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Ein Abend in Deutschland
Der Wind strich sanft durch die ordentlich gemähten Halme des englischen Rasens im Vorgarten des Anwesens. Die Abendsonne glänzte golden auf den Ziegeln der Villa und verlieh ihr einen wahrhaft majestätischen Anblick.
Im Speisezimmer saß der Hausherr am Esstisch und rülpste verhalten. Sich zufrieden den recht beachtlichen Bauch reibend schob er mit der anderen Hand den Teller von sich, auf dem nur noch die Amphibienknochen lagen, die einmal den Kern der Froschschenkel gebildet hatten, welche Teil seines Abendessens gewesen waren. Er winkte der polnischen Haushälterin, die sogleich herbeieilte, um das Gedeck abzuräumen. Sie stellte den Teller neben das leere Kaviarschälchen auf dem Silbertablett, deutete einen Knicks an und verließ dann zügig den Raum. Zu dumm, dass sie kaum seine Sprache sprach, aber dafür war sie billig – man musste schließlich sparen, in diesen harten Zeiten.
Es würde noch einen Moment dauern, ehe sie das Dessert auftischte, daher griff er noch einmal zum letzten Geschäftsbericht.
Der Nettogewinn seiner Firma betrug in diesem Jahr nur 1,8 Milliarden Euro! Man hatte eigentlich auf 2 Milliarden gehofft. Das lag nur an der erdrückenden Steuerlast, man musste ja – nach Ausnutzung von Absetzmöglichkeiten und Steuerschlupflöchern - immernoch ganze sieben Prozent des Umsatzes an den Staat abführen! Aber das sollte sich ja bald ändern, die Mehreinnahmen der erhöhten Mehrwertsteuer sollten ja teilweise dafür genutzt werden, den Unternehmen einige Milliarden ihrer Steuerlast von den Schultern zu nehmen. Aber was stand da neulich in der Zeitung, von wegen 30 Prozent Lohnsteuer? Ach nein, das bezog sich nur auf niedere Angestellte. Erleichtert atmete er auf.
Dennoch, wegen dieses Gewinndefizits von 200 Millionen musste er sich dringend etwas ausdenken. Immerhin wurde sein Gehalt in Abhängigkeit des Reingewinns gezahlt. Das bedeutete für ihn einen Einschnitt von 3 Millionen Euro beim Jahresgehalt. Und es konnte ja wohl keiner verlangen, dass er von nur zwanzig Millionen Euro leben sollte! Das war eines Spitzenmanagers wie ihm unwürdig. Er überlegte. Vor Gericht einklagen schied leider aus. Als neulich der ehemalige Bundesbankchef, der wegen diverser Affären von seinem Posten gefeuert worden war, gegen seine mickrige Pension von nur 8000 Euro im Monat klagte, weil es ihm damit nicht möglich war, seinen bisherigen Lebensstandard zu halten, da passierte etwas eigentlich undenkbares: trotz der großzügigen Zuwendungen, die an sie getätigt wurden, wollten die Richter das nicht so recht einsehen, und sprachen ihm nur ein Anrecht auf 12.000 im Monat zu. Er hatte zurecht wesentlich mehr gefordert. Für was war die staatliche Rentenkasse schließlich da?
Aber was konnte er sonst tun? Die erhöhte Mehrwertsteuer betraf auch ihn. Ohne diese drei zusätzlichen Millionen konnte er sich unmöglich diese neue Yacht leisten, in die er sich auf Anhieb verliebt hatte. Sollte er etwa weiterhin mit seiner lumpigen vier-Millionen-Euro-Schaluppe herumsegeln müssen? Nein, das konnte es ja wohl nicht sein.
Also war klar: Er musste diese 200 Millionen die in der Bilanz fehlten wieder reinholen. Nur wie? Dann zuckte ein Blitz der Erleuchtung durch seinen Kopf: In Bulgarien gab es Verwaltungsangestellte, die für 200 Euro im Monat arbeiteten!
Er schnippte mit den Fingern, woraufhin die polnische Haushälterin mit dem vergoldeten Telefon herbeieilte, und ihm den Hörer mit dem schwarz importierten, handgeschnitzten Elfenbeingriff reichte. Aber was musste er da sehen? Hatte sie sich doch nicht die Hände gewaschen, und war direkt vom Zubereiten der Nachspeise zum Telefonbringen übergegangen! Jetzt verunstaltete ein feiner Fingerabdruck das Blattgold auf der Oberfläche des Apparates. Er notierte sich in Gedanken, sie für diesen Fehler gleich morgen früh an die Luft zu setzen. Sollte sie doch jammern und flennen. Was kümmerten ihn ihre drei kleinen Kinder? Sie müsste nur etwas sorgfältiger Arbeiten, dann könnte er sie auch behalten. Das würde ihr sicher eine Lehre sein, für den nächsten Job. Irgendjemand anderes würde sie ganz bestimmt wieder einstellen. Naja, es wäre zumindest möglich, dass das geschah.
Er besann sich darauf, dass er sich gerade um Wichtigeres zu kümmern hatte, als um das Leben seiner ehemaligen Bediensteten: um Geld!
Er wählte die Nummer seines Büros und ordnete an, die gesamte Verwaltung zu schließen und nach Bulgarien zu verlagern.
Zwei Wochen später saß er vor seinem riesigen Plasmafernseher und schüttelte ungläubig den Kopf. Wie konnten die es ihm vorhalten, dass er trotz Milliardengewinnen diese sechstausend Verwaltungsangestellten entlassen hatte? Waren die denn alle so dumm, dass sie es nicht verstanden? Der Gewinn war nicht groß genug! Und das bedeutete, dass hart arbeitende Manager wie er dafür hungern mussten! Schließlich bedurfte es einer Menge echten Beluga-Kaviars, um sich eine solch ästhetische Kugel zu züchten.
Was kümmerte es ihn, dass viele davon nun bei Hartz IV landen würden? Das war doch ihre eigene Schuld! Er würde gerne jedem einzelnen von ihnen zurufen, dass sie sich nur mal zu waschen und zu rasieren bräuchten, dann bekämen sie auch wieder einen Job. Aber das hatte ja Ministerpräsident Kurt Beck neulich erst getan, und das Urheberrechtsgesetz verfuhr schließlich streng mit Ideenklauern. Zu Recht drohten etwa Raubkopierern bis zu fünf Jahren Haft. Schließlich entgingen der Industrie zusätzliche Milliarden dadurch. Und dann erst die faulen Ausreden dieser Verbrecher – es entginge niemandem Geld, weil sie finanziell gar nicht in der Lage seien, sich die hundert DVDs in ihrer Sammlung alle zu kaufen, von denen die Hälfte deshalb gebrannt war.
Aber wenn sie nicht ins Gefängnis wollten, dann konnten sie sich doch auch einfach freikaufen! So wie es neulich Deutsche Bank Manager Ackermann getan hatte, der sich durch eine Zahlung von ein paar Peanuts – drei Millionen waren es, soweit er sich erinnerte – einer Haftstrafe wegen Veruntreuung entziehen konnte. Das stand diesen Raubkopierern doch auch frei!
Jeder beging doch schließlich strafbare Handlungen, doch man musste sich eben auch rauskaufen, wenn man das Pech hatte erwischt zu werden! Wenn seine Lustreisen zu den Kindern in Thailand irgendwann aufliegen sollten, dann würde er das auch tun, ohne groß zu murren. Das war eben der Preis, den man zahlen musste. Eine gerechte Welt.
Und Hartz IV war eine feine Sache. Zu schade, dass man ihren Erfinder Peter Hartz neulich vor Gericht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt hatte. Weil er, finanziert durch ein paar Millionen Euro, die er als VW Vorstand veruntreut hatte, den Betriebsrat mit Lustreisen in südamerikanische Bordelle bestochen und sich gefügig gemacht hatte. Damit der Rat Lohnkürzungen und Stellenabbau durchwinkte. Er schmunzelte. Das war eigentlich eine gute Idee, die hätte von ihm sein können.
Aber da Herr Hartz ja so ein Volksheld war, als Erfinder von Hartz IV, wurde seine Strafe großzügigerweise zur Bewährung ausgesetzt. Die Richter hatten korrekt erkannt, dass dieser aufrichtige, herzensgute Mann durch den Prozess sehr gelitten hatte, was schon Strafe genug gewesen sei.
Jedenfalls hielt einem Hartz Vier die faulen Leute von der Backe, die ja alle nicht arbeiten wollten. Da waren sie gut aufgehoben, und der Staat zahlte ihnen immerhin einen fürstlichen Monatsbetrag von 345 Euro. Vielleicht mussten sie dann ihren Hund einschläfern, weil das Töten billiger war als die teure Behandlung beim Tierarzt. Oder drei Monate sparen, um als Familie mal an nem ermäßigten Tag ins Kino zu können. Aber die sollten sich nicht so aufspielen! Anderswo hatten die Leute nicht einmal zu Essen!
Er unterbrach seinen Gedankengang für einen Augenblick, als die neue, tschechische Haushälterin ihm eine Mousse au Chocolat mit Trüffeln brachte. Sie verstand es, einen knurrenden Magen vorauszuahnen!
Ärgerlich war es nur, dass viele Leute sich diese Leistungen erschlichen, obwohl sie womöglich noch irgendwo das Sparbuch von einem ihrer Kinder versteckt hatten! Aber zum Glück gab es ja jetzt mehr Kontrollen, um dafür zu sorgen, dass derartige Vermögenswerte zuerst aufgebraucht wurden, bevor der Staat zahlte.
Nicht dass es ihn direkt stören würde, man zahlte ja nicht dafür. Das taten nur die niederen Leute, die für einen arbeiteten, und Sozialabgaben von ihrem Gehalt abführten. Und einen auch noch um mehr davon anbettelten! Man war doch schon so größzügig, ihnen Beschäftigung zu geben, weshalb man sich ja auch Arbeitgeber nannte, obwohl man eigentlich die Arbeit nahm, die die Angestellten einem gaben – und zugegeben, bei Bedarf nahm man auch wieder ihre Stelle. Aber die sollten sich nicht so aufregen, und lieber, zur weiteren gewünschten Verblödung, noch ein paar Containersoaps gucken! Es gab doch wichtigeres im Leben als Geld!
Er verbrachte ein paar Minuten damit darüber nachzusinnen, was ihm denn wichtiger sei. Doch als ihm nichts einfiel griff er noch schnell zur goldenen Feder, um eine Überweisung von seinem schweizer Konto zu veranlassen, auf dem er seine veruntreuten Millionen bunkerte. Sein alter Freund aus dem Vorstand, der heute Minister in der Regierung war, hatte ihm neulich einen großen Gefallen getan. Und dafür musste er sich doch gleich mal mit einer großzügigen Zuwendung auf sein Spendenkonto revanchieren...