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Ein Abend im November
Durch die Dunkelheit prasselte der Regen gegen die Fenster. Ich hatte gerade meinen letzten Brief geschrieben und sah mich in der Wohnung um. Alles entsprach meinen Vorstellungen. Ein sehr trauriges und dennoch zugleich warmes Gefühl überkam mich. Ich würde jetzt gehen und Frieden finden. Niemand würde es merken. Wer sollte auch? Es gab weder Mann noch Kind in meinem Leben, noch war da eine Freundin, die mir einen Weg hätte aufzeigen können. Doch das alles war jetzt egal.
Langsam ging ich mit meinem Wasserglas in das Schlafzimmer. Als ich gerade auf dem Bett saß, klingelte es an der Tür. Unwillkürlich hielt ich den Atem an, in der Hoffnung, dass kein Lebenszeichen meine Anwesenheit verriet. Sicher würde es gleich aufhören. Herrgott Sakrament! Wieso heute? Es wollte doch sonst niemand etwas von mir. Der Postbote konnte es nicht sein. Der würde das Paket, ohne bei mir geklingelt zu haben, bei der selbsternannten Hausmeisterin im Parterre links abwerfen. Diese würde mich später auf der Treppe abfangen, mir gönnerhaft das Paket überreichen und mich wissen lassen, welche Last Sie – in Form eines winzigen Päckchens – auf sich genommen hatte. Sollte sie doch das nächste Mal das Paket ablehnen. Ich würde es auch vom Postschalter abholen. Es klingelte immer noch. Wer konnte nur so penetrant sein?
Ich stellte das Wasserglas auf dem kleinen Beistelltisch gleich neben dem Bett ab und stand seufzend auf. Ich musste wohl nachsehen, wer dort so dringend etwas von mir wollte. Durch den Türspion lächelte mir eine kleine alte Frau mit langem weißem Haar entgegen. Sie war in ein schneeweißes Kleid gehüllt. Eine Tasche hing quer über ihrer Schulter. Sollte ich öffnen? Aus den Polizeisendungen im Fernsehen war mir bekannt, dass dies ein Trick sein konnte. Sie könnte die Vorhut eines Verbrechertrios bilden. Einen Treppenabsatz tiefer könnten zwei schwarz vermummte Gestalten stehen, die nur darauf lauerten, sich Zutritt zu meiner Wohnung zu verschaffen. Unwillkürlich musste ich lächeln. Das wäre aber auch ein zu alberner Zufall, wenn genau an meinem letzten Tag in meine Wohnung eingebrochen würde. Im Grunde konnte es mir egal sein. Insofern war das Risiko, ihr zu öffnen, nicht wirklich groß und dass sie tatsächlich in verbrecherischer Absicht unterwegs war, konnte ich mir eigentlich auch nicht vorstellen. „Machen Sie auf, ich weiß, dass Sie hinter der Tür stehen. Ich kann Sie sehen und hören kann ich Sie auch. Nun machen Sie schon, ich habe nicht ewig Zeit!“.
Sie konnte mich sehen? Die war doch verrückt. Ich hängte die Kette ein und öffnete die Tür einen Spalt.
„Ja? Was möchten Sie?“
Sie tippelte etwas nach links, um mich durch den Türspalt besser sehen zu können. Braune Augen taxierten mich.
„Nun lassen Sie mich schon rein. Das Ganze ist doch witzlos hier. Sie wissen das und ich weiß das auch. Und wie ich schon sagte, ich habe nur ein begrenztes Zeitkontingent. Daher lassen Sie uns das hier abkürzen und Sie lassen mich jetzt rein.“
Einer Intuition folgend und weil es ja wirklich egal war, entriegelte ich die Tür und gewährte ihr Zutritt zu meiner Wohnung. Zielstrebig trat sie an mir vorbei, bog nach rechts ab und setzte sich an den Küchentisch. Genau auf den Platz, wo meine Mutter immer gesessen hatte.
Erst als sie auf dem Stuhl saß, bemerkte ich, dass sie etwas zitterte. Die Kraft schien aus ihrem zarten Körper gewichen zu sein.
„Darf ich Ihnen etwas anbieten? Ein Glas Wasser? Einen Tee?“.
„Ein Glas Pfefferminztee wäre nett, mein Kind. Und machen Sie sich doch bitte auch eins. Wir müssen ein Weilchen reden.“
Ich hatte tatsächlich noch zwei uralte Pfefferminzteebeutel im Wandschrank. Konnte Tee schlecht werden? Vielleicht schmeckte er nicht mehr, aber er würde uns schon nicht umbringen. Ich ging ins Badezimmer, wo ich den Hauptwasserhahn wieder öffnete, dann lief ich zur Küchenspüle und ließ das alte Leitungswasser einige Sekunden ablaufen, bevor ich den Teekocher mit dem nächsten Schwung füllte. Während die Temperatur im Teekocher langsam anstieg, nahm ich meine zwei Lieblingstassen aus dem leicht angegrauten Buffetschrank. Wie lange hatte ich die schon nicht mehr benutzt? „Fünf Jahre“, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Ja, bestätigte ich, genau fünf Jahre. Der Siedepunkt des Wassers wurde überschritten und der Teekocher schaltete sich aus. Ich goss uns ein, stellte zuerst ihr und dann mir eine Tasse auf je ein kleines Platzdeckchen und sah sie fragend an. Im Zeitlupentempo ergriff sie die Teetasse, führte sie mühevoll an ihren winzigen, faltigen Mund und seufzte zufrieden.
„Wieso möchten Sie gehen?“, war die erste Frage, die sie mir stellte.
„Gehen? Was meinen Sie? Ich möchte nirgendwohin gehen und ich wäre schon viel weiter, wenn Sie mich nicht gestört hätten.“ Groß sah sie mich an, drang mit ihren braunen Augen förmlich in mich ein, sodass ich mich ziemlich unwohl fühlte.
„Sie wissen, dass das nur bedingt stimmt. Lügen Sie mich nicht an, damit verschwenden Sie nur unsere Zeit und gerade Sie sollten wissen, wie kostbar Zeit ist.“
Prompt hatte ich ein Flashback und sah meine Mutter und mich in einem Strandkorb an der Ostsee sitzen. Es war das letzte Mal gewesen, dass wir beide so vollkommen glücklich waren. Kurze Zeit später war sie tot. Der Krebs hatte schneller seinen Tribut gefordert, als die Ärzte es vorausgesagt hatten.
„Was haben Sie seitdem mit Ihrem Leben angestellt?“
„Seit wann?“, fragte ich. Ihr Gesicht zeigte allmählich Spuren von Verärgerung. Konnte sie Gedanken lesen?
„In den letzten fünf Jahren. Was haben Sie seitdem mit ihrem Leben gemacht? Bitte die Kurzversion. Sie wissen, wir haben nicht viel ...“
„Zeit.“, vervollständigte ich ihren Satz.
Ja, was hatte ich in den letzten Jahren gemacht? Gearbeitet! Neun, zehn, elf Stunden am Tag die Buchhaltung fremder Leute erledigt, die mir kurz vor Ablauf der Einreichungsfristen ihre Unterlagen sandten und von mir erwarteten, dass alles trotzdem pünktlich und korrekt bis auf die vierte Nachkommastelle beim Finanzamt eingereicht wurde. Selten gab es ein Dankeschön. Aber was erwartete ich auch? Es war ein Job. Wenn ich ehrlich war, war es nicht mein Job. Ich hatte immer etwas mit Kindern machen wollen, doch irgendwie hatte es sich nicht ergeben. Jetzt war ich Anfang Vierzig und es war sowieso zu spät.
„Das ist doch schon einmal ein Anfang. Sie sagen, Sie haben ihr Leben lang den falschen Beruf ausgeübt. Das ist nicht schön, aber auch kein Todesurteil. Wieso machen Sie keine Umschulung?“
Noch immer hielt die winzige Frau meine Pfefferminzteetasse in der Hand und sah mich fragend an. Der Tee in der Tasse wurde nicht weniger, trotzdem Sie schon einige kräftige Schlucke genommen hatte. Mir war leicht schwindlig.
„Machen wir weiter. Wieso wohnen Sie hier allein? Haben Sie keinen Mann … oder Frau?“, setzte sie noch hinzu. Was ging diese Frau mein Liebesleben an? Etwas unwillig antwortete ich:
„Ich war verheiratet, fast sieben Jahre. Dann kam das Übliche. Er wollte keine Kinder, ich schon. Erst später stellte sich heraus, dass ich keine bekommen konnte. Da hatte er schon über ein Jahr eine Geliebte. Als ich es herausfand, schien er erleichtert zu sein. Die Trennung war kurz und im Vergleich zu den letzten Jahren unserer Ehe ziemlich schmerzlos. Ein halbes Jahr später wurde er Vater. Als er mir ein Foto von seinem Sohn per WhatsApp sandte, habe ich seine Nummer blockiert. So ein Idiot.“
Schweigen. Dann begann sie mit ihrer runzligen Hand über meine Wange zu streicheln, wo ungewollt eine Träne herabgeronnen war.
„Du liebst ihn immer noch, Kleines.“
Die Tränen rollten nun sturzbachweise über mein Gesicht. Mit dieser zärtlichen Geste hatte meine Mutter mich immer getröstet. Sie hatte es immer geschafft, meinen Schmerz zu lindern, rein, weil sie da war, weil sie sich um mich kümmerte, weil ich ihr nicht egal war. Sie war meine beste Freundin gewesen und seit sie weg war, war meine Welt nur noch schwarz. Nichts hatte sich mehr relativiert.
„Wieso lässt du ihn dein Leben bestimmen? Wieso lässt du die anderen gewinnen? Wieso trennst du die Welt in Schwarz und Weiß?“
Verdutzt sah ich sie an. Ich machte was? Das Schwindelgefühl verstärkte sich.
„Sie sollten sich jetzt hinlegen. Ihnen geht es nicht gut.“
Etwas wackelig stand sie auf, straffte den Rücken und bot mir ihren erstaunlich starken Arm an. Dann führte sie mich hinüber direkt ins Schlafzimmer, wo das Wasserglas auf dem Boden lag und sich ein Fleck im Teppich gebildet hatte. Nun ja, es war ja nur Wasser. Als ich im Bett lag, spürte ich, wie schwach ich war. Das Licht wurde immer greller und nur die Anwesenheit der alten Dame, die noch immer meine Hand hielt, ließ mich nicht panisch werden.
„Hören Sie“, flüsterte sie direkt in mein Ohr, „meine Zeit ist jetzt wirklich abgelaufen, aber seien Sie versichert, Sie haben noch Zeit. Vergeuden Sie sie nicht. Sie sind eine wunderbare Frau und Sie können alles schaffen. Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist.“ Sie streichelte noch einmal über meine Wange, dann verkrampfte sich mein Körper in spastischen Zuckungen.
„Frau Teichert, Frau Teichert, bleiben Sie bei uns! Wir haben Ihnen ein Mittel injiziert, welches dazu führt, dass sich ihr Magen entleert. Bleiben Sie ruhig. Wir bringen Sie gleich ins Krankenhaus.“
Ich verstand nichts. Wieso Krankenhaus? Wo war die ältere Dame? Was machten die vielen Menschen in meinem Schlafzimmer? Weiter kam ich in meinen Gedanken nicht, dann musste ich mich übergeben.
Ein Jahr später:
„Eine irre Geschichte.“ Heike, die mir gegenübersaß, nippte genüsslich an ihrem Latte Macchiato. Ich hatte sie bei der Umschulung zur Erzieherin kennengelernt. Jetzt war sie meine beste Freundin. Am Nachbartisch schepperte es. Ein Teeglas war umgefallen. Als ich die Dame dort anblickte, lächelte sie.