Ein Adagio bleibt für uns
Die in regelmäßigem Abstand aufflackernden Lichter, die ihm aus den Tiefen des U-Bahntunnels entgegen schossen, leuchteten fast wie gefährliche Blitze auf und schmerzten ähnlich wie gleißende Sonnenstrahlen in den Augen. Sie ließen ihn aus seinem Sekundenschlaf aufschrecken und sprangen ihn förmlich aus der Dunkelheit heraus an. Dabei wusste er, dass diese auch nach dem nächsten Eintauchen in die Dunkelheit wieder aufzucken würden, wenn sie sich dem nächsten U-Bahnhof näherten. Moritz hatte gehofft, trotz der wiederkehrenden Einschläge durch die Lichtgeschosse nach seiner kräfteraubenden Spätschicht in der Klinik einfach auf der ganzen Strecke Kopf und Körper auszuschalten. Er schielte sehnsüchtig auf die digitale Anzeige, die wie eine Erlösung über allen unter der Decke des Waggons thronte und zuverlässig die nächste Station anzeigte. Nachdem Moritz vergeblich drei Mal bis fünf gezählt hatte, merkte er, wie sein rechtes Bein anfing nervös zu wippen, es machte sich selbstständig. Nach einer gefühlten Ewigkeit sprang die Anzeige um. Die Bahn kam quietschend zum Stehen und Moritz bahnte sich seinen Weg zum Ausgang.
Im Flur brannte kein Licht und auch im Wohnzimmer schien alles still zu sein. Moritz legte den Wohnungsschlüssel in die Keramikschale, die rechts neben der Tür auf einer dunkelbraunen Holzkommode stand und alle ihre Schlüssel aufbewahrte. Er hielt einen Moment inne, bevor er seine etwas zu große Cordjacke an den Haken an der linken Wand hängte. Er wunderte sich, denn Elenas Jacke hing dort auch. Sie war also doch da. Er hörte den gedämpften Lärm der Straße. Ein Fenster musste irgendwo offenstehen. Moritz ließ seinen Rucksack an der Türschwelle des Schlafzimmers zu Boden gleiten. Er streckte sich, atmete erleichtert aus und ging in Richtung Wohnzimmer, welches am anderen Ende des Flures lag. Als er die Wohnzimmertür öffnete, war es keineswegs dunkel, denn die Lichter der Straße und zwei auf dem Klavier stehende Kerzen tauchten den Raum in einen besonderen Schein. Elena stand, ihre Ellenbogen auf die Fensterbank gestützt, am offenen Fenster, schwenkte in der linken Hand ein Rotweinglas und rauchte. Ihre vollen, hellbraunen Haare hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden und bis auf ein grünlich schimmerndes, kurzes Top und eine enganliegende Unterhose hatte sie nichts Weiteres an. Die Beine überkreuzt, blickte sie über die Hausdächer, nahm einen Zug von der Zigarette und blies den Rauch in den Abendhimmel. Moritz stellte sich zu ihr ans Fenster, umarmte sie von hinten und drückte sie an sich. Nachdem sie seine Hände auf ihrem Bauch gespürt hatte, ließ sie ihren Kopf auf seine Schulter fallen und lächelte, wobei sie ihre Augen geschlossen hielt. Moritz gab ihr einen Kuss auf die Wange und beugte sich vor. „Nicht zu kalt?“ Elena schüttelte leicht lächelnd den Kopf. „Angenehm.“ Moritz strich ihr eine übriggebliebene Strähne aus der Stirn und versuchte ihren Blick zu erreichen. „Wie war dein Tag?“ Elena zuckte mit den Achseln und seufzte. „Anstrengend…Prof. van Haake hat mich regelrecht durch die Stunde gepeitscht.“ Moritz schüttelte den Kopf. „Die kann es auch echt nicht lassen, oder?“
Elena lächelte schmal. „Sie muss so sein, sonst schaffe ich es nicht.“ Moritz seufzte nur und so schauten sie zusammen hinaus und schwiegen eine Weile. Dabei standen über ihnen am Abendhimmel die Sterne, die im Vergleich zu den aufheulenden Motoren eine tiefe Ruhe ausstrahlten. Die leuchtenden Himmelskörper, die so unendlich weit weg erschienen, wirkten dabei wie die Notenschrift einer uralten Melodie, wie eine in perfekter Harmonie stehende musikalische Passage, wohingegen der Verkehrslärm wie ein verstimmter Posaunenchor dröhnte. Elena stellte das Weinglas ab und strich mit ihrer Hand über Moritz Wange. „Und wie war dein Tag?“ Moritz atmete schwer aus, sagte aber nichts, löste langsam die Umarmung und drehte sich zum Raum hin um. „Ist noch Wein da?“ Elena nickte und zeigte auf das Klavier. „Halbe Flasche noch.“ Moritz holte sich aus dem alten Schrank mit Glasschiebetüren, den er günstig bei einer Haushaltsauflösung ergattert hatte, ein Weinglas, ging hinüber zum Klavier und schenkte sich ein. Dabei nahm er die Noten, die ausgebreitet auf den Tasten lagen, in seine freie Hand und drehte sich zu Elena um. „Was spielst du vor? Bach?“ Moritz blätterte langsam durch die Noten, bevor er aufschaute, um ihren Blick einzufangen. „Welches Stück ist es?“„Du kennst es bestimmt.“„Ich glaube nicht. Willst du spielen?“ Elena nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette, bevor sie sich vorbeugte, um diese im Aschenbecher auszudrücken, der auf einem kleinen Sofatisch mitten im Raum stand. „Ein anderes Mal, ja?“ Elena trat auf Moritz zu, nahm ihm die Noten aus der Hand, legte diese zurück auf das Klavier und zog ihn zu sich. „Morgen…vielleicht. Lass uns was von dir hören.“ Moritz nickte, ging hinüber zu seinem CD Spieler, der neben der Tür auf einem kleinen Tischchen stand, zog die Klappe hoch und legte eine seiner Lieblings CDs hinein. Als er sich wieder in Richtung Fenster drehte, sah er gerade noch, wie Elena zu den ersten Akkorden von Nick Caves „O Children“ ihr Top über den Kopf zog und in die Ecke warf.
Es war, als würde man alles von sich abspülen. Es war, als würden Ängste, Zweifel und Erschöpfung aus allen Poren fallen und mitgetragen werden vom Schwall des Wassers. Das Rauschen einer Dusche hatte etwas Schöpferisches. Es schien fast so, als würden Sorgen zusammen mit Schweiß und Dreck in den Abfluss gespült werden. Alles floss ab. Die nasse Haut fühlte sich zart und weich an, sie gab dem Druck nach, wenn man sie berührte. Moritz liebte dieses Gefühl, sich frühmorgens Müdigkeit und Albträume vom Körper zu spülen. Er liebte es, nur sich selbst zu hören. Die vielen Tropfen, die aus dem Duschkopf auf ihn herunterprasselten, erschufen einen beweglichen Schutzraum, ließen die Welt draußen gedämpft zurück. Und so saßen sie gemeinsam, die Beine angezogen in der Dusche und schwiegen, um dem Rauschen des Wassers zu lauschen. Dabei hatten sie ihre Schultern an einander gepresst und Moritz wünschte sich, den ganzen Tag so zu sitzen, unter dem Strahl, bis ihre Haut aufgerieben und faltig werden würde. Er spürte Elenas Kopf, der auf seine Schulter gesunken war, der sich schwer anfühlte und doch merkte er, dass es ihn nicht störte. Moritz konnte ein kleines Lächeln auf ihren Lippen wahrnehmen, während er durch ihre Haare strich. Elena hatte versprochen, ihm noch vorzuspielen, bevor sein Dienst in der Klinik anfing. Ob sie das wirklich noch tun würde, wusste er nicht. Vielleicht vertröstete sie ihn wieder nur. Er hörte sie gerne spielen. Vor allem Bach. Sie liebte und fühlte die Musik, jede Phrase, jeden Klang eines Themas. Und er liebte es, ihr beim Spielen zuzuhören. Er stand während solcher Momente immer am selben Ort, angelehnt an die Fensterbank, an der tags zuvor auch Elena gestanden hatte, die Arme verschränkt, den Klängen lauschend. Er klatschte immer und dabei wusste er, dass es ihr unangenehm war, denn nachdem der letzte Ton verhallt war, wurde nicht viel gesprochen. Sie kam immer zu Moritz ans Fenster und schmiegte sich an ihn. Zusammen lauschten sie den Klängen nach, die langsam und immer leiser werdend den Raum verließen. Elena riss Moritz aus seinen Gedanken. „Du musst gleich los.“ „Ich weiß. Spielst du nicht mehr?“ Elena schüttelte den Kopf und versuchte ein Lächeln. Moritz nickte. Elena strich mit ihrer Hand über seine Wange und dabei spürte er, wie das Wasser ihre Fingerspitzen aufgeweicht hatte. „Ich komme mit. Habe einen Proberaum gebucht. Brauche die Zeit an der Uni.“ Moritz nickte erneut. „Dann sollten wir los.“ Elena beugte sich langsam zu ihm vor und flüsterte, „Moment noch.“ Und dann küsste sie ihn. Gefühlvoll spürte er ihre Lippen, die sich ganz sachte auf seine drückten. Er spürte diesen sanften, zarten Druck, der nicht nur seine Lippen, sondern seinen ganzen Körper durchfuhr. Der etwas in ihm weckte, was er nicht beschreiben konnte. Elena führte langsam ihre Lippen zu seiner Stirn und gab Moritz noch einen letzten Kuss, bevor sie aufstand, ihre nassen Haare zurückstrich und die Tür der Duschabtrennung öffnete. Moritz blieb noch einen Moment sitzen und schloss die Augen. Er versuchte den Zauber des Wassers festzuhalten, nicht ziehen zu lassen, auch wenn die magische Welt der Dusche bereits anfing, sich nach und nach aufzulösen.
Die Bahn war voll und doch hatten sie einen Sitzplatz gefunden. Eng aneinander gedrückt hatte sich Elena an ihn gelehnt und schien durch ihre Träume zu laufen. Moritz beobachtete sie beide in der gegenüberliegenden Scheibe und hatte seinen Arm um sie gelegt. Seitdem er angefangen hatte, sie sanft zu streicheln, veränderten sich ihre Gesichtszüge. Er entschuldigte sich fast, denn er wusste, dass er ihre Traumwelt somit zum Einsturz gebracht hatte, doch er schaute nur weiter in die Scheibe, auf der die Bilder verwackelten, weil alles vibrierte. Das ewige Rütteln machte Moritz müde, doch das konnte er sich nicht leisten. Er musste jetzt wach sein. Der Bach lag dort auf ihrem Schoß. Das Stück, das sie ihm nicht vorgespielt hatte. Musik, dachte er. Musik war vollkommener als er. Und vielleicht auch als Elena. War Bach selbst vollkommener als seine eigene Musik? Würde man eine Note verändern, fand Moritz, würde der Zauber verfliegen. Er verstand ja eigentlich gar nichts von Musik. Erst recht nicht von Bach. Er sah sie vor sich, wie sie lächelte und ihr Glas leerte. Sie redete nicht oft darüber. Über ihr Spiel, ihre Begabung. Manchmal fragte er sich, ob sie die Musik wirklich liebte, ob sie überhaupt lieben konnte. Zu oft schon hatte er nachts alleine im Bett gelegen und die Decke angestarrt, während Elena Noten studierte oder besessen in die Tasten hämmerte, doch für ihn spielte sie nie. Er wartete immer auf sie und blieb wach. Manchmal hatten sie in solchen Nächten Sex und Moritz schaute ihr danach zu, wie sie neben ihm im Bett angespannt eine Zigarette rauchte.
Sie teilten sich den Retsina, so wie sie es immer taten. Einen Liter in der Karaffe zum Feierabend. Dazu Nikos Moussaka. Der griechische Wirt wusste, was er bringen sollte, wenn Moritz und sein Kollege Thomas nach Dienstschluss in seine Taverne kamen. Sie nickten ihm nur zu und ließen sich an den Zweiertisch nahe der Tür fallen. Sie redeten nicht viel, bis Nikos mit den beiden Tellern, der Karaffe und zwei Gläsern kam. Moritz machte sein Glas voller, als man es normalerweise tat. Er musste an vorhin denken. An Tobias, der ihn wie außer sich angeschrien hatte, an die Kollegen, deren spöttische Blicke er gesehen hatte. Moritz wusste, dass Thomas auch daran dachte, doch beide schwiegen. Hin und wieder sah er, wie Thomas ihn über seinen Teller hinweg anstarrte. Dabei war er eigentlich erleichtert, dass er nicht mit ihm sprechen musste. Tobias hatte ihm vertraut und Moritz hatte sich eingebildet, dadurch stets die Situation unter Kontrolle zu haben. Und dennoch hatte er den Stecker ziehen müssen, der an seinem Kasack festgemacht war, für Notfälle wie diesen. Es war seine Pflicht, auch wenn sie schmerzte. Sie hatten Tobias fixiert. Moritz trank und versuchte sich zu beruhigen. Dabei merkte er, wie sein rechtes Bein anfing, nervös zu wippen. Das passierte immer, wenn er unter Stress stand. Die meisten Menschen wussten sowieso nicht, was sich hinter den geschlossenen Türen abspielte. Elena fragte nie nach. Was Elena machte, war wichtiger. Kunst, Kultur. Das interessierte die meisten. Er hingegen war nur eine Schraube im System und er würde nicht aufhalten können, dass es maroder und maroder würde. Sie mussten funktionieren, um das auszubaden, was die Gesellschaft verdrängt und versäumt hatte. Doch damit nicht genug. Sie feindeten sich gegenseitig an, jeder Einzelne wartete auf einen Fehler des anderen. Ein Kampf gegen sich selbst, der das Gerüst hielt, denn so war man abgelenkt. Daraus zog man die Energie, die eigentlich längst nicht mehr da war. Moritz wusste, dass er in diesem Konstrukt gefangen war, obwohl er Menschen wie Tobias helfen wollte. Und das wollte er. Moritz ertrug den Spott der Kollegen und manchmal kam es ihm so vor, dass er genauso wie die Patienten litt.
Er strich sein schwarzes Hemd glatt, das Elena ihm Second Hand verpasst hatte und reckte seinen Kopf empor, um den schwarzen Flügel besser erkennen zu können, der am anderen Ende des Saals auf der Bühne stand. Dort saß Elena aufrecht und konzentriert in einem ebenso schwarzen Kleid und schien ein letztes Mal Luft zu holen, bevor sie ihre Finger über die Tastatur bewegen würde. Darauf hatte sie hingearbeitet, auf diese Prüfung, dieses Konzert. Monate, wenn nicht Jahre, hatte Elena auf diese Chance gewartet, der internationalen Akademie vorzuspielen. Und Moritz hatte nichts gesagt, wenn sie laut geworden war, wenn sie ihn angeschrien hatte, dass er sie in Ruhe lassen solle. Er hatte es geschluckt und gelächelt. Und weil Elena es so wichtig war, hatte er verdammt nochmal einzustecken, das hatte er früh begriffen. Die letzten Momente, bevor ein Konzert begann, hatten eine eigentümliche Schwingung, fand Moritz. Durch die Reihen hindurch herrschte Stille und gespitzte Ohren warteten gespannt auf das Erklingen der ersten Takte. So war es auch diesmal. In solchen Momenten wuchs in Moritz die Nervosität von Sekunde zu Sekunde. Vielleicht sogar ein Stück weit mehr als bei Elena, die tagelang Atemübungen gemacht hatte. Es würde helfen, hatte sie gesagt. Moritz hatte genickt und geschwiegen. Elena hatte weiter gemacht und erst nachts, nachdem sie sichtlich erschöpft ins Bett gefallen war, hatte er sie wiedergesehen. Nie hatten sie sich so wenig zu sagen gehabt. Nie war sie ihm so fremd gewesen. Und als Moritz über die letzten Wochen und Nächte nachdachte, vernahm er die ersten Klänge. Klänge, die das Publikum in ihren Bann ziehen würden. Es war der Bach, den sie ihm nie vorgespielt hatte.
Elena weinte. Moritz wischte die Tränen aus ihrem Gesicht und versuchte zu lächeln. Dabei hielt er ihren Kopf in seiner Hand und widerstand der Versuchung, sie wieder an sich zu drücken. Sie wieder an sich zu drücken, wie die letzten Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen waren. Sie hatten dort gestanden, in der Eingangshalle des Flughafens und hatten sich gefühlt, wie lange nicht zuvor, während Menschen sich an ihnen vorbeigedrängt hatten. Sie hatten sich geliebt dort inmitten der Massen. Moritz biss sich auf die Lippen, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Es reichte, wenn eine Person weinte, fand er. Moritz nahm Elena wieder in den Arm, um sein Schlucken zu verbergen, ein Schrei zerriss ihn innerlich, der als kaum hörbares Flüstern endete. „Du musst los. Der Flieger hebt noch ohne dich ab.“ Sie gab Moritz noch einen letzten Kuss, bevor sie sich aus seiner Umarmung löste, ihre Tasche nahm und sich umdrehte. Moritz blieb noch einen Moment mit geschlossenen Augen stehen und versuchte etwas festzuhalten, was vielleicht längst verklungen war.
Verfasst von Leonard Rosch