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Eichars Baum
Es heißt in alten Schriften, dass jeder Mensch in seinem Leben einen Baum pflanzen soll. So alt diese Lehre ist, so weise ist sie: Denn wenn ein Mensch lebt, so nimmt er von dem Wald der Welt, sei es Holz oder Frucht oder Tier, und durch das Pflanzen eines Baumes gibt er dem Wald einen zwar kleinen, aber bedeutsamen Teil zurück. Vor langer Zeit hatte einer damit begonnen, und seine Nachfahren hatten es ihm gleichgetan. Wenn sie fühlten, mit ihrem Leben ginge es zu Ende, so machten sie sich daran, einen geeigneten Platz für den neuen Baum zu finden und schließlich den Samen in die Erde zu graben. Manche glaubten sogar, so würde ein Teil ihres Geistes in jenem Baum weiterleben. Ihren Kindern sagten sie stets, sie sollten den Baum in Ehren halten und, wenn die Zeit käme, ihren eigenen Baum pflanzen. So breitete sich dieser Brauch aus und wurde zur Tradition zahlreicher Familien.
Vor nunmehr zweihundert Jahren erfuhr ein kleiner Junge von besagtem Brauch, welcher jedoch durch seinen Vater einen kleinen Wandel erfahren hatte. Es war eine Bauernfamilie, welcher der Kleine angehörte, und so war er zumeist draußen mit anderen Kindern beim Spiel. Am besten gefiel es ihm, mit den Füßen einen Ball gegen das Scheunentor zu schießen. Dieser Ball hielt nie sehr lange, denn es war eine Schweineblase – anderes gab es für die Kinder nicht. So freuten sie sich auf das Kommen des Schlachters, was einen neuen Ball bedeutete. Der Hof bestand aus dem Haupthaus, das ein Wohnhaus und einen davon abgegrenzten Kuhstall barg. An einer Seite gab es von dort ausgehend einen schmalen Gang, dem sich ein Schweine- und Geflügelstall anschloss; der Innenhof des bäuerlichen Anwesens wurde von einer Scheune und dem Haupthaus umgeben. An der Westseite des Innenhofes stand eine Reihe großer Bäume majestätisch hinter einem kleineren Baum, und zwischen diesen lagen Jahre einer Menschengeneration. Es war Frühling, und im hellen Licht fuhren die Winde harsch um einen jungen Baum, welchem sich der Vater stets in besonders liebevoller Weise zuwandte. Eben hatte er, um den noch biegsamen Stamm zu stützen, an diesem einen Stab angebracht. Die Reste der starken Schnur in der Hand, rief er seinem Sohn zu: Eichar, komme doch mal her! Dieser, der gerade mit dem Ball bei der Scheune war, kam sofort zu seinem Vater. Ja, Papa, was ist denn?, fragte er. Der Vater betrachtete nachdenklich den jungen Baum, dann wandte er sich zu dem Jungen: Habe ich dir schon einmal erzählt, warum diese Bäume hier stehen? – Nein, versetzte Eichar. Dann höre mir mal zu, sprach der Vater. In unserer Familie gibt es einen Brauch: Jeder erwachsene Mensch pflanzt einen Baum, wenn es an ihm ist, von dieser Welt in den Himmel zu gehen. So wurde es vor mir gemacht. Die hohe Linde dort drüben hat meine Großmutter einst gepflanzt, und die mächtige, verknöcherte Eiche stammt von ihres Vaters Großvater, und er hat diesen Hof vor langer Zeit aufgebaut. Und diesen kleinen, er zeigte auf den jungen Baum mit dem stützenden Stab, habe ich gepflanzt. Damit habe ich den Brauch verändert. Ich gab seinen Samen in die Erde, am Tag deiner Geburt. Einst wird er eine große und starke Eiche werden, und ebenso groß und stark wirst du sein, Eichar. Er strich seinem Sohn durch das Haar, und Eichar lächelte stolz. Du merkst also, dass all die Bäume hier ganz besondere Bäume sind. Wenn du einmal den Hof übernimmst, dann ehre sie, und wenn es an der Zeit ist, dann pflanze auch du welche für deine Kinder! – Das mache ich, Vater, antwortete der Junge begeistert. Mehrmals schon hatte er sich gefragt, warum er einen solch merkwürdigen Namen hatte, wo doch die anderen Kinder Namen wie Johann, Heinrich oder Wilhelmine hatten. Nun wusste er, warum dies so war, und er betrachtete den jungen Baum mit freundschaftlichem Blick.
Im Laufe der dahingehenden Jahre auf dem Hof wuchs die junge Eiche stetig, und ebenso Eichar: Er lernte, die Felder zu bestellen, die Kühe zu melken und weiteres, aber auch ging er zur Schule im nahen Dorf. Er wuchs, und als sein Vater starb, war er bereit, den Hof zu führen. Mit seiner noch lebenden Mutter und einigen Knechten brachte er der bäuerlichen Familie Freude und Wohlstand ein, und einige glückliche Jahre verbrachten sie. Sein Baum war stark und trotzte den zerrenden Herbststürmen, und die Freundschaft, welche er für ihn empfunden hatte, war zu liebendem Respekt geworden. Nach dem Tod des Vaters hatte er der stützenden Stäbe nicht mehr bedurft. Eines Abends gewahrte Eichar in der Dorfschenke das Mädchen, das er zum Altar führen wollte. Mit aufgeregtem Herzen forderte er sie zum Tanz auf, und fortan sah man die beiden oft zusammen. Sie verliebten sich. Einen Mond später saßen sie gemeinsam auf einer Bank im Innenhof, und die Bäume seiner Vorfahren ragten über ihnen auf, schützend und erhaben. Mit glänzenden Augen zog Gerda, so war ihr Name, ein Messer hervor und schnitzte ein Herz in seinen Baum, und darin die Buchstaben E und G. Sie küssten sich, und als Gerda seinen Arm berührte, zog er ihn mit einem kleinen Schmerzenslaut zurück. Was hast du, Liebster?, fragte sie. Ich weiß es nicht, antwortete Eichar, während er seinen Hemdärmel hochkrempelte. Mit Staunen betrachteten die beiden die Kratzer an seinem Unterarm, welche die Form eines Herzens hatten, und darin waren die zwei Buchstaben. Gerda war sprachlos ob dieser Angelegenheit, und Eichar sagte nur: Eigenartig. Sie sprachen nie wieder davon, doch bewahrten sie diese Begebenheit in ihrem Gedächtnis.
Die Heirat von Eichar und Gerda läutete weitere Jahre der Freude ein. Doch der Mond, in welchem Eichars Mutter das Leben ließ, war ein stiller und trauriger. Bevor sie in die andere Welt hinüber schritt, sagte sie noch: Achte auf dein Weib, Eichar, und lasse sie niemals allein bei den Bäumen! Ihm wurde bewusst, dass es zwischen seiner Mutter und Gerda niemals ein freundliches Wort oder einen netten Blick gegeben hatte. Doch fragte er sich, was ihre letzten Worte wohl zu bedeuten hatten. Die Jahre schwanden, ohne dass sie Kinder bekamen, und langsam schlichen sich Unmut und Zorn in ihr Leben. Manchmal erzählten sie sich von ihren Tagen, bevor sie sich kannten; einmal berichtete er von seinem Lieblingsspiel mit dem Ball aus Schweineblase: Und wir freuten uns, wenn es dann einen neuen Ball gab. Darauf reagierte sie jedoch nicht, sondern starrte weiter gerade ins Nichts, sagte mechanisch: Ja ja. Seitdem erzählten sie sich nichts mehr. Nun ist es so, dass es viele Dinge seit dem Fall der Menschen gibt, die Schimpf und Schande und Leid über sie bringen können, und zwei davon sind Wollust und Neid. Es war in den Wochen, in denen sich Winter und Frühling begegnen, als Eichar allein ins Dorf ging, um einige Lebensmittel zu besorgen, denn nicht alles konnten sie auf dem eigenen Hof anbauen. Karl, ein Knecht, der bereits jahrelang auf dem Hof arbeitete, schritt schleppend durch die Küche und murmelte: Verdammte Arbeit, verdammtes Wetter, verdammter Eichar! – Rede nicht so von meinem Mann!, rief Gerda darauf. Der Knecht erschrak und sagte dann: O, ich wusste nicht, dass du hier bist. Und er kam auf sie zu, und mit stürmischen Bewegungen küssten sie sich. Der Knecht neidete Eichar seinen Hof, und Gerdas Liebe zu ihrem Mann war in den Jahren der Gleichgültigkeit gewichen. So hatte sie sich mit dem Knecht eingelassen. Sie begannen, einen unheilvollen Plan gegen Eichar zu schmieden, und währenddessen kam ihr die Begebenheit mit den Kratzern wieder in den Sinn.
Es war ein Herbsttag, und wie das Korn, so war auch der Plan der beiden gereift. Eichar hatte gerade nachdenklich und traurig seinen Baum betrachtet; er hatte sich seines Vater erinnert, und wie jener ihm damals von dem Brauch erzählt hatte, und die letzten Worte seiner Mutter gingen ihm heute nicht aus dem Kopf. Er schritt durch den Gang, der das Haupthaus mit dem Stall verband, und wollte die Tiere füttern. Plötzlich schlossen sich mit lautem Krachen die Tür zum Stall sowie die Tür zum Haupthaus, und er hörte, wie sie abgeschlossen wurden. Nachdem seine anfängliche Furcht vergangen war, blickte er sich um, und er fand etwas, was er gebrauchen konnte. Draußen, auf der Westseite des Innenhofes, machten sich Karl und Gerda, beide eine Axt tragend, daran, Eichars Baum zu fällen. Und du glaubst wirklich, dass es gelingen wird?, sagte der Knecht zweifelnd. Es wird so sein, wie ich sagte, versetzte sie, denn wenn ein Messer ihm blutige Kratzer zufügen kann, so werden zwei Äxte ihm den Schädel spalten, dabei wies sie zu dem Herzen, welches sie vor vielen Jahren liebend in den Baum geschnitzt hatte. Nun war das Herz auseinander gezogen und verzerrt. Mit hassendem Eifer gingen sie ans Werk. Ihre Äxte schufen Schmerzensschreie, die vom Gang her kamen. Sie grinsten: Es gelang! Schnell machten sie weiter, angespornt durch Eichars Schreie. Kurz, bevor der Baum fiel, hörten sie nichts mehr von ihm. Es war zu Ende. Langsam gingen die beiden zum Gang, schlossen eine der Türen auf. Dort lag er, blutüberströmt, das Gesicht im Schmerz verzerrt. Der Knecht und Gerda fielen sich in die Arme. Dann wandten sie sich ab. Einen Wimpernschlag später erschrak Gerda ob eines Röchelns, und sie verstand zunächst nicht, dass es nicht Eichars letzte Laute waren: Es waren die des Knechts. Mit aufgerissenen Augen sah sie die Spitzen einer Mistgabel aus seiner Brust herausragen, dann ahnte sie, dass das Blut auf Eichars Körper nicht seines war, im Gang stand ein Eimer mit Schweineblut. Mit einem Ruck wurde die Mistgabel herausgerissen, und leblos sank der Tote nieder. Wie...?!, entfuhr es Gerda. Er war es nicht, sagte Eichar. Im vergangenen Jahr tauschte ich meinen Baum mit einem ähnlichen aus dem Wald, und es war ein Leichtes, das Herz, das nun keines mehr ist, hinein zu schneiden. – Dennoch, rief sie mit siegessicherer Stimme und feuchten Augen, du bist verloren, du hast Karl getötet, und niemand wird dir glauben, warum! – Ich weiß, erwiderte er mit Gleichgültigkeit, dann warf er ihr die Mistgabel in die verräterische Brust.
Viel später stand Eichar mit gesenktem Blick vor seinem Baum, der nun im Wald stand. Das verzerrte Herz hatte er ihm aus der Rinde geschnitten; seine Asche verwehte im Wind. Dies waren seine letzten Worte: Die Welt ist voller Verrat. Alles dahin. Endlich nahm er die Axt zur Hand und schlug sie seinem in der Erde wurzelnden, Rinde und Äste und Blätter tragenden Selbst immer wieder in dem Stamm. Harz und Blut wurden eins, und als sein Baum fiel, sank auch Eichar in den Tod.
Die Geschichte von Eichar gelangte hinaus in die Welt, und viele Menschen, die sie hörten, erschauderten. Mit der Zeit, von Generation zu Generation, verschwand der Brauch des Baum Pflanzens, und nur wenige erwähnten ihn in den Schriften. Dort, wo Eichar starb, ist heute eine helle Lichtung, die von einem dichten Wald umgeben ist. Nur wenige kennen den Grund, warum inmitten der Lichtung kein Baum wachsen will. Und vielleicht braucht es nicht mehr ein Menschenleben, und die Lichtung und die Geschichte um Eichars Baum sind vergessen...
(2003-01-24)