Eigentlich war es gar nicht meine Schuld
Ich hatte nicht vorgehabt sie umzubringen. Aber eigentlich war es ja auch gar nicht meine Schuld. Schließlich hatte ich sie nicht dazu gezwungen auf die Straße zu rennen.
An dem Tag war ich einfach sauer. Das ist ja auch verständlich, eine Fünf in Englisch, eine Stunde Nachsitzen und außerdem regnete es. Ich brauchte einfach eine Gelegenheit um mich abzureagieren. Da passte es ganz gut dass Sandra nach der Schule mit dem selben Bus fuhr wie ich. Ich hab sie ja nicht zum ersten Mal geärgert. Sandra war einfach komisch. Ich meine, sie war nicht fett und hässlich oder so, aber sie hatte keine Freunde. Ich weiß nicht warum, wahrscheinlich weil sie immer so still war und nur gute Noten hatte. Außerdem hinkte sie und war darum immer etwas langsamer als die anderen. Ich geb‘s ja zu, das ist noch lange kein Grund auf jemandem rumzuhacken, aber irgendwer hatte mal damit angefangen, und seitdem taten es alle. Es war doch nicht so, dass jemand sie wirklich angegriffen hätte, zumindest nicht so dass sie verletzt worden wäre. Wir warfen ihr manchmal Papierkügelchen ins Gesicht oder zogen sie an den Haaren. Es reichte schon ein paar Mal ihren Namen zu rufen, richtig laut, durch den ganzen Bus, bis sich alle nach ihr umdrehten. Wenn sie einen Wutanfall gekriegt hätte oder angefangen hätte zu heulen hätten wir vielleicht sogar aufgehört. Na ja, vielleicht auch nicht. Aber sie benahm sich dann immer ganz komisch, sie erstarrte irgendwie. Sie bewegte sich einfach nicht mehr und sagte auch nichts, ganz egal was man machte. Es war richtig gespenstisch, als hätte jemand eine Puppe da hingesetzt. Mit der Zeit wurde es ein richtiges Spiel: Was muss man tun damit sie reagiert? Schafft es jemand sie so zu reizen dass sie ihre Selbstbeherrschung verliert? Ich kann mich allerdings nicht daran erinnern dass es wirklich mal geklappt hätte.
Also, an dem Tag hatte ich schlechte Laune. Im Bus saß sie vor mir. Sie regte mich einfach auf, schon die Art wie sie ihren Kopf hielt. Als wäre sie was Besseres als wir! Ich brachte eigentlich nur das übliche Zeug: „Wen haben wir denn da? Das ist doch die Sandra!“ Sebastian, ein Freund von mir, machte sofort weiter. „Hallo Sandra.“ Er grinste und wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. „Du schläfst mal wieder? Oder bist du auf Drogen? Red doch mal mit mir!“ „Hast du wieder eine gute Note geschrieben?“, fragte ich. „Schade dass dein IQ so hoch ist, sonst könnten wir uns mal unterhalten. Weißt du, so von Idiot zu Idiot...“ So ging das ungefähr eine halbe Stunde. Es war wirklich nichts Besonderes, wenn ich daran denke was sonst schon passiert ist. Sebastian hat sie mal auf den Kopf geschlagen, richtig fest. Das heute war wirklich harmlos, mir wurde schon fast langweilig dabei. Dann hatte ich plötzlich so eine Idee. „Ich hab einen Vorschlag“, sagte ich zu ihrem Hinterkopf. „Wie wär‘s wenn wir dich in Zukunft begleiten? Wir könnten dich morgens zu Haue abholen und mit dir zur Bushaltestelle gehen.“ „Ja“, fiel Mark ein, ein anderer Freund von mir, „es ist so schade dass wir uns im Bus immer nur kurze Zeit sehen. Wir hätten viel mehr Zeit um uns zu unterhalten.“ Als der Bus hielt stieg sie als Letzte aus. Wir hatten zwar nichts verabredet, aber trotzdem blieben wir alle draußen stehen und warteten auf sie. Ihr Blick war ganz starr, als würde sie durch uns hindurchsehen. Ehrlich gesagt war mir das ein bisschen unheimlich, aber es stachelte mich auch an. „Komm, Sandra“, sagte ich und ging auf sie zu. „Soll ich dich führen? Vielleicht kannst du mich ja unter deinen Regenschirm lassen, meine Haare sind schon ganz nass.“ Ich griff nach ihrem Arm. In dem Moment in dem ich sie berührte kam plötzlich Leben in sie. Sie schüttelte mich ab und rannte. Es sah komisch aus, ich habe ja schon erwähnt dass sie hinkte. Wir mussten lachen, aber ich glaube sie hörte uns gar nicht. Sie lief auf die Straße und in dem Moment kam ein Lkw um die Ecke, so ein richtig großer Sattelschlepper. Der Fahrer schaffte es nicht mehr rechtzeitig zu bremsen.
Aber ich kann nichts dafür. Wie gesagt, ich habe sie nicht dazu gezwungen auf die Straße zu rennen. Sie war einfach zu empfindlich.