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Eichenholz
Als Peter bemerkte, dass er den Kühlschrank offen gelassen hatte, war es bereits zu spät. Zwei Monate Aussteigerurlaub in Tibet ohne Handy, Telefon, Fernsehen und anderen zivilisatorischen Ballast hatten ihr Ende gefunden. Dabei lebte er auch hier wenige Kilometer vom quirligen überquellenden Berlin entfernt recht alleine und ungestört. Vielleicht hatte ihn deshalb schon an seinem dreißigsten Geburtstag die große Frage nach dem Sinn überfallen. Aber die flache Heidelandschaft liess ihn nur ruheloser werden. Er wünschte sich, sein Leben möge spannender werden, doch Tibet hatte ihm auch nicht geholfen.
Wünsche sind gefährlich. Das wurde Peter bewusst, als er sein Häuschen vom Weg aus zum ersten Mal erblickte. Er blieb einfach mit seinem Mountainbike stehen und starrte auf das Bild, das sich ihm in der Nachmittagssonne bot. Eben war er noch durch das Dörflein, zu dem sein Grundstück gehörte, geradelt. Alle, denen er begegnet war, hatten ihm freundlich zugewinkt. Niemand war in Panik auf ihn zu gerannt oder hatte ihn vom Rad gezerrt. Auch hier in der Heide war alles ruhig. Keine Feuerwehr, keine Polizeiabsperrungen, keine Katastrophenhelfer – nur die Katastrophe.
Unaufhaltsam wuchs irgendetwas im Haus, drückte die im Frühling mühsam dunkelgrün gestrichenen Holzwände nach außen und ließ gerade die Fensterscheiben der Küche zersplittern. In diesem Moment fiel Peter siedend heiß ein, dass er den Kühlschrank offen gelassen hatte, weil er ihn noch ausräumen und ausschalten wollte – aber dann hatte wohl irgendetwas bei ihm ausgesetzt und der Kühlschrank war in die Tiefen seines Vergessens gerutscht, aus denen er sich jetzt wieder hoch arbeitete. Hilflos, aber auch irgendwie fasziniert, schaute Peter zu, wie sich das moosbewachsene Schindeldach immer weiter anhob und dann mit dem ganzen Dachboden und ziemlichem Geschepper zur Waldseite wegkippte.
Was war das, was da aus seinem Haus herauswucherte? Ein hellbrauner Hut, ein weißer mit dunklen Adern durchzogener Stiel, an der Basis stark verdickt – dieses Gebilde sah aus wie ein aus der Form geratener Steinpilz.
"Da ist ja Omas Wäschekorb". Der große Weidenkorb saß wie ein Hütchen auf dem Pilzhut. Allerdings wirkte die Kopfbedeckung durch den bunten Lampenschirm auf dem Wäschekorb recht überladen.
" Pfifferling!" Peter sprach den Namen laut aus und trat in die Pedale, als ob der Steinpilz ihn verfolgte. Nur wenige Minuten später wirbelte er den Sand auf, als er scharf vor dem Haus des pensionierten Lehrers und Hobbypilzforschers Waldemar Böhnke, in der Umgebung bekannt als Professor Pfifferling, bremste. Herr Böhnke saß leicht zusammengesunken vor seinem Häuschen und sah den Bohnen beim Wachsen zu.
"Komm schnell, ich habe einen Steinpilz.", rief Peter, hochrot vor Aufregung und Anstrengung.
"Nun, nun, Steinpilze sind zwar selten, aber so selten auch nicht. Und er wird schon nicht weglaufen." Herr Böhnke erhob sich gemächlich von seiner Gartenbank.
Die markante Adlernase und die mittelblauen Augen waren die auffälligsten Gemeinsamkeiten der beiden, die sich nun gegenüberstanden. Auf diese Ähnlichkeit angesprochen, pflegte Herr Böhnke zu sagen: "Nun ja, wir haben auch den gleichen Nachnamen. Aber Peter ist mein Neffe."
Dieser Neffe hampelte nun aufgeregt vor seinem Onkel herum: "Hol dein Werkzeug und komm, der Pilz ist riesig und er wächst immer noch."
Herr Böhnke schaute Peter erst wie einen höchst seltenen Pilz an, aber er neigte eher zum Schweigen und holte ohne Worte Kamera, Pilzmesser, Pilzdose und anderes Gerät aus seinem Häuschen. Dann schwang er sich auf seinen Drahtesel, Jahrgang 1955, und beide radelten zu Peters Haus zurück.
Dort war auch die letzte Wand zersplittert und der Pilz ragte frei in den blauen Himmel, umkränzt von allerlei Mobiliar und Hausrat. Peter erinnerte der Anblick an Fernsehbilder aus Japan. 'Der Pilz hat mein Haus überschwemmt', dachte er und begann beinahe zu weinen.
Nachdem Herr Böhnke kopfschüttelnd und vor sich hinmurmelnd einmal um den Pilz herumgegangen war, wandte er sich an Peter: "Nun, was hast du diesmal angestellt?"
"Na ja, ich hatte die Kühlschranktür weit aufgemacht, weil ich noch aufräumen wollte. Aber dann kam mir etwas dazwischen und ich bin direkt nach Nepal gefahren. "
"Nun ja, es dürfte ganz schön warm geworden sein in der Küche, aber ein Steinpilz?"
"Ich denke, der Bio-Jogurt ist irgendwann geplatzt und ist dann nach unten getropft. Da hat er dann wohl den munter vor sich hin laufenden Ziegenweichkäse getroffen. Und der selbstgebraute Fliederhagebuttenundnochwassaft von Tante Friederike war mir schon von Anfang an suspekt."
"Nun, Steinpilze wachsen gerne in der Nähe von Eichen, aber hier gibt es nur Birken. Und unter denen wachsen eher Pfifferlinge."
'Bitte nicht die Pfifferlinge', dachte Peter und unterbrach seinen Onkel: "Nein, es gibt eine Eiche. Unter dem Linoleumboden in der Küche ist eine Eichenholzdiele. Pitter, der alte Schäfer hat mir vor Jahren erzählt, die Bohlen stammten von einer uralten Eiche, in der sogar einmal eine Nymphe gewohnt hatte."
"Hm, nun." Herr Böhnke schlenderte durch den Schutt, der um den Pilz lag und holte schließlich aus einem zerborstenen Küchenschrank ein langes Tranchiermesser - "Dann wollen wir ... Mist."
Er stolperte über ein Stuhlbein, das sich unter dem Bücherregal verkantet hatte und landete auf den Knien vor dem Riesenpilz. Aber während sich sein Gehirn noch von dem Schreck erholte, übte seine Hand jahrzentelang geübte Routine aus und trennte den Stiel sauber vom Myzel.
"Pass auf!", rief Peter, aber der Pilz fiel nicht um, sondern stieg in die Höhe und schwebte samt Wäschekorb davon.
"Eigentlich sollte die Gondel unter dem Ballon hängen", seufzte Herr Böhnke.
Beide sahen dem fliegenden Pilz nach, dessen Hut die untergehende Sonne rot färbte, so dass nur noch die weissen Punkte fehlten. Peter sang ihm ein Abschiedslied, wärhend er in die Ferne schwebte: "Mein Pilz der hat drei Hüte, drei Hüte hat mein Pilz ...".
Am nächsten Morgen erinnerte nur noch der Müllhaufen an das Steinpilz-Abenteuer und die beiden begannen, die Unordnung um Peters ehemaliges Haus fortzuräumen und betrachteten schließlich den freigelegten Küchenboden.
"Wurzelholz", meinte Herr Böhnke und verwies auf eine dunklere unebene Stelle unter den rauen und altersgrauen Dielen.
"Also das ist der Grund". Dabei dachte Peter allerdings an seinen Küchentisch, der immer gewackelt hatte, gleich wie er ihn verschob.
Wahrscheinlich war der Fliederbeersaft tatsächlich explodiert, jedenfalls war das Linoleum auf breiter Front zerschmolzen, ja geradezu weggefressen. Der Eichenholzboden lag frei im Sonnenlicht und wurde nun von Peter und Herrn Böhnke mit einer dünnen Schicht Waldboden bedeckt. Sie holten den Boden extra aus einem Laubwald mit Eichen- und Buchenbestand, der einige Kilometer weit weg war.
Aber die Mühe lohnte sich. Nach drei Wochen begann der August und nach einigen warmen Regentagen brachen lauter kleine Steinpilze aus dem Boden.
Und seitdem liefert der kleine Betrieb W&P WaldPilze seine madenfreien aromatischen knackfrischen Steinpilze an die umliegende Gastronomie. Und Peter erfährt, dass ein Ausstieg mit finanzieller Absicherung mehr Freude bereitet. Aber das ist eine andere Geschichte.