er grimmig, aber dennoch mit der leisen Hoffnung, es könne der Medicus sein.
„Thinbert, mein Herr“, antwortete ihm die vertraute Stimme seines Dieners.
„Tretet ein.“
Die Tür öffnete sich und Arnus konnte hinter der Gestalt seines Dieners noch eine zweite Person erkennen. Den Medicus.
Der König befahl seinem Diener einen Krug mit Wein zu holen und bot Milus an, sich zu setzen.
Der Medicus hatte Gutes zu verkünden und holte unter seinem Mantel ein altes Stück Holz hervor.
„Nehmt dies“, sagte er dem König und übergab ihm das Holz.
„Dies hat mir das alte Kräuterweib nach dem ich suchen sollte mitgegeben“, berichtete Milus, als er den fragenden Blick des Königs bemerkte.
„Sie hat mir versichert, dass diese Wurzel euer Leiden mindern wird.“
Etwas kleinlaut fügte er hinzu: „Sie erzählte mir, Gott hätte sie in den Wald geführt und ihr die Stelle gezeigt, an der die Wurzel vergraben war.“
Arnus war sichtbar enttäuscht. Es viel ihm schwer zu glauben, dass dieses schwere, tote Holz, das wie ein Knochen in seiner Hand lag, ihm von seinen Schmerzen befreien konnte.
Trotzdem lies er den Medicus von seinem Wein trinken und bezahlte ihn für seine Mühen, auch wenn er keinen Nachweis dafür hatte, ob Milus die Wahrheit gesagt hatte.
Als Arnus ihn zur Tür begleitete, blieb Milus plötzlich stehen, als hätte er etwas Wichtiges vergessen.
„Nur noch ein was“, sagte er.
„In drei Tagen werde ich wieder kommen und die Wurzel mit mir nehmen. Das war die Bedingung, die ich erfüllen musste, damit mir das Kräuterweib die Wurzel mitgab. Sie hat es mich schwören lassen, und ein Edelmann hält seine Versprechen. Also erfüllt mich nicht mit Schande!“
Arnus nickte und gab dem Medicus zum Abschied die Hand.
Der Tag verging und der König überlegte, was er mit der Wurzel überhaupt anstellen sollte, damit sie ihre Wirkung erfüllen konnte.
Sollte er sie nah an seinem Körper bei sich tragen? Er wusste es nicht. Aber als seine Brustschmerzen gegen Abend fast unerträglich wurden, nahm er die Wurzel mit sich ins Bett.
Es dauerte nicht lange und seine Augenlider fielen ihm zu. Er sank in tiefen Schlaf.
Als er aufwachte war es stockfinster. Gähnend setzte er sich auf und streckte beide Arme weit von sich.
Mitten in dieser Bewegung erstarrte er. Sie waren weg!
Seine Schmerzen waren verschwunden!
Er konnte es zuerst gar nicht richtig glauben und nahm an er würde noch träumen. Seit vielen Tagen war er nach dem Schlaf jedes Mal mit heftigen Schmerzen aufgewacht, und jetzt?
Aber es war wahr. Er spürte keinen Schmerz.
Er faste neben sich und betrachtete das Stück Holz. Ein Wunder war geschehen!
Die nächsten Tage vergingen, und der König erfreute sich bester Gesundheit, aber nicht nur das, auch sein finanzielles Problem hatte sich verringert. Die Geschäfte liefen wieder und das Volk hatte durch einen geschickten Handel mit dem Nachbarreich wieder etwas Zuessen.
Die Wurzel hatte dem König und seinem Volk Glück gebracht und schon bald dachte er nicht mehr daran, sie zurückzugeben.
Doch am Morgen des vierten Tages nach seinem Zusammentreffen mit dem Medicus aus Gerin meldete ein Wachmann das Eintreffen von zwei Fremden.
Arnus erschrak. Dennoch richtete er dem Wachmann aus, dass er die Fremden in sein Gemach geleiten solle.
Selbstverständlich dachte der König noch immer nicht im Entferntesten daran, die Wurzel wieder aus der Hand zu geben, aber er war neugierig. Er wollte dieses geheimnisvolle Kräuterweib, die von sich selbst behauptet hatte Kontakt mit Gott gehabt zu haben, kennen lernen.
Sie sah aus, wie er sie sich vorgestellt hatte, dass erkannte er, als sie zusammen mit dem Medicus in das Schlafgemach des Königs kam.
Sie ging gekrümmt, war in Fetzen gehüllt, und an den tiefen Falten, die ihr Gesicht durchzogen, konnte man erkennen, dass sie sehr alt sein musste.
„Gebt sie mir zurück, mein Herr!“ forderte die alte Frau den König auf.
„Ich weiß nicht, von was ihr sprecht!“ Auf Arnus’ Lippen zeichnete sich ein hämisches Lächeln ab.
„Die Wurzel ... gebt sie mir zurück!“ Aus der Stimme der Frau konnte man deutlich ihre Verärgerung hören.
„Ich habe keine Wurzel von euch“, sagte der König, aber sein Lächeln verriet das Gegenteil.
„Ich hab sie euch guten Gewissens überlassen und dieser alten Frau einen Schwur geleistet. Ihr tut Unrecht, wenn ihr sie nicht wiedergebt“, sagte der Medicus, aber seine Worte hatten genauso wenig Wirkung auf den König, wie die des Kräuterweibs.
„Verlasst auf der Stelle mein Schloss, Gesindel! Sonst rufe ich meine Wachen!“
Der Medicus nahm die Hand der Frau und verlies mit ihr das Gemach.
Ohne sich umzudrehen und dem König noch eines Blickes würdigend murmelte sie ihm etwas zu.
Arnus verstand es nicht, aber es kümmerte ihn auch nicht.
Kurz nachdem sein Besuch weg war, und er sich ein Dokument seines Finanzministers durchlas, pochte es in seiner Brust. Zuerst nur leicht, aber dann verstärkte es sich, und die Schmerzen kamen wieder.
Er bekam Angst, als sich der Tag dem Ende zuneigte und sie nicht wieder verschwanden. Er beschloss das Selbe zu machen, was er zuvor getan hatte: Er legte sich schlafen und nahm die Wurzel mit sich ins Bett.
Wie zuvor wachte er auch diesmal mitten in der Nacht auf, aber diesmal war das Ergebnis ein anderes. Die Schmerzen waren sogar noch stärker, und plötzlich glaubte sich der König an das Gemurmel der alten Frau erinnern zu können. Es war ihm, als hätte sie gesagt „ihr werdet es bereuen“, und „ihr werdet mich nicht finden.“
Voll Angst quälte er sich in seinem Bett von einer Seite zur anderen, die Wurzel fest mit seinen Händen umklammernd, und versuchte wieder einzuschlafen. Es gelang ihm nicht.
Kurz nach Einbruch des neuen Tages beschloss er, das Kräuterweib erneut aufsuchen zu lassen, und ihr die Wurzel zurückzugeben. Er würde sich entschuldigen und sie bitten, die Schmerzen von ihm zu nehmen.
Mit den Schmerzen kam auch die Armut seines Volkes wieder. Sein Finanzminister berichtete ihm, dass das Getreide, das sie eingekauft hatten, über Nacht schlecht geworden war. Er könne sich dies nicht erklären.
Der König konnte es!
Kurz nachdem er diese schlechte Nachricht erhalten hatte, schickte er Reiter los, mit dem Auftrag das Kräuterweib aufzusuchen und ihr die Wurzel zurück zu bringen. Er hatte seinen Reitern einen Brief mitgegeben, in dem er sich entschuldigte, und Gold.
Am Abend kamen seine Reiter zurück. Ihre Mission hatte keinen Erfolg gehabt. Auch in den nächsten Tagen blieb ihre Suche vergebens.
Eines Nachts sah er in seinem Traum die alte Frau. Sie flüsterte ihm zu: „Du wirst es bereuen!“
Am Tag darauf fand ein Diener den König tot im Bett liegen.