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Ehre
Halil roch am Ärmel seiner Jacke und verzog das Gesicht. Sprühte Parfüm über den Geruch des Zuhauses. Ging aufs Klo und versuchte trotz des Gewackels in die Schüssel zu treffen. Betrachtete sein junges Gesicht im Spiegel. Er ließ Wasser über die Hände laufen und fummelte an seinem gegelten Undercut. Strich die dezent gezupften Augenbrauen in einen schönen Bogen und befeuchtete die Lippen. Machte einen Schmollmund und warf seinem Spiegelbild ein Küsschen zu.
Der irgendwo auf der Hälfte der Strecke zwischen Plochingen und Stuttgart aufkeimende Mut, der seinen Höhepunkt im letzten Drittel der Fahrt hatte, verpuffte nun mit jedem Meter. Als die Worte in Kürze erreichen sie den Stuttgarter Hauptbahnhof aus dem Lautsprecher erklangen, war die Luft raus. Er würde es wieder nicht schaffen, da war er sich fast sicher. Halil beschloss den langen Weg vom Bahnhof zur Karlstraße zu Fuß zurückzulegen, steuerte die Königstraße an und ließ sich von der Menschenmenge mitziehen. Irgendwie hatte er das Gefühl, jeder könne ihm ansehen, warum er hier entlang ging. Er fühlte sich verdächtig.
Dreimal lief er am Kingsclub vorbei. Ausgerechnet heute stand ein völlig aufgetakelter Mann in Frauenkleidern und Perücke an der Tür und unterhielt sich mit einer alten Frau und zwei jungen Männern. Die aufgeschnappten Gesprächsfetzen waren laut und überdreht. Sein Herz schlug schnell und er schämte sich, da hinein zu wollen.
„He, Schätzchen, komm rein mit deinem süßen Arsch, wir werden ihn schon nicht gleich aufreißen.“
„Heiersche, du böse Tunte, lass ihn doch, er hat schon ganz rote Ohren.“
Sein Stolz flammte sofort auf und er spuckte Richtung Tür.
„Schwule Arschficker!“, schleuderte er ihnen pubertär entgegen.
„Verpiss dich, Klemmschwester, und tu nicht so, selber verkappte Schwulette!“
Das war es für ihn. Er drehte ab und steuerte wieder auf die breite Einkaufsstraße zu. Im Grunde wusste er, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatten, das machte es aber nicht besser. Er hätte sie erwürgen können. Das Handy klingelte: Yusuf, sein Bruder.
„Verdammt wo bist du? Komm heim, die Onkels sind da, Vater sucht dich, wir müssen reden.“
„Ich bin in Stuttgart.“
„Beeil dich, es ist wichtig, wir warten.“
„Um was geht’s?
„Namus.“
„Ehre?“
„Ja, Ehre, wir sind entehrt, jetzt frag nicht so bescheuert, komm einfach.“
Hatten sie an seinem PC spioniert? Er war am Arsch. Die Zugfahrt zurück fühlte sich an wie der Gang von der Todeszelle zum Henker.
„Mein Innerstes brennt“, ergriff der Vater das Wort. Seine Stimme klang weinerlich, „die Familienehre ist beschmutzt“, er verbarg mit einer theaterreifen Geste das Gesicht hinter den Händen.
Yusuf tätschelte fürsorglich seine Schultern. „Wie konntest du das zulassen?“, alle Augen waren auf Halil gerichtet.
„Mein ältester Sohn. Mein guter, ältester Sohn. Mit dir wäre das nicht passiert. Halil ist ein Schwächling, eine Enttäuschung.“
Alle redeten durcheinander. Zehn Männerstimmen mischten sich zu einem Singsang. Der unter Schock stehende Halil verstand nur einzelne Worte, deren Sinn er kaum begreifen konnte. Auch der Imam war anwesend. Halil versuchte sich auszumalen, wie das heute enden würde. Er traute es ihnen durchaus zu, dass dies seine letzten Stunden waren. Er hatte seine Familie in den Ruin gestürzt mit seiner Neigung. Er versuchte dem Ganzen mit der letzten Restwürde entgegenzutreten.
„Halil, du musst die Ehre reinwaschen. Du hättest besser auf sie aufpassen müssen.“
Sie? Um was ging es hier eigentlich?
„Was ist passiert?“
„Aygül. Man hat sie gesehen. Sie trifft sich mit einem aus der Bäckerei. Mit einem Deutschen. Sie ist ein schlechtes Mädchen. Sie hat uns in den Dreck gezogen. Man redet. Ich habe es von Emal erfahren. Du bist verantwortlich für deine Schwester.“
Aygül. Seine Knie wurden plötzlich weich. Aygül. Es ging nicht um ihn. Maßlos erleichtert ließ er sich auf den Teppich sinken.
„Deine Mutter hat ihr Gesicht verloren. Mein Gesicht ist beschmutzt. Allah ist mein Zeuge, ich liebe meine Tochter. Aber so können wir nicht weiterleben. Du musst das wieder in Ordnung bringen. Denn du bist jetzt verantwortlich.“
Sie redeten wieder auf ihn ein, man sprach vom Jugendstrafrecht, nach dem er mit siebzehn Jahren schlimmstenfalls verurteilt werden würde, von der heiligen Pflicht.
„Nein“, seine Verneinung löste wieder einen Tumult sich überschlagender Stimmen aus, man packte ihn bei seinem Stolz und der Verantwortung.
Plötzlich ergriff der Imam das Wort, alle schwiegen und gaben seinen gewichtigen Worten Platz.
„Halil, deine Schwester hat ihr Todesurteil selbst unterschrieben, indem sie Unzucht betrieben hat. Du wirst nicht zum Mörder, wenn du es vollstreckst. Du bist die Hand Mohameds, ich gebe dir die Erlaubnis, das Messer zu führen, deine Hand ist seine Hand. Ihr Blut wird deine Familie reinigen. Es ist beschlossen.“
Halil beobachtete seine Zwillingsschwester Aygül durch die Türe, sie wellte rhythmisch den Teig aus, schnitt ihn in kleine Quadrate und häufte routiniert winzige Portionen Fleischfüllung auf sie. Manti. Sein Lieblingsessen. Die Mutter stand daneben und überwachte den Vorgang, gab zwischendurch gute Tipps. Es roch nach in Butter geröstetem Paprikapulver und Pfefferminze. Sie begann nun die kleinen Rechtecke zusammenzudrehen, wurde aber von ihrer Mutter unterbrochen.
„Nein, Meral soll das heute lernen. Sie ist alt genug.“
Das kleine Mädchen hörte erschrocken auf, in der Paprikasauce zu rühren. Nahm Aygüls Platz ein und begann, angeleitet von der Mutter, mit ungeschickten Kinderhänden die Teigtaschen zu bearbeiten.
Halil wurde schlecht. Der gerade noch appetitlich feuchte Küchengeruch ließ ihn würgen, er rannte ins Klo und erbrach sich krampfend. Kaum hatte er Zeit Luft zu holen, schon schoss ihm wieder wässriger Speichel in den Mund und eine erneute Welle des Würgreizes überkam ihn.
Plötzlich spürte er eine kühle Hand auf der Stirn. Sie roch nach Zwiebeln, Knoblauch und lange vergangenen Kindheitsliebkosungen.
„Sch sch sch …“, zischte sie beruhigend und tätschelte seine Schulter.
„Mutter, ich kann nicht. Ich kann das nicht tun.“
„Du musst, Halil“, sagte sie mit fester Stimme.
„Bist du wach? Halil?“, Aygül rüttelte ihn sanft und legte sogleich ihre Hand auf seinen Mund „Pst, sei leise, alle schlafen“.
Er hatte nicht geschlafen, wie auch, seit Tagen quälte er sich im Halbschlaf durch die Nächte und suchte nach Lösungen. Töten: ja oder nein? Und wenn, wie? Weglaufen: ja oder nein? Wenn ja, wie?
„Was willst du in meinem Zimmer, Aygül?“
„Ich muss mit dir reden. Ich mach mir solche Sorgen, alle sind so komisch zu mir. Ich vertrau nur noch dir. Bitte sag mir, was los ist.“
„Nichts ist los, was soll sein?“
„Ich bin doch nicht bescheuert, alle verhalten sich komisch.“
„Quatsch.“
„Doch. Und Mama hat die Meral Mante machen lassen. Das ist meine Aufgabe.“
„Du spinnst dir was zusammen. Die Kleine muss das doch auch irgendwann lernen.“
„Ich glaube …“
„Was?“, fuhr er sie harsch an.
„Ich glaube, Papa will mich verheiraten. Bestimmt muss ich in die Türkei und irgendeinen Dorfdepp heiraten!“
„Aygül, ich hab keine Ahnung. Ich habe überhaupt nichts gehört. Gäb's denn einen Grund?“
„Natürlich nicht.“ Sie packte etwas Haut an ihrem Hals und zog daran. Er fühlte, dass sie noch etwas auf dem Herzen hatte, sich aber nicht traute, es ihrem Bruder, also Aufpasser, anzuvertrauen.
Früher hatten sie eine imaginäre Nabelschnur, vertrauten sich blind, eine innere Bindung die Geheimnisse überflüssig machte. Dann kamen die Frauen- und Männerdinge, nichts war mehr wie vorher, die Verbindung war abgehackt und er fühlte nur noch den blutenden Stumpf.
„Du würdest mich nicht anlügen, oder?“
„Nein.“
„Schwöre auf das Leben unserer Mutter!“
„Ich schwöre.“
„Auf Allah.“
„Jetzt hau ab aus meinem Zimmer, verdammt. Du nervst.“
Der zehnjährige Halil stand Fingernägel kauend am Rad der Halfpipe. Er sollte nicht hier sein. Sein Vater hatte ihm verboten, sich an dem halbverwilderten Ort, den die Stadt den Jugendlichen überlassen hatte, aufzuhalten. Die Typen würden Alkohol trinken, rauchen und Schlimmeres. Er fand aber, dass sie ganz normal aussahen. Es lagen Kippen und Scherben rum, okay, aber es war sehr spannend hier. Nahe an der Neckarbrücke gelegen, deren Pfeiler mit Graffiti beschmiert waren. Er hatte sich von seinen Geschwistern, die am Ufer spielten, heimlich weggeschlichen.
Viel hätte er für so ein Skateboard gegeben. Gerne so eine coole, verwilderte Frisur wie die Größeren gehabt. Zumindest ein paar weniger peinliche Schuhe. Er versuchte, sie irgendwie angesagter wirken zu lassen, indem er einen Klettverschluss offen ließ, wusste aber, dass dies nichts nutzte. Denn auch die Jeans, die er von seinem Bruder geerbt hatte, war ein Totalausfall, mit ihrem viel zu weiten Hophop-Schnitt. Er musterte die Jungs neidisch, alle hatten dieselbe Frisur, etwas länger, zottelig und das linke Auge schräg bedeckt. Enge Jeans, offene Nikes und irgendein lässiges T-Shirt.
Plötzlich fühlte er sich noch unwohler in seiner Haut, denn einer der Typen deutete mit dem Kopf in seine Richtung. Alle schauten nun zu ihm, am liebsten wäre er einfach weggerannt. Sie besprachen sich kurz und lachten.
„Hey!“
Halil verharrte in Duldungsstarre.
„Hey, Kleiner, ja, du, komm mal her“, rief der Größte der Gruppe.
Mit gesenktem Kopf und roten Ohren lief er auf sie zu.
„Willst du auch mal? Ist total leicht, ne, echt. Probier´s doch mal.“
Aufgeregt nickte er.
„Dann komm mal hoch.“
Von oben sah der Abgrund sehr tief und steil aus.
„Stell dich aufs Board.“
Er konnte sich nicht überwinden, über die Kante zu kippen, und wurde schließlich zappelig.
„Chill. Das ist echt leicht.“
Alle Jungs lachten unterdrückt. Halil gab sich einen Ruck und verlagerte das Gewicht etwas nach vorn. Der Große gab dem Board einen Kick. Bevor er irgendeinen Gedanken zu Ende denken konnte, landete er schon auf der Fresse und überschlug sich. Die Jungs johlten vor Lachen.
„Was für ein Spast, denkt, er kann einfach losfahren.“
„Was für ein Opfer …“
Halil war sich nicht sicher, ob er überhaupt aufstehen konnte. Am liebsten wäre er jetzt einfach gestorben. In seinem Mund sammelte sich Blut. Alles tat weh.
In dem Moment kam Aygül angerannt und brüllte die grölenden Jungs giftig an.
„Lasst meinen Bruder in Ruh, ihr Arschlöcher!“
„Oh, guck, da kommt ein Mädchen, um der armen Schwuchtel zu helfen.“
„Komm, heul doch gleich nach deiner Mami, Baby-Kanacke.“
Aygül kam zu ihm und half ihm hoch, zog ihn entschieden weg von der Halfpipe und den Jugendlichen.
„Warum bist du gekommen? Du hast alles noch schlimmer gemacht, kümmer dich um deinen eigenen Dreck.“
All seine aufgestauten Emotionen richteten sich nun auf seine Schwester.
„Ich wollte dir nur helfen.“
„Ich brauch keine Hilfe von einem Mädchen!“, das Gefühl der tiefen Demütigung rutschte ihm in die Hand und entlud sich auf Aygüls Wange. Alle vier Finger zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab. Sie starrte ihn tiefverletzt an. Ungläubig.
Er spürte Aygüls warmen Schenkel an seinem. Sie schien unruhig und kippelte ein bisschen. Halil war sich nicht sicher, ob sie der Situation misstraute oder nicht. Es war dunkel. Yusuf fuhr den Wagen. Seine junge Frau Elif saß vorne neben ihm. Sein Onkel Özcan flankierte die Schwester auf der anderen Seite.
„Wir werden kein Holz finden, es ist doch schon dunkel“, gab Aygül zu bedenken.
„Wir haben Kohle dabei.“
„Und was sollen wir auf den Grill legen?“
„Mutter hat alles gepackt.“
Halil konnte kein Wort sagen und war froh, dass die anderen redeten. Er versuchte sich nicht zu erbrechen, oder die Türe aufzureißen und wegzulaufen. Er hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Und ein nervtötendes Dröhnen im Kopf.
„An welchen Grillplatz gehen wir denn?“
„An den gleichen wie eh und je. Im Wald.“
Er tastete nach dem Messer. Und nach dem Küchentuch. Alles am Platz.
„Alles okay, Halil?“, fragte Aygül leise.
„Ja“, presste er durch harte Lippen.
Sie kamen am Waldrand an und parkten das Auto.
„Halil und Aygül, ihr geht vor und besetzt den Grillplatz. Wir warten auf die anderen.“
„Wer kommt denn noch?“
„Mutter, Vater und Meral sind auch auf dem Weg und bringen den Rest. Geht, geht …“
Yusuf drückte Halil eine Taschenlampe in die Hand und suchte kurz seine Augen. „Los!“
Einen Moment war er zur Salzsäule erstarrt, dann nickte er. „Ja, los.“ Er ergriff Aygüls Arm und zog sie Richtung Wald.
Als er eine halbe Stunde später zwischen den Bäumen heraustrat, starrten ihn alle an. Er lief langsam auf sie zu. Er brachte kein Wort heraus und hob nur die blutverschmierten Hände. Sein Bruder nickte hart, kam zu ihm und klopfte ihm auf die Schulter. Elif gab einen undefinierbaren Laut von sich. Er klang eher tierisch als menschlich. Sie beugte sich vornüber und erbrach an Ort und Stelle.
„Kommt“ sagte der große Bruder, „steigt ein, wir müssen weg“.
„Nein. Ich brauche noch ein bisschen frische Luft und Ruhe. Ich laufe zurück.“
„Mach keinen Scheiß.“
„Nein.“
„Das war richtig so.“
„Ich weiß.“
Etwas später war er dort angekommen, wo er hinwollte: unter der Brücke. Er suchte sich eine ebene Stelle, um an den Fluss zu kommen. Dort wusch er sich das Blut von den Händen, zog die Jacke aus und den Pulli hoch. Halil nahm das Küchentuch von seinem Bauch und spülte auch dort sein Blut von der Schnittwunde. Sie würde bald verheilt sein.