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Ehre

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30.06.2014
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Ehre

Halil roch am Ärmel seiner Jacke und verzog das Gesicht. Sprühte Parfüm über den Geruch des Zuhauses. Ging aufs Klo und versuchte trotz des Gewackels in die Schüssel zu treffen. Betrachtete sein junges Gesicht im Spiegel. Er ließ Wasser über die Hände laufen und fummelte an seinem gegelten Undercut. Strich die dezent gezupften Augenbrauen in einen schönen Bogen und befeuchtete die Lippen. Machte einen Schmollmund und warf seinem Spiegelbild ein Küsschen zu.
Der irgendwo auf der Hälfte der Strecke zwischen Plochingen und Stuttgart aufkeimende Mut, der seinen Höhepunkt im letzten Drittel der Fahrt hatte, verpuffte nun mit jedem Meter. Als die Worte in Kürze erreichen sie den Stuttgarter Hauptbahnhof aus dem Lautsprecher erklangen, war die Luft raus. Er würde es wieder nicht schaffen, da war er sich fast sicher. Halil beschloss den langen Weg vom Bahnhof zur Karlstraße zu Fuß zurückzulegen, steuerte die Königstraße an und ließ sich von der Menschenmenge mitziehen. Irgendwie hatte er das Gefühl, jeder könne ihm ansehen, warum er hier entlang ging. Er fühlte sich verdächtig.
Dreimal lief er am Kingsclub vorbei. Ausgerechnet heute stand ein völlig aufgetakelter Mann in Frauenkleidern und Perücke an der Tür und unterhielt sich mit einer alten Frau und zwei jungen Männern. Die aufgeschnappten Gesprächsfetzen waren laut und überdreht. Sein Herz schlug schnell und er schämte sich, da hinein zu wollen.
„He, Schätzchen, komm rein mit deinem süßen Arsch, wir werden ihn schon nicht gleich aufreißen.“
„Heiersche, du böse Tunte, lass ihn doch, er hat schon ganz rote Ohren.“
Sein Stolz flammte sofort auf und er spuckte Richtung Tür.
„Schwule Arschficker!“, schleuderte er ihnen pubertär entgegen.
„Verpiss dich, Klemmschwester, und tu nicht so, selber verkappte Schwulette!“
Das war es für ihn. Er drehte ab und steuerte wieder auf die breite Einkaufsstraße zu. Im Grunde wusste er, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatten, das machte es aber nicht besser. Er hätte sie erwürgen können. Das Handy klingelte: Yusuf, sein Bruder.
„Verdammt wo bist du? Komm heim, die Onkels sind da, Vater sucht dich, wir müssen reden.“
„Ich bin in Stuttgart.“
„Beeil dich, es ist wichtig, wir warten.“
„Um was geht’s?
„Namus.“
„Ehre?“
„Ja, Ehre, wir sind entehrt, jetzt frag nicht so bescheuert, komm einfach.“
Hatten sie an seinem PC spioniert? Er war am Arsch. Die Zugfahrt zurück fühlte sich an wie der Gang von der Todeszelle zum Henker.

„Mein Innerstes brennt“, ergriff der Vater das Wort. Seine Stimme klang weinerlich, „die Familienehre ist beschmutzt“, er verbarg mit einer theaterreifen Geste das Gesicht hinter den Händen.
Yusuf tätschelte fürsorglich seine Schultern. „Wie konntest du das zulassen?“, alle Augen waren auf Halil gerichtet.
„Mein ältester Sohn. Mein guter, ältester Sohn. Mit dir wäre das nicht passiert. Halil ist ein Schwächling, eine Enttäuschung.“
Alle redeten durcheinander. Zehn Männerstimmen mischten sich zu einem Singsang. Der unter Schock stehende Halil verstand nur einzelne Worte, deren Sinn er kaum begreifen konnte. Auch der Imam war anwesend. Halil versuchte sich auszumalen, wie das heute enden würde. Er traute es ihnen durchaus zu, dass dies seine letzten Stunden waren. Er hatte seine Familie in den Ruin gestürzt mit seiner Neigung. Er versuchte dem Ganzen mit der letzten Restwürde entgegenzutreten.
„Halil, du musst die Ehre reinwaschen. Du hättest besser auf sie aufpassen müssen.“
Sie? Um was ging es hier eigentlich?
„Was ist passiert?“
„Aygül. Man hat sie gesehen. Sie trifft sich mit einem aus der Bäckerei. Mit einem Deutschen. Sie ist ein schlechtes Mädchen. Sie hat uns in den Dreck gezogen. Man redet. Ich habe es von Emal erfahren. Du bist verantwortlich für deine Schwester.“
Aygül. Seine Knie wurden plötzlich weich. Aygül. Es ging nicht um ihn. Maßlos erleichtert ließ er sich auf den Teppich sinken.
„Deine Mutter hat ihr Gesicht verloren. Mein Gesicht ist beschmutzt. Allah ist mein Zeuge, ich liebe meine Tochter. Aber so können wir nicht weiterleben. Du musst das wieder in Ordnung bringen. Denn du bist jetzt verantwortlich.“
Sie redeten wieder auf ihn ein, man sprach vom Jugendstrafrecht, nach dem er mit siebzehn Jahren schlimmstenfalls verurteilt werden würde, von der heiligen Pflicht.
„Nein“, seine Verneinung löste wieder einen Tumult sich überschlagender Stimmen aus, man packte ihn bei seinem Stolz und der Verantwortung.
Plötzlich ergriff der Imam das Wort, alle schwiegen und gaben seinen gewichtigen Worten Platz.
„Halil, deine Schwester hat ihr Todesurteil selbst unterschrieben, indem sie Unzucht betrieben hat. Du wirst nicht zum Mörder, wenn du es vollstreckst. Du bist die Hand Mohameds, ich gebe dir die Erlaubnis, das Messer zu führen, deine Hand ist seine Hand. Ihr Blut wird deine Familie reinigen. Es ist beschlossen.“

Halil beobachtete seine Zwillingsschwester Aygül durch die Türe, sie wellte rhythmisch den Teig aus, schnitt ihn in kleine Quadrate und häufte routiniert winzige Portionen Fleischfüllung auf sie. Manti. Sein Lieblingsessen. Die Mutter stand daneben und überwachte den Vorgang, gab zwischendurch gute Tipps. Es roch nach in Butter geröstetem Paprikapulver und Pfefferminze. Sie begann nun die kleinen Rechtecke zusammenzudrehen, wurde aber von ihrer Mutter unterbrochen.
„Nein, Meral soll das heute lernen. Sie ist alt genug.“
Das kleine Mädchen hörte erschrocken auf, in der Paprikasauce zu rühren. Nahm Aygüls Platz ein und begann, angeleitet von der Mutter, mit ungeschickten Kinderhänden die Teigtaschen zu bearbeiten.
Halil wurde schlecht. Der gerade noch appetitlich feuchte Küchengeruch ließ ihn würgen, er rannte ins Klo und erbrach sich krampfend. Kaum hatte er Zeit Luft zu holen, schon schoss ihm wieder wässriger Speichel in den Mund und eine erneute Welle des Würgreizes überkam ihn.
Plötzlich spürte er eine kühle Hand auf der Stirn. Sie roch nach Zwiebeln, Knoblauch und lange vergangenen Kindheitsliebkosungen.
„Sch sch sch …“, zischte sie beruhigend und tätschelte seine Schulter.
„Mutter, ich kann nicht. Ich kann das nicht tun.“
„Du musst, Halil“, sagte sie mit fester Stimme.

„Bist du wach? Halil?“, Aygül rüttelte ihn sanft und legte sogleich ihre Hand auf seinen Mund „Pst, sei leise, alle schlafen“.
Er hatte nicht geschlafen, wie auch, seit Tagen quälte er sich im Halbschlaf durch die Nächte und suchte nach Lösungen. Töten: ja oder nein? Und wenn, wie? Weglaufen: ja oder nein? Wenn ja, wie?
„Was willst du in meinem Zimmer, Aygül?“
„Ich muss mit dir reden. Ich mach mir solche Sorgen, alle sind so komisch zu mir. Ich vertrau nur noch dir. Bitte sag mir, was los ist.“
„Nichts ist los, was soll sein?“
„Ich bin doch nicht bescheuert, alle verhalten sich komisch.“
„Quatsch.“
„Doch. Und Mama hat die Meral Mante machen lassen. Das ist meine Aufgabe.“
„Du spinnst dir was zusammen. Die Kleine muss das doch auch irgendwann lernen.“
„Ich glaube …“
„Was?“, fuhr er sie harsch an.
„Ich glaube, Papa will mich verheiraten. Bestimmt muss ich in die Türkei und irgendeinen Dorfdepp heiraten!“
„Aygül, ich hab keine Ahnung. Ich habe überhaupt nichts gehört. Gäb's denn einen Grund?“
„Natürlich nicht.“ Sie packte etwas Haut an ihrem Hals und zog daran. Er fühlte, dass sie noch etwas auf dem Herzen hatte, sich aber nicht traute, es ihrem Bruder, also Aufpasser, anzuvertrauen.
Früher hatten sie eine imaginäre Nabelschnur, vertrauten sich blind, eine innere Bindung die Geheimnisse überflüssig machte. Dann kamen die Frauen- und Männerdinge, nichts war mehr wie vorher, die Verbindung war abgehackt und er fühlte nur noch den blutenden Stumpf.
„Du würdest mich nicht anlügen, oder?“
„Nein.“
„Schwöre auf das Leben unserer Mutter!“
„Ich schwöre.“
„Auf Allah.“
„Jetzt hau ab aus meinem Zimmer, verdammt. Du nervst.“

Der zehnjährige Halil stand Fingernägel kauend am Rad der Halfpipe. Er sollte nicht hier sein. Sein Vater hatte ihm verboten, sich an dem halbverwilderten Ort, den die Stadt den Jugendlichen überlassen hatte, aufzuhalten. Die Typen würden Alkohol trinken, rauchen und Schlimmeres. Er fand aber, dass sie ganz normal aussahen. Es lagen Kippen und Scherben rum, okay, aber es war sehr spannend hier. Nahe an der Neckarbrücke gelegen, deren Pfeiler mit Graffiti beschmiert waren. Er hatte sich von seinen Geschwistern, die am Ufer spielten, heimlich weggeschlichen.
Viel hätte er für so ein Skateboard gegeben. Gerne so eine coole, verwilderte Frisur wie die Größeren gehabt. Zumindest ein paar weniger peinliche Schuhe. Er versuchte, sie irgendwie angesagter wirken zu lassen, indem er einen Klettverschluss offen ließ, wusste aber, dass dies nichts nutzte. Denn auch die Jeans, die er von seinem Bruder geerbt hatte, war ein Totalausfall, mit ihrem viel zu weiten Hophop-Schnitt. Er musterte die Jungs neidisch, alle hatten dieselbe Frisur, etwas länger, zottelig und das linke Auge schräg bedeckt. Enge Jeans, offene Nikes und irgendein lässiges T-Shirt.
Plötzlich fühlte er sich noch unwohler in seiner Haut, denn einer der Typen deutete mit dem Kopf in seine Richtung. Alle schauten nun zu ihm, am liebsten wäre er einfach weggerannt. Sie besprachen sich kurz und lachten.
„Hey!“
Halil verharrte in Duldungsstarre.
„Hey, Kleiner, ja, du, komm mal her“, rief der Größte der Gruppe.
Mit gesenktem Kopf und roten Ohren lief er auf sie zu.
„Willst du auch mal? Ist total leicht, ne, echt. Probier´s doch mal.“
Aufgeregt nickte er.
„Dann komm mal hoch.“
Von oben sah der Abgrund sehr tief und steil aus.
„Stell dich aufs Board.“
Er konnte sich nicht überwinden, über die Kante zu kippen, und wurde schließlich zappelig.
„Chill. Das ist echt leicht.“
Alle Jungs lachten unterdrückt. Halil gab sich einen Ruck und verlagerte das Gewicht etwas nach vorn. Der Große gab dem Board einen Kick. Bevor er irgendeinen Gedanken zu Ende denken konnte, landete er schon auf der Fresse und überschlug sich. Die Jungs johlten vor Lachen.
„Was für ein Spast, denkt, er kann einfach losfahren.“
„Was für ein Opfer …“
Halil war sich nicht sicher, ob er überhaupt aufstehen konnte. Am liebsten wäre er jetzt einfach gestorben. In seinem Mund sammelte sich Blut. Alles tat weh.
In dem Moment kam Aygül angerannt und brüllte die grölenden Jungs giftig an.
„Lasst meinen Bruder in Ruh, ihr Arschlöcher!“
„Oh, guck, da kommt ein Mädchen, um der armen Schwuchtel zu helfen.“
„Komm, heul doch gleich nach deiner Mami, Baby-Kanacke.“
Aygül kam zu ihm und half ihm hoch, zog ihn entschieden weg von der Halfpipe und den Jugendlichen.
„Warum bist du gekommen? Du hast alles noch schlimmer gemacht, kümmer dich um deinen eigenen Dreck.“
All seine aufgestauten Emotionen richteten sich nun auf seine Schwester.
„Ich wollte dir nur helfen.“
„Ich brauch keine Hilfe von einem Mädchen!“, das Gefühl der tiefen Demütigung rutschte ihm in die Hand und entlud sich auf Aygüls Wange. Alle vier Finger zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab. Sie starrte ihn tiefverletzt an. Ungläubig.

Er spürte Aygüls warmen Schenkel an seinem. Sie schien unruhig und kippelte ein bisschen. Halil war sich nicht sicher, ob sie der Situation misstraute oder nicht. Es war dunkel. Yusuf fuhr den Wagen. Seine junge Frau Elif saß vorne neben ihm. Sein Onkel Özcan flankierte die Schwester auf der anderen Seite.
„Wir werden kein Holz finden, es ist doch schon dunkel“, gab Aygül zu bedenken.
„Wir haben Kohle dabei.“
„Und was sollen wir auf den Grill legen?“
„Mutter hat alles gepackt.“
Halil konnte kein Wort sagen und war froh, dass die anderen redeten. Er versuchte sich nicht zu erbrechen, oder die Türe aufzureißen und wegzulaufen. Er hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Und ein nervtötendes Dröhnen im Kopf.
„An welchen Grillplatz gehen wir denn?“
„An den gleichen wie eh und je. Im Wald.“
Er tastete nach dem Messer. Und nach dem Küchentuch. Alles am Platz.
„Alles okay, Halil?“, fragte Aygül leise.
„Ja“, presste er durch harte Lippen.
Sie kamen am Waldrand an und parkten das Auto.
„Halil und Aygül, ihr geht vor und besetzt den Grillplatz. Wir warten auf die anderen.“
„Wer kommt denn noch?“
„Mutter, Vater und Meral sind auch auf dem Weg und bringen den Rest. Geht, geht …“
Yusuf drückte Halil eine Taschenlampe in die Hand und suchte kurz seine Augen. „Los!“
Einen Moment war er zur Salzsäule erstarrt, dann nickte er. „Ja, los.“ Er ergriff Aygüls Arm und zog sie Richtung Wald.

Als er eine halbe Stunde später zwischen den Bäumen heraustrat, starrten ihn alle an. Er lief langsam auf sie zu. Er brachte kein Wort heraus und hob nur die blutverschmierten Hände. Sein Bruder nickte hart, kam zu ihm und klopfte ihm auf die Schulter. Elif gab einen undefinierbaren Laut von sich. Er klang eher tierisch als menschlich. Sie beugte sich vornüber und erbrach an Ort und Stelle.
„Kommt“ sagte der große Bruder, „steigt ein, wir müssen weg“.
„Nein. Ich brauche noch ein bisschen frische Luft und Ruhe. Ich laufe zurück.“
„Mach keinen Scheiß.“
„Nein.“
„Das war richtig so.“
„Ich weiß.“

Etwas später war er dort angekommen, wo er hinwollte: unter der Brücke. Er suchte sich eine ebene Stelle, um an den Fluss zu kommen. Dort wusch er sich das Blut von den Händen, zog die Jacke aus und den Pulli hoch. Halil nahm das Küchentuch von seinem Bauch und spülte auch dort sein Blut von der Schnittwunde. Sie würde bald verheilt sein.

 
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Hallo Gretha,

puh, ziemlich lang und zudem noch viele Namen.
Yusuf ist der „älteste Sohn“. Aber es gibt doch nur zwei Söhne, oder? Dann wäre er der „ältere Sohn“. Wer ist Emal? Und warum bleibt die Mutter namenlos?

Ich steige mal in den Text:

seine Zwillingsschwester Aygül
Ist es wichtig, das sie Zwillinge sind? Wird später nicht mehr drauf eigegangen.

Er beobachtete seine Zwillingsschwester Aygül durch die Türe, ihre Bewegungen waren routiniert. Sie wellte rhythmisch den Teig aus, schnitt ...
Dass die Bewegungen routiniert sind, würde ich erst schreiben nachdem man erfährt, was sie überhaupt für Bewegungen macht. Also nach hinten schieben.

Nahm Aygüls Platz ein und begann, angeleitet von der Mutter, mit ungeschickten Kinderhänden die Teigtaschen zu bearbeiten.
Halil wurde schlecht. Der gerade noch appetitlich feuchte Küchengeruch ließ ihn würgen,
Das klingt als würde ihm davon schlecht, dass Meral jetzt in der Küche weiterarbeitet.
Überhaupt wird mir in der Geschichte zu viel gewürgt und / oder gekotzt.

„Bist du wach? Halil?“, sie rüttelte ihn sanft und legte sogleich ihre Hand auf seinen Mund „Pst, sei leise, alle schlafen“.
„Bist du wach? Halil?“ Sie rüttelte ihn sanft und legte sogleich ihre Hand auf seinen Mund. „Pst, sei leise, alle schlafen.“

Und: Wer ist „sie“? Es ist anstrengend, solche neuen Absätze ohne Namen, wo sowieso schon so viele Namen vorkommen.

Und wenn (KOMMA)wie? Weglaufen: ja oder nein? Wenn ja (KOMMA)wie?

Sie packte etwas Haut an ihrem Hals und zog daran.
Unrunde Formulierung.

und er fühlte nur noch den blutenden Stumpf.
Was fühlte er?

Der zehnjährige Halil
Würde das Alter schon vorher nennen.

Skatebord
Skateboard. Später Board anstatt Bord.

Halil verharrte in Duldungsstarre.
Steht er da wie ein Erdmännchen oder wie kann man sich das vorstellen?

„Ich brauch keine Hilfe von einem Mädchen!“, das
„Ich brauch keine Hilfe von einem Mädchen!“ Das

Er spürte Aygüls warmen Schenkel an seinem. Sie schien unruhig und kippelte ein bisschen. Halil war sich nicht sicher, ob sie der Situation misstraute oder nicht. Es war dunkel. Yusuf fuhr den Wagen. Seine junge Frau Elif saß vorne neben ihm. Sein Onkel Özcan flankierte die Schwester auf der anderen Seite.
Hier habe ich so gut wie Nichts verstanden.
Wer ist „er“? Halil?
Was haben sie vor? Wem/was könnte sie misstrauen?
„flankiert die Schwester“: Was passiert da?

Yusuf drückte Halil eine Taschenlampe in die Hand und suchte kurz seine Augen.
Und, hat er die Augen mit der Taschenlampe finden können? Wo lagen sie denn? :D

Halil nahm das Küchentuch von seinem Bauch und spülte auch dort sein Blut von der Schnittwunde. Sie würde bald verheilt sein.
Das Ende habe ich nicht verstanden. Hat er sich noch dem Mord an seiner Schwester selbst verletzt?

Hoffe, du kannst mit meinen Anmerkungen was anfangen.

Beste Grüße,
GoMusic

 

Hallo Gretha (und GoMusic :))

ich finde das Ende ziemlich eindeutig:

Er hat den Mord an seiner Schwester vorgetäuscht, und sich selbst verletzt, damit seine Familie Blut an ihm sieht. Aygül ist hoffentlich auf dem Weg in ein Frauenhaus oder die nächste anonyme Großstadt.

Zur Geschichte habe ich noch mehr zu sagen, ich schaffe es aber nicht mehr heute abend. Morgen mehr. :)

Grüße von Perdita

 

Hallo Gretha,

mich hat deine Geschichte ziemlich ergriffen. Ich habe diese ganze Ehrenmord-Scheiße nie begriffen, und ich kann auch nicht behaupten, dass ich sie nach dieser Lektüre besser verstehe, aber dies ist ein schöner Einblick in die Konflikte, die mit dieser "Tradition" (ich weiß wirklich nicht, ob das ein passendes Wort ist) verbunden sind.

Ich habe das Ende genauso verstanden wie Perdita und bin mir da auch sehr sicher - ich denke nicht, dass du da deutlicher werden musst. Auch dass Aygül Halils Zwillingsschwester ist, fand ich durchaus bedeutsam, weil es eine besondere Beziehung zwischen den beiden begründet, die wohl letztlich eine wesentliche Ursache für Halils Handeln ist. Dafür bin ich nicht sicher, ob ich es gut finde, Halil zusätzlich noch als schwul darzustellen.

Denn welche Bedeutung hat es für die Geschichte, wenn Halil schwul ist? Für mich scheint es zu bedeuten, dass er mehr Verständnis oder Mitleid für Aygül aufbringt, weil er selbst auch gegen die Traditionen verstößt. Weil das gleiche Urteil wie über Aygül auch über ihn selbst gefällt werden könnte, kann er sich besser in ihre Lage versetzen und besser nachvollziehen, dass die religiösen Konventionen nicht der Weisheit letzter Schluss sind. Und dieser Gedanke ist zwar absolut schlüssig, aber ich finde es auch schade, dass es den braucht. Meiner Meinung nach könnte die Geschichte stärker sein, wenn Halil auch ohne die eigene Betroffenheit Verständnis für Aygül aufbringen könnte; wenn es die reine Geschwisterliebe - vielleicht in Verbindung mit etwas westlicher Aufklärung - wäre, die ihn dazu bringt, über orthodoxe Vorschriften hinauszudenken, sich eine eigene Meinung zu bilden und eine entsprechende Entscheidung zu treffen. Aber vielleicht wolltest du ja gerade darstellen, wie schwierig (oder unmöglich) das ist, solange man eben nicht selbst betroffen ist. Das wäre dann eine eher pessimistische Sichtweise auf eine ohnehin recht triste Handlung. In jedem Fall ist aber auch Halils Identitätskonflikt gut dargestellt; du hättest aber ohne weiteres eine eigene Geschichte daraus machen können.

Aus ähnlichen Gründen finde ich es etwas schade, dass Halil tatsächlich der Einzige zu sein scheint, der Skrupel hat, Aygül umzubringen. Okay, Elif übergibt sich hinterher auch, aber dass z.B. eine Mutter überhaupt nicht mit der Wimper zuckt, ist schon starker Tobak. Auch das mag ja realistisch sein, aber da entsteht in mir ein gewisser Erklärungsbedarf: Vermutlich wurde die Mutter einfach von Kindesbeinen an so indoktriniert, dass sie das alles für richtig hält; vielleicht hat sie so etwas schon mal in ihrer Familiengeschichte erlebt und sich daran gewöhnt; das kann alles sein, aber als Leser weiß ich nichts darüber und wundere mich über ihre Gefühllosigkeit. Allerdings verstehe ich, dass sich dieser Hintergrund schwer in der Geschichte unterbringen lässt, die ja komplett aus Halils Perspektive erzählt wird.

Sprachlich finde ich den Text gut, die Sprache ist recht nüchtern, was m.E. gut zum Thema passt. Gedrechselte Sprache und ausschweifende Bilder fände ich eher ablenkend. Einige Fehlerchen hat dir GoMusic ja schon aufgezeigt, ich werde versuchen, da nichts zu wiederholen:

„Schwule Arschficker!“, schleuderte er ihnen pubertär entgegen.
Diese Wertung würde ich dem Leser überlassen.

„Verpiss dich, KlemmschwesterKomma und tu nicht so, selber verkappe Schwulette!“
verkappte?

Auch der Imam war anwesend. Er versuchte sich auszumalen, ...
Kurze Verwirrung, wer "er" ist: Man denkt an den Imam, aber Halil ist gemeint.

Er versuchte dem ganzen mit der letzten Restwürde entgegenzutreten.
dem Ganzen

man sprach vom JugendstrafrechtKomma nach dem er mit siebzehn schlimmstenfalls verurteilt werden würde

man packte ihn beim seinem Stolz und der Verantwortung.
bei

sie wellte rhythmisch den Teig aus, schnitt ihn in kleine Quadrate und häufte ruiniert winzige Portionen Fleischfüllung auf sie.
routiniert (hast du da schon umgebaut?)

Sie begann nun die kleinen Rechteecke zusammenzudrehen
Rechtecke

Töten: ja, oder nein?
ohne Komma

Gäbs es denn einen Grund?“
Gäb's oder Gäbe es

sich aber nicht trauteKomma es ihren Bruder, also Aufpasser, anzuvertrauen.
ihrem Bruder

eine innere BindungKomma die Geheimnisse überflüssig machte.

mit ihrem viel zu weiten HoppHopp-Schnitt.
Hiphop?

Er versuchte sich nicht zu erbrechen, oder die Türe aufzureißen und wegzulaufen.
Das Komma würde ich hinter "versuchte" verschieben, bin nicht 100 % sicher. Vor das "oder" gehört jedenfalls keins.

„Kommt, “ sagte der große Bruder „steigt ein, wir müssen weg“.
„Kommt“, sagte der große Bruder, „steigt ein, wir müssen weg“.

Er suchte sich eine ebene StelleKomma um an den Fluss zu kommen.

Mit Gewinn gelesen!

Grüße vom Holg ...

 
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Liebe Gretha,

das Ende reißt deine Geschichte raus. Ohne diesen Schluss hätte sie mir nicht so recht gefallen. Später dazu mehr.
Verstanden habe ich sie so:
Es geht darum, dass der siebzehnjährige schwule Halil seine Zwillingsschwester töten soll, weil sie mit einem Angestellten der Bäckerei gesehen worden ist. Die Familie und der Imam beschließen deshalb, dass Halil seine Schwester bei einem nächtlichen Grillen töten soll. Halil lässt alle im Glauben, die Tat ausgeführt zu haben, hat sich aber nur selber verletzt.

Ich habe einige Probleme mit deiner Geschichte. Am meisten haben mich die Dialoge der Nebenpersonen gestört. Diese beiden mögen beispielhaft für alle stehen:

Halil, du musst die Ehre reinwaschen. Du hättest besser auf sie aufpassen müssen.“
Sie? Um was ging es hier eigentlich?
„Was ist passiert?“
„Aygül. Man hat sie gesehen. Sie trifft sich mit einem aus der Bäckerei. Mit einem Deutschen. Sie ist ein schlechtes Mädchen. Sie hat uns in den Dreck gezogen. Man redet. Ich habe es von Emal erfahren. Du bist verantwortlich für deine Schwester.“
Aygül. Seine Knie wurden plötzlich weich. Aygül. Es ging nicht um ihn. Maßlos erleichtert ließ er sich auf den Teppich sinken.
Deine Mutter hat ihr Gesicht verloren. Mein Gesicht ist beschmutzt. Allah ist mein Zeuge, ich liebe meine Tochter. Aber so können wir nicht weiterleben. Du musst das wieder in Ordnung bringen. Denn du bist jetzt verantwortlich.“
„Halil, deine Schwester hat ihr Todesurteil selbst unterschrieben, indem sie Unzucht betrieben hat. Du wirst nicht zum Mörder, wenn du es vollstreckst. Du bist die Hand Mohameds, ich gebe dir die Erlaubnis, das Messer zu führen, deine Hand ist seine Hand. Ihr Blut wird deine Familie reinigen. Es ist beschlossen.“

Das liest sich für mich, als habe ein AfD-Leser nach der Lektüre eines Bild-Zeitungs-Artikels einen für sein Empfinden typischen Dialog in einer muslimischen Familie zusammengebastelt. Da werden ausschließlich Floskeln ausgetauscht, da ist nichts, was die einzelnen Personen charakterisiert, alles ist holzschnittartig und unpersönlich. Jeder sagt das, was klischeehaft von ihm zu erwarten ist, der Vater, die Mutter, der Imam.
Halil steht daneben. Aber auch von ihm erfahre ich nicht viel. Er scheint schon mit zehn latent schwul zu sein, wird gehänselt und hasst seine Schwester dafür, dass sie ihn rausreißt.
Wie er allerdings mit dem jetzigen inneren Konflikt umgeht, erfahre ich nur durch Äußerlichkeiten: Er muss sich übergeben. Ansonsten gibt es nur eine Stelle, in der seine Verfasstheit für mich spürbar wird:
Er hatte nicht geschlafen, wie auch, seit Tagen quälte er sich im Halbschlaf durch die Nächte und suchte nach Lösungen. Töten: ja, oder nein? Und wenn wie? Weglaufen: ja oder nein? Wenn ja wie?

Hier vergibst du mMn eine Chance, aus der Klischeehaftigkeit deines Personals herauszukommen. Seine Gefühle, seine Verwirrung hätte ich mir stärker gewünscht. Da hilft mir auch der Rückblick nicht sehr. Er besagt ja nur, dass seine Zwillingsschwester für ihn da war, aber dass sie früher

eine imaginäre Nabelschnur hatten und sich blind vertrauten

wird hier nicht erfahrbar.

Noch einige Sachen, die ich mir notiert habe:

Er beobachtete seine Zwillingsschwester Aygül durch die Türe, ihre Bewegungen waren routiniert.
Den letzten Halbsatz würde ich wegfallen lassen, da du ja gleich darauf erklärst, was sie 'routiniert' macht:

Sie wellte rhythmisch den Teig aus, schnitt ihn in kleine Quadrate und häufte zierlich winzige Portionen Fleischfüllung auf sie.

Und dann die Mutter:

Die Mutter stand daneben und überwachte den Vorgang, gab zwischendurch gute Tipps.

wurde aber von ihrer Mutter unterbrochen.
„Nein, Meral soll das heute lernen. Sie ist alt genug.“
Ich finde, die Mutter verhält sich hier recht widersprüchlich.

Er fühlte, dass sie noch etwas auf dem Herzen hatte, sich aber nicht trauteK es ihren Bruder, also Aufpasser, anzuvertrauen.
ihrem Bruder

‚also Aufpasser’ finde ich unglücklich formuliert, vielleicht solltest du 'ihrem' noch einmal aufnehmen.

„Sch sch sch …“, zischte sie beruhigend und tätschelte seine Schulter.
‚beruhigend zischen’, wie geht das?

„Oh, guck, da kommt ein Mädchen, um der armen Schwuchtel zu helfen.“
Ich verstehe nicht viel davon, aber einen Zehnjährigen als ‚Schwuchtel’ zu bezeichnen, kann ich mir nicht vorstellen. Entweder ist das hier ein allgemeines Schimpfwort oder dieser Zehnjährige ist sehr frühreif.

„An den gleichen wie eh und je. Im Wald.“
Ich empfinde ja schon diese nächtliche Grillparty im Wald als äußerst konstruiert, aber die Formulierung ‚wie eh und je’ passt überhaupt nicht.

Deine Geschichte hätte mir besser gefallen, wenn das Personal (der Vater, die Mutter, der Bruder, der Imam und die anderen) nicht so klischeehaft gezeichnet worden wären. Da sprechen keine lebendigen Wesen, deine Personen kommen mir vor wie Verkünder dessen, was uns in den Medien als Begründung eines Ehrenmordes nahegebracht worden ist. Was ich vorfinde, sind Sprüche und Floskeln, die sicherlich in einer Situation, wie du sie beschreibst, fallen können, aber so für sich stehend, wie sie hier dargebracht werden, kann ich sie mir in einer nachvollziehbaren familiären Situation nicht vorstellen. Mag ja sein, dass ich einfach nichts von türkischen, kurdischen oder sonstigen muslimischen Familien verstehe. Vielleicht sollten sich unsere Kenner der Szene einmal äußern.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Hallo GoMusic,

Ist es wichtig, das sie Zwillinge sind? Wird später nicht mehr drauf eigegangen.

Für mich ist das schon wichtig, denn es spitzt den Konflikt einerseits zu, andererseits hat es für mich einen Symbolcharakter. Würde er den weiblichen Zwilling töten, ist es auch eine Art ausmerzen der eigenen weiblichen Anteile, zugunsten der Familie und falschen Auffassung einer uralten "Tradition".

Das Ende. Du hast mich echt gestern halb in Verzweiflung gestürzt und ich habe mir im Bett andauernd Formulierungen die das deutlicher machen überlegt. Heute morgen war ich dann schon erleichtert, dass die anderen verstanden haben, was ich meine.

Das mit den Namen verstehe ich. Weiter erläutert werden sie nur dann, wenn sie eine Rolle in der Geschichte spielen und nicht reine Statisten sind. Es gibt tolle türkische Namen, musste ich feststellen. ich hätte noch zwanzig einbauen können.

Das Realalter hab ich eingebaut, ich hoffe, nun ist es besser zu verstehen mit der Rückblende.
Vielen Dank Dir!
Gretha

Hallo Perdita,
danke für das Aufklären des Endes, so habe ich das gemeint.
Bin gespannt auf Deinen Kommentar.
Grüßle, Gretha


Hallo The Incredible Holg,

Denn welche Bedeutung hat es für die Geschichte, wenn Halil schwul ist? Für mich scheint es zu bedeuten, dass er mehr Verständnis oder Mitleid für Aygül aufbringt, weil er selbst auch gegen die Traditionen verstößt.

Ja, es ist schade. Es ist schrecklich, dass Menschen in Familien aufwachsen, die solche Werte unhinterfragt weiterleben. Ich hätte die Geschichte auch aus der Perspektive Aygüls schreiben können. Frauen aus solchen Familien stehen unter einem enormen Druck und können sich nirgendwo hinwenden. Niemandem vertrauen. Aber ich fand die Sicht des Täters, der ja keiner wurde, ebenfalls spannend. Denn diese Täter sind im Grunde auch Opfer. Ich konnte mir vorstellen, wäre Halil nicht schwul gewesen, also ebenfalls ein optionales Ehren-Opfer, hätte er sich für den Mord entschieden.

Aus ähnlichen Gründen finde ich es etwas schade, dass Halil tatsächlich der Einzige zu sein scheint, der Skrupel hat, Aygül umzubringen.

Das ist eigendlich charakteristisch für einen Ehrenmord. Lies mal die zwei Links, da ist das sehr gut beschrieben:

http://www.ehrenmord.de/faq/wasehre.php

http://www.ehrenmord.de/faq/wannehre.php

Sprachlich finde ich den Text gut, die Sprache ist recht nüchtern, was m.E. gut zum Thema passt.

Schön, dass Du das schreibst. Darum war ich auch bemüht, weil eigentlich neige ich schon zu ausschweifenden Beschreibungen.

Danke für die Fehlersuche.
Es freut mich, dass Dir die Geschichte gefallen hat.
Grüßle, Gretha

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe barnhelm,

wie würde denn ein innerfamiliärer Dialog zum Beschluss eines Ehrenmordes ganz ohne Floskeln und BILD-Zeitung aussehen? Wie würde man den Anlass dazu verkaufen können, ohne in ein "Klischee" zu verfallen?

Tut mir leid, aber ich kann diese Kritik nicht nachvollziehen. Das ist IMO kein Thema für kultursensible Relativierungen. Das Thema ist ganz real und wird in vielen Fällen in einem Amalgam jener Gründe und Denkweisen begründet, die Gretha in ihrem Text, meinetwegen überspitzt, aufgezeigt hat.

Lieben Gruß

Exilfranke :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo barnhelm,

Das liest sich für mich, als habe ein AfD-Leser nach der Lektüre eines Bild-Zeitungs-Artikels einen für sein Empfinden typischen Dialog in einer muslimischen Familie zusammengebastelt.

Ich verstehe Deine Kritik total. Wäre ich in die Thematik nicht aus Recherchegründen sehr tief eingetaucht, würde das auf mich warscheinlich auch so wirken.
Ich habe mich bei keiner meiner Geschichten so intensiv mit dem Inhalt auseinandergesetzt. Zu intensiv, was dazu führte, dass ich viele Monate Pause von der Geschichte brauchte, weil mich das, was ich gelesen und angeschaut habe im Kern erschüttert hat. Es ist mir ein Rätsel, wie sich eine Minderheit Türkisch- oder Arabischstämmiger mitten in Europa so nachhaltig von modernen Werten abschotten kann.
Zur Sprache der Männerrunde. Ich kenne zwar einige Türken, aber mir war der Sound der Sprache nicht so geläufig. Deshalb habe ich unzählige Reportagen türkischstämmiger Leute angeschaut, um in die blumige, übertriebene Sprache einzutauchen. Einige der Dialoge sind 1:1 übernommen. Zum Beispiel das "Mein Innerstes brennt ..." und so weiter. Genau das sagte ein Vater eines Ehrenopfers.
Manchmal ist ein Klischee kein Klischee, sondern einfach nur eine Eigenart.

Seine Gefühle, seine Verwirrung hätte ich mir stärker gewünscht.

Ich habe mir für diese Geschichte vorgenommen, auf innere Dialoge weitestgehend zu verzichten, sondern nur die Handlung wirken zu lassen. Ich erwäge aber, genau an der Stelle doch ein bisschen in Halils inneren Konflikt einzugehen. Gib mir ein paar Tage Zeit.

Vielleicht sollten sich unsere Kenner der Szene einmal äußern.

Vor dem Urteil dieser "Kennerin" habe ich fürchterliche Angst, kein Scheiß. :D

Vielen lieben Dank für das Auseinandersetzen mit meinem Text, barnhelm

Grüßle, Gretha

 

Hallo Gretha,

jetzt habe ich ein bisschen mehr Zeit bzw. stehe nicht kurz vor dem Einschlafen. :)

Ich muss zugeben, ich hab bei der Geschichte im Hinterkopf auch immer so eine besorgte Stimme gehabt, die dauernd gefagt hat: Oh, ist das nicht zu klischeehaft? Zu schwarzweiß?

Das sind zwar berechtigte Fragen, die man sich beim Schreiben schon auch stellen sollte. Aber auf der anderen Seite denke ich, man darf sich davon auch nicht einschüchtern lassen. Klar, wenn man über Themen aus einem anderen Kulturkreis schreibt, ist es nicht selbstverständlich, dass man alles richtig versteht, und es ist gut, sich das bewusst zu machen.

Aber Mord ist halt Mord. Das kann man nicht viel falsch verstehen, und da braucht man auch das Schwarzweiß nicht zu scheuen. Ich verstehe vielleicht nicht richtig, was dieser Ehrbegriff, dieses "Gesicht wahren" für die Leute in dieser Kultur bedeutet, die du beschreibst, und vielleicht verstehst du es auch nicht wirklich, obwohl die intensiv recherchiert hast. Aber wir müssen das auch nicht verstehen, um es zu verurteilen - weil es Mord ist, und egal, ob das einer macht, um die Lebensversicherung seines Ehepartners zu kassieren oder um eine eingebildete Schande zu korrigieren - das ist immer falsch und böse.

Wir müssen uns als Gesellschaft nicht darüber einig sein, was man am Strand trägt oder was man isst oder welche Feiertage wir begehen. Aber bei der Frage, ob Mord falsch ist, kann es einfach mal keine Pluralität geben.

Die Geschichte hat mich emotional sofort gepackt. Der Anfang hat mir allerdings am besten gefallen - ich dachte erst, es wird eine Geschichte über einen jungen schwulen Muslim aus einer konservativen Familie, und ich war ziemlich gespannt, wie es mit Halil weitergeht. Ich konnte zwar die Erleichterung, dass es nicht um ihn geht, gut nachvollziehen, aber gleichzeitig fand ich es ein bisschen schade.

Halil und Aygül konnte ich mir gut vorstellen, die anderen Figuren kommen ziemlich holzschnittartig rüber. Allerdings ist das ziemlich schwer zu vermeiden, zumindest bei einer Kurzgeschichte.

Das Ende hat mir sehr gefallen, und ich war mir auch sehr sicher, wie das gemeint ist. Wobei, beim zweiten Lesen ist mir klar geworden, dass es eigentlich ein offenes Ende ist, und dass der Text auch die Interpretation, dass er den Mord wirklich begangen hat und dadurch verletzt wurde, dass seine Schwester sich gewehrt hat, durchaus hergibt. Aber ich habe mir halt gewünscht, dass es gut ausgeht. Ich habe in letzter Zeit relativ viel düsteres Zeug gelesen, wahrscheinlich bin dich deshalb gerade sehr empfänglich für Happy Ends. :)

Ein paar Sprachsachen habe ich noch, die sind glaube ich auch schon zum großen Teil in anderen Kommentaren genannt worden, aber vielleicht ist auch noch was Neues dabei, ich bin zu faul, das zu überprüfen. :)

Betrachtete sein junges Gesicht im Spiegel.
Es sind mir ein paar zu viele Adjektive/Adverbien im Text. Das "jung" hier finde ich zum Beispiel verzichtbar.

„Schwule Arschficker!“, schleuderte er ihnen pubertär entgegen.
Das pubertär würde ich auch auf jeden Fall streichen.

„Verdammt wo bist du?
Komma nach Verdammt

Der gerade noch appetitlich feuchte Küchengeruch ließ ihn würgen, er rannte ins Klo und erbrach sich krampfend.
Ich kann mir unter einem "feuchten Geruch" zwar etwas vorstellen, aber nichts Appetitliches. Da denke ich an Schimmel und Moder. Und mit zwei Adjektiven ist das sowieso überladen - ich wäre für einfach bloß appetitlichen Küchengeruch.

Gäb's es denn einen Grund?
Gäbe es oder Gäb's

In dem Moment kam Aygül angerannt und brüllte die grölenden Jungs giftig an.
Kann man jemanden "giftig" anbrüllen? Das ist auch so ein Streichkandidat. :)

Grüße von Perdita

 

Hallo Gretha

die anderen Kommentare habe ich überflogen, mag sein, dass sich manches wiederholt... eine sehr starke Geschichte, szenisch aufgebaut, in sich selbst die Erklärungen suchend...
Die Hauptfigur kommt klar rüber, trotz oder gerade wegen der Widersprüchlichkeit, die Nebenfiguren bleiben teilweise blass, das hätte aber mehr Platz gebraucht...
Die Anfangsszene vor dem Transenetablieement und die, als er zu skaten versucht und von der Schwester gerettet wird, finde ich besonders gut gemacht... dagegen finde ich die Szene, als der Ehrenmord eingefordert wird, weniger glaubwürdig, kann das aber nicht genau begründen, vielleicht, weil es mir fremd ist...

Paar Stellen aus dem Text:

Spürte Parfüm über den Geruch des Zuhauses. Ging aufs Klo und versuchte trotz des Gewackels in die Schüssel zu treffen.
sprühte? und der Satz mit dem Gewackel ist unweigerlich komisch...

„Ja, Ehre, wir sind entehrt, jetzt frag nicht so bescheuert, komm einfach.“
klingt merkwürdig bemüht...

„Aygül. Man hat sie gesehen. Sie trifft sich mit einem aus der Bäckerei. Mit einem Deutschen. Sie ist ein schlechtes Mädchen. Sie hat uns in den Dreck gezogen.
ich glaube in der Realität müsste schin mehr passieren, als dass sie sich mit einem Deutschen trifft...

Sie redeten wieder auf ihn ein, man sprach vom Jugendstrafrecht nach dem er mit siebzehn schlimmstenfalls verurteilt werden würde, von der heiligen Pflicht.
wird da echt so rational argumentiert?

ich gebe dir die Erlaubnis, das Messer zu führen, deine Hand ist seine Hand. Ihr Blut wird deine Familie reinigen.
hast du das recherchiert, macht das ein Imam wirklich so?

. Sie roch nach Zwiebeln, Knoblauch und lange vergangenen Kindheitsliebkosungen.
schöner Satz

nach deiner Mami, Baby-Kanacke.“
na ja...

. Halil nahm das Küchentuch von seinem Bauch und spülte auch dort sein Blut von der Schnittwunde. Sie würde bald verheilt sein.
irgendwie habe ich gehofft, dass er sich selbst verletzt um seine Tat vorzutäuschen und sie zu retten, aber dann wär's nicht zu Ende hier...

viele Grüße
Isegrims

 
Zuletzt bearbeitet:

Sie begann nun die kleinen Rechtecke zusammenzudrehen, wurde aber von ihrer Mutter unterbrochen.
„Nein, Meral soll das heute lernen. Sie ist alt genug.“
Das kleine Mädchen hörte erschrocken auf, in der Paprikasauce zu rühren. Nahm Aygüls Platz ein und begann, angeleitet von der Mutter, mit ungeschickten Kinderhänden die Teigtaschen zu bearbeiten.
Halil wurde schlecht. Der gerade noch appetitlich feuchte Küchengeruch ließ ihn würgen, er rannte ins Klo und erbrach sich krampfend. Kaum hatte er Zeit[,] Luft zu holen, schon schoss ihm wieder wässriger Speichel in den Mund und eine erneute Welle des Würgreizes überkam ihn.
Das, Gretha, ist für mich die schmerzlichste Szene der Geschichte. Wie Aygül hier von der Mutter - ob nun bewusst oder unbewusst - von ihrem Platz im Familienverband gedrängt, zur Persona non Grata quasi wird und wie ihre kleine Schwester, der in Bälde vielleicht ein ähnlich grausames Schicksal blüht, ihre Rolle übernimmt. Dass Halil dabei das große Kotzen kommt, kann man ihm nicht verdenken.
Was für eine Scheißfamilie, was für eine Scheißwelt …

Die Geschichte, Gretha, hatte von Beginn an gute Karten bei mir. Nicht, weil sie von dir ist, sondern weil ich es prinzipiell erfreulich finde, wenn sich hier im Forum wer an kontroverse, gesellschaftspolitisch relevante Themen wagt. (Selbst auf die Gefahr hin, sich dann möglicherweise dem Vorwurf auszusetzen, quasi Sozialpornographie zu betreiben.)
Und mit diesem Thema legst du fürwahr die Finger auf eine Wunde. Unter anderem auf die Wunde meiner mittlerweile gänzlich desillusionierten Weltsicht.
Im wirklichen Leben weigere ich mich nämlich schon lange, mich ernsthaft mit solch bizarren Phänomenen auseinanderzusetzen, ob‘s nun religiöser Fundamentalismus, archaische Familienstrukturen oder das bornierte Beharren auf vorgestrigen Geschlechterrollenklischees ist. All diese Formen absurd anachronistischen menschlichen Verhaltens (im dritten Jahrtausend!!!) machen mich schon lange sprachlos und bestärken mich immer mehr in der Überzeugung, dass all die Arbeit von Voltair, Diderot, le Rond d’Alembert, Hume und wie sie alle heißen, sich nach nur ein paar hundert Jahren womöglich als vollkommen für die Katz erweist. Und wenn es tatsächlich so ist, ja, was ist dann die Konsequenz? Dass wir im Grunde nur auf ein hochtechnologisiertes Mittelalter zusteuern? Dass das vielleicht schon längst begonnen hat, zeigt ein Blick in unsere so wunderbare, grausame Welt.
Es gibt keinen Grund, nicht verrückt zu werden.

Eine sehr aktuelle, eine sehr starke Geschichte, Gretha.

offshore

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Exilfranke,
danke für die Verteidigung. Es ist tatsächlich schwer, etwas typisch zu machen, aber eben nicht zu überzeichnen. Die AfD-Keule empfand ich zwar ebenso ein bisschen überzeichnet, wie meine Männerrunde überspitzt ist, aber es hat mir gezeigt, dass ich da wohl besser doch noch ein bisschen mit dem Weichzeichner drüber gehe.
Grüßle, Gretha

Hallo Perdita,
schön, dass Du noch mal hierher gefunden hast.

Ich verstehe vielleicht nicht richtig, was dieser Ehrbegriff, dieses "Gesicht wahren" für die Leute in dieser Kultur bedeutet, die du beschreibst, und vielleicht verstehst du es auch nicht wirklich, obwohl die intensiv recherchiert hast

Ich denke uns, aus einem anderen Kulturkreis bleibt immer nur der Blick von außen. Deshalb habe ich auch weitestgehend auf innere Dialoge verzichtet, weil das wäre echt eine komplette Spekulation gewesen. Deshalb blieb mir eben nur der Blick von außen auf die Handlung.
Der Begriff "Ehre" ist in dem Kulturkreis ein vollkommen anderer. Und hat einen vollkommen anderen, für uns unermesslichen Stellenwert. Auch die familiären Strukturen sind nicht zu vergleichen.
Wenn wir etwas vollkommen anderes tun wollen, sich das die Eltern, oder gar Großeltern, Onkels und Tanten wünschen, uns etwas anderes antreibt, wir unterschiedliche Werte entwickeln, dann passiert was? Es gibt vielleicht Zoff. Wenn überhaupt. Was passiert schlimmstenfalls? Wir kehren unserer Familie den Rücken. Schaffen Distanz. Dosieren das runter, oder brechen mit der Familie.

Das ist normal bei uns. Denn wir dürfen Individualisten sein.

Dies ist in Familien mit arabischen Wurzeln nicht vorgesehen. Schon gar nicht für Frauen.

Aber sie leben hier. Haben Mitschülerinnen, Kolleginnen, die alles dürfen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie sich das anfühlt.

So, jetzt bin ich ins schwallen gekommen, sorry.
Du hast das Ende richtig gelesen, so habe ich das gemeint.
Aber auch hier können wir nicht ermessen, was das für ein Quantensprung für Halil war.

Um die Adjektive und ein paar andere, größere Renovierungen der Geschichte kümmere ich mich nächste Wochen.
Danke für Deine Gedanken.
Grüßle, Gretha

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Isegrims,

sprühte?

Meine Fresse, sag mal, wie kann es passieren, dass ich eine Geschichte x-mal lese und mir das nicht auffällt? Echt ultrapeinlich.:drool:

ich glaube in der Realität müsste schin mehr passieren, als dass sie sich mit einem Deutschen trifft...

Nein, nicht zwingend. Manchmal reicht ein Gerücht, das Verweigern des Kopftuchs, westliche Anwandlungen und so weiter. Ehre ist bei Menschen mit muslimischen Wurzeln nichts, was man durch eine Leistung erringen kann. Sondern nur etwas, was man verlieren kann. Ehre steht immer im direkten Zusammenhang mit den Frauen. Die Männer sind verantwortlich für die Verteidigung die Ehre der Frauen in der Familie. Benimmt sie sich irgendwie daneben, sind die Männer und die Familie entehrt. Sie kommen dann in einen Handlungsdruck, wenn die Frauen Individualität entwickelt. Werden überwacht, gezwungen, bedroht, zwangsverheiratet oder schlimmstenfalls getötet. (Selten)
Tut ein Mann nichts dagegen, gilt er als Schwächling.

wird da echt so rational argumentiert?

Definitiv: ja. Meist muss der Jüngste dieses "Amt" übernehmen, damit milde gerichtet wird. Er übernimmt dann die ganze Schuld, wie zum Beispiel bei dem bekannten Fall Hatun Sürücü. Die Restfamilie wird komplett entlastet.

hast du das recherchiert, macht das ein Imam wirklich so?

Das ist etwas, was man nicht richtig recherchieren kann. Denn die Imame, die oft mit im Verdacht stehen, werden immer entlastet vom Täter. Und grundsätzlich aus Mangel an Beweisen freigelassen.
Da liegt die Decke des Schweigens drüber. Ich persönlich glaube nicht an die generelle Unschuld der Imame, noch bin ich überzeugt, dass sie immer Mitschuld tragen.

Ich würde sagen, es gibt sodde und sodde, wie überall. Fakt ist aber, dass nach der Scharia die Todesstrafe auf Unzucht folgt. Fakt ist auch, dass Frauen in Deutschland für Unzucht nicht bestraft werden, was ab einer gewissen Radikalität in seltenen Fällen zur Selbstjustiz "im Namen Gottes" führen kann.

Aber wie schon gesagt, es sind Einzelfälle, zirka 12 pro Jahr in Deutschland. Kriminalität "der Anderen" wird natürlich immer als besonders besorgniserregend wahrgenommen. Ich will auch nicht sagen, dass es eine steigende Tendenz ist. Aber es ist nur eine Spitze des Eisbergs. Darunter gibt es viel Unterdrückung, Bespitzelung, Gewalt und Zwang.

irgendwie habe ich gehofft, dass er sich selbst verletzt um seine Tat vorzutäuschen und sie zu retten, aber dann wär's nicht zu Ende hier...

Genau so habe ich das Ende gemeint. :)

Danke für das Betrachten des Textes und für die tollen Fragen, Isegrims.
Hat mich echt gefreut.
Grüßle, Gretha

 

Eine bewegende und wichtige Geschichte, mitten aus unserem Leben. Allerdings hat sie eine Schwäche: Der Protagonist handelt aus falschen Motiven barmherzig: Er liebt seine Zwillingsschwester und ist selbst Schwul – auch das letztgenannte beschmutzt nach herkömmlichen Ehrbegriff die Familienehre.

Besser wäre es gewesen, er handelte aus dem Bewusstsein heraus, dass diese Ehre nicht mit Blut reingewaschen werden kann bzw. wird. Doch dazu müsste sein Charakter umfassender dargestellt werden und auch beim Familiengericht müsste er sich – anfangs zumindest – vehement gegen einen Ehrenmord aussprechen und erst später zum Schein darauf eingehen.

Durch deine Darstellung hast du die Schwierigkeit, die für dich fremde und komplizierte Problematik umfassend darzustellen, umgangen. Da wird einfach ohne viel Federlesens ein Mord beschlossen und ausgeführt. Wenn es stimmt, was man so hört, dürfte die Wirklichkeit wesentlich komplexer sein – schon Imame, die Ehrenmorde, wie in deiner Geschichte, ohne wenn und aber als von Allah verlangt definieren, dürften eher eine Ausnahme sein, denn Ehrenmorde entstammen einer vorislamischen Tradition. Hier wird er aber als einer dargestellt, gegen den ein Widerspruch unmöglich ist.

Eine auf so vielen Besonderheiten ruhende Geschichte erfüllt leider nicht den Anspruch, gesellschaftlich relevant zu sein.

Noch eine Kleinigkeit: In der Türkei wird kaum mit Butter gekocht, denn es fehlt da an Kühen und damit auch an Kuhmilch, ergo Butter. Es gibt zwar Butter aus Ziegenmilch, aber ob die in der Küche verwendet wird wie bei uns die Butter aus Kuhmilch, weiß ich nicht. Ich tendiere zum nein, denn die mediterrane Küche benutzt vor allem Öle, dies auch, weil in dem Klima sich eine Butter ohne Kühlung kaum länger halten kann – Kühlschränke gibt es allgemein erst seit 50 oder so Jahren.

 

Hallo ernst offshore,
sorry, hat ein bisschen gedauert.

Dass wir im Grunde nur auf ein hochtechnologisiertes Mittelalter zusteuern?

Das glaube und hoffe ich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es da für uns Mitteleuropäer noch mal einen Weg zurück gibt.
Was ich mir aber vorstellen könnte, sind tiefe Gräben.

Nicht, weil sie von dir ist, sondern weil ich es prinzipiell erfreulich finde, wenn sich hier im Forum wer an kontroverse, gesellschaftspolitisch relevante Themen wagt

Ist aber ziemlich schwierig, man sagt ja als guter Mensch nichts mehr dazu. Eine Stellungnahme, oder nur ein Beschreiben eines unhaltbaren Zustands wird ja sehr schnell mit der AfD-Keule niedergeknüppelt. Und darin sehe ich eine Gefahr. Unsere Sprache wird komplett beschnitten, man darf etliche Worte gar nicht mehr benutzen, Themen generell nicht mehr anschneiden, Personengruppen nicht mehr benennen, es sind ja immer einfach Menschen. Ohne Geschlecht, ohne Abstammung, ohne Gesundheitsstatus, Religionszugehörigkeit und so weiter und so fort.
Ich finde das komplett obskur. Wollen wir bald alle reden wie Frau Merkel? Wischiwaschi, um nur niemanden auf den Schlips zu treten, auf Kosten irgendeiner Aussage? Im Grunde genommen nervt mich das am allermeisten. Man muss sich nur mal einen Film oder ein Buch aus den 80er anschauen, oder lesen, da durfte man noch reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist.
Wenn die Gemäßigten nicht mehr trauen, Kinder beim Namen zu nennen, spielen sie den Populisten in die Hände. Denn die trauen sich. Und das ist die eigentliche Katastrophe, ich will nicht von solchen Deppen regiert werden.

Deshalb greife ich auch schwierige Themen an. Und versuche trotzdem Mitgefühl für meine Protagonisten zu haben.

Eine sehr aktuelle, eine sehr starke Geschichte, Gretha.

Dankeschön, lieber Ernst.

Ich fürchte mein Zeitfenster ist schon wieder verstrichen, ich vergesse Dich aber nicht, Dion, versprochen.:)

 

Hey Gretha,

mich haben drei Dinge am Text gestört.

1. Was spielt es für eine Rolle, dass Halil schwul ist? Ich finde, wenn du anfangs mit so einer Szene einsteigst, dann gibst du dem Leser schon ein gewisses "Versprechen" ab, was er vom Text erwarten kann - ich habe mich hier auf einen Text über einen schwulen Türken/Moslem eingestellt, und hatte nach der Hälfte des Textes dann das Gefühl, der Erzähler kommst vom roten Faden ab.

2.

Halil roch am Ärmel seiner Jacke und verzog das Gesicht. Sprühte Parfüm über den Geruch des Zuhauses. Ging aufs Klo und versuchte trotz des Gewackels in die Schüssel zu treffen. Betrachtete sein junges Gesicht im Spiegel.
Ja ich weiß, Stil. Aber mich persönlich stören ehrlich gesagt die fehlenden Personalpronomen. Ich finde einfach, das liest sich nicht schön und klingt auch nicht schön.

3. Der Ehrenmord. Die Schwester hat was mit einem Deutschen vom Bäcker, und dann treffen sich sofort die Männer der Verwandtschaft im Wohnzimmer, der Imam kommt auch noch, und sie haben noch bevor der ältere Bruder eintrifft eigentlich auch schon beschlossen, die Tochter umzubringen (die gerade etwas mit der Mutter nebenan in der Küche zubereitet?) Sorry, Gretha, aber wenn das so gedacht war, ist das entweder unzureichend recherchiert oder du willst einfach zu viel auf einmal. So funnktioniert ein Ehrenmord nicht. Bloß, weil die Tochter einen Deutschen Freund hat, oder sich mit einem Deutschen trifft - da wäre vllt in konservativen türkischen Familien tatsächlich erstmal großes Entsetzen, aber man würde die Tochter einsperren, den Kontakt verbieten, vllt auch in absehbarer Zeit versuchen, zu verheiraten, einfach, weil sie ja jetzt schwieriger auf dem Heiratsmarkt zu vermitteln ist. Also das geht mir viel, viel zu schnell und wirkt leider sehr unauthentisch. Falls du dich etwas in das deutsch-türkische Milieu reinschauen willst, kann ich dir den Film "Die Fremde" von Feo Aladag empfehlen - da wird die Entwicklung hin zu einem Ehrenmord wirklich sehr organisch und sehr authentisch erzählt.

Sorry, Gretha, für meine direkten Worte. Ist nur meine Meinung.


Viele Grüße,
zigga

 

Hallo Dion und zigga,
ich wollte mich nur schnell melden und beteuern, dass ich Euch nicht vergessen habe. Gerade der Einwand von Dir, Zigga, hat mir gezeigt, dass ich noch mal ein bisschen umschreiben muss. Dafür fehlt mir aber momentan die Zeit. Wenn mich die Muse küsst und ich die Zeit finde, schreibe ich um und gehe noch mal auf Euch ein.

Auf jeden Fall danke ich Euch für Eure Mühe.
Grüßle, Gretha

 

Hallo Gretha,

ich schließe mich so ziemlich vorbehaltlos dem zigga an.


Was ich stark an deinem Text finde, das ist die Besonderheit des Verhältnisses zwischen Bruder und Schwester einerseits. Das könntest du mir gar nicht genug betonen. Man merkt die Nähe zwischen den Zwillingen (ich finde auch toll, dass es Zwillinge sind) und man versteht, warum Halil auf eine sehr spezielle Lösung kommen will. Es gibt auch andere, sehr gute Stellen in dem Text. Mir gefiel es zum Beispiel auch sehr gut, weil herzschnürend, als die kleine Schwester das Herstellen dieser Fleischkrapfen übernehmen soll. Auch die Skateboardszene fand ich toll.

Aber insgesamt gibt es halt noch paar Probleme aus meiner Sicht.


Was die Charakterisierung der Familie betrifft, ging auch mir das auch viel zu schnell. So viele Ehrenmorde, dass man einfach nur ein blumiges arabisch klingendes Gespräch einfügen muss und der Rest sich selbst erklärt, gibt es nun auch wieder nicht.
Vielleicht kannst du ein wenig stärker betonen, wie eine Familie dazu kommt, den Ehrenmord als einzige Möglichkeit der Wiederherstellung ihrer Ehre zu sehen.
Ich kenn paar türkische Familien, da sind auch nicht immer die reichsten, modernsten, aufgeschlossensten dabei, aber ein Ehrenmord? Die würden die Tochter eher in die Türkei verheiraten, wie die Tochter das ja vermutet hat. Wahrscheinlich kennst du diese Seite hier schon, aber ich schick den Link trotzdem zur Sicherheit.

http://http://www.religionen-im-gespraech.de/thema/ehre-ist-das-wichtigste-einwandererkinder-zwischen-familie-schule-und-religion/hintergrund-0

Für mich würd die Familie einfach noch ein bisschen mehr Charakterisierung brauchen, damit der Entschluss glaubwürdig wird.

Was ich auch schade fand, das ist, dass Halils Homosexualität nicht weiter aufgegriffen wird. Wenn das irgendwie miteinander stärker in Verbindung stünde, also der Ehrenmord, Halilis Reaktion darauf, seine Homosexualität und zum Beispiel eine Auswirkung auf eine Veränderung seines Umgangs mit seinen eigenen sexuellen Vorlieben, das hätte was, ich fände das sehr sehr stark. Im Moment hast du die Verbindung nur darüber hergestellt, dass Halil froh ist, nicht selbst entdeckt worden zu sein, was ich auch schon gut finde. Und dass es ihn stärker für das Unrecht der Tat sensibilisiert, weil er selbst ein anderes Leben möchte, sich aber nicht traut, es tatsächlich zu leben. Wenn das auf irgendeine Weise stärker verzahnt wäre, das fänd ich toll.

Und dann gab es auch für mich so ein paar Stilentscheidungen.

Gerade der Anfang hat mich leider Gottes ziemlich genervt. ich sag dir das nicht gerne, aber es war halt leider so. Vielleicht ist es ja auch nur Geschmackssache, aber ich weiß auch nicht so wirklich, was es für einen Vorteil bietet, wenn man die Verbformen so stark betont und das dann noch durch die Punkte so abtrennt. Dadurch entsteht ein komischer Rhythmus, der abstoppend wirkt.

Auch später bei den Einleitungsformeln zur wörtlichen Rede kommen paar Sachen vor, die ich nicht schön fand, ich machs im Detail:


Halil roch am Ärmel seiner Jacke und verzog das Gesicht.
Schön


Sprühte Parfüm über den Geruch des Zuhauses. Ging aufs Klo und versuchte trotz des Gewackels in die Schüssel zu treffen. Betrachtete sein junges Gesicht im Spiegel.
Schöne Idee, den Geruch des Zuhauses überdecken zu wollen. Bin mir nicht ganz sicher, ob man den Geruch des Zuhauses konkretisieren könnte, wär vielleicht szenischer, aber nein, in dem Fall hier kommt mir "des Zuhauses" besser vor. Ist von vorneherein symbolträchtig. und dadurch auch gleich schöner, weil man seinen Versuch merkt, sich von seinem Zuhause zu distanzieren.

Aber dann die drei Satzanfänge hintereinander jeweils durch Weglassen des PP? Find ich keine gute Lösung.

Er ließ Wasser über die Hände laufen und fummelte an seinem gegelten Undercut. Strich die dezent gezupften Augenbrauen in einen schönen Bogen und befeuchtete die Lippen. Machte einen Schmollmund und warf seinem Spiegelbild ein Küsschen zu.
Ich finde seinen Versuch, mit sich selbst zu kokettieren, ganz schön. Man hat das zwar schon gelesen, aber was solls, hier passt es auch, weil er endlich sich selbst schön machen und fühlen darf. Aber: Man könnte das auch als stinknormale Aufzählung schreiben, dann wär das nicht so ein Stop and Go.

Der irgendwo auf der Hälfte der Strecke zwischen Plochingen und Stuttgart aufkeimende Mut, der seinen Höhepunkt im letzten Drittel der Fahrt hatte, verpuffte nun mit jedem Meter.
Eigentlich eine schöne Idee, den Mut mit der Fahrt zu kombinieren, aber durch den langen Einschub am Anfang wartet man ewig auf das Subjekt, das stört den Lesefluss ziemlich. Das würde ich umformulieren.

Aufkeimender Mut geht nicht, denn der Mut ist ja schon wieder am Abflauen. Muss heißen aufgekeimte Mut.

Als die Worte in Kürze erreichen sie den Stuttgarter Hauptbahnhof aus dem Lautsprecher erklangen, war die Luft raus.
Besser die Lautsprecheransage durch Kursivschrift verdeutlichen.


Halil beschloss KOMMA den langen Weg vom Bahnhof zur Karlstraße zu Fuß zurückzulegen, steuerte die Königstraße an und ließ sich von der Menschenmenge mitziehen.

Die aufgeschnappten Gesprächsfetzen waren laut und überdreht.
Die Gesprächsfetzen können nicht laut und überdreht sein, höchstens die Stimmen.


„He, Schätzchen, komm rein mit deinem süßen Arsch, wir werden ihn schon nicht gleich aufreißen.“
Du hast manchmal noch Wortfüllsel drin, nicht nur hier, ich würd das auch mal auf Rhythmus hin prüfen. Beweg mal Mund und Lippen, um ihn schon nicht gleich zu sprechen, puhhh, da musst du ganz schön Lippengymnastik treiben, manchmal ist es besser, man nimmt schon aus dem Grunde ein paar Füllwörter raus.


„Heiersche, du böse Tunte, lass ihn doch, er hat schon ganz rote Ohren.“
Schön, der Name hier am Anfang. Das "schon" ist zum Satz vorher gedoppelt.


Sein Stolz flammte sofort auf und er spuckte Richtung Tür.
"Sofort" ist überflüssig. Mehr noch, störend, weil es klar ist, dass der Stolz zeitmäßig mit dem Gesagten aufflammt.


„Schwule Arschficker!“, schleuderte er ihnen pubertär entgegen.
Och nee, pubertär geht überhaupt nicht. Erstens lass mal den Dialog sprechen. Und das tut der schon sehr eindrücklich mit seiner Beleidigung. Zweitens laberst du da echt autorenmäßig rein. Der Halil ist voll entrüstet, der würde sich im heiligen Zorn sehen, und nicht von sich selbst denken, er ist pubertär. Höchstens hinterher, wenn es zu spät ist und er sich ärgert, dass er nicht mehr Traute und Humor hatte. Ist also auch ein Perspektivfehler.


„Verpiss dich, Klemmschwester, und tu nicht so, selber verkappte Schwulette!“
Sogar hier würde ich noch bisschen kürzen, dann kommen die Gegenbeleidigungen besser.


So, hier hör ich mal auf, später ist mir das auch nicht mehr so aufgefallen, da hattest du mich mit deiner Geschichte am Kanthaken.

Ich wünsche dir viel Spaß und Geduld und Erfolg beim Überarbeiten.

Novak

 

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