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Ehe auf Bewährung ( alias: Michael in jail )
Ehe auf Bewährung
( alias: Michael in jail)
Im Rückspiegel richtete sie schnell noch ihr Make-up. Warf die Einzelteile wieder in die Handtasche und stieg aus. Vor dem Tor blieb sie noch mal stehen, strich ihr Kleid glatt und schüttelte die Haare in Form. So konnte sie ihm gegenübertreten. Sie trat vor die Pförtnerkabine und lächelte. Weniger fröhlich, als noch eben im Auto, aber freundlich.
Das hohe Metalltor begann zu rappeln und sie trat in die Durchfahrt. Die Schleuse. Vier Meter hoch, Lang genug für einen LKW. Karg, mit Kameras. Auf beiden Seiten ein schweres Eisentor. Ein wenig dunkel, denn die große Beleuchtung war nicht eingeschaltet. Nicht für einen Fußgänger.
Seitlich betrat sie den Besucherflur. Der Beamte nickte ihr reserviert, aber freundlich zu, einige Male hatten sie sich schon gesehen. Durch den Metalldetektor, die Handtasche abgeben. Vorn am Tresen noch die üblichen Formulare und Unterschriften. Den Personalausweis abgeben. Bei ihren ersten Besuchen hatte diese Prozedur ihr Angst gemacht. Jetzt war es eben so. Jeden Monat. Der übliche Weg zu Michael.
Als sie den überweißen Flur hinunterging, schallte das Klicken ihrer Absätze zu laut. Bis hinein in das Besuchszimmer. Auf dem durchgesessenen Stuhl rutschte sie ein wenig hin und her, bis er durch die gegenüberliegende Tür hereingeführt wurde.
"Hi, Süße!", sein Lächeln wirkte müde. Noch mehr, als beim letzten Mal. "Hallo", ihre Stimme klang weich. Ein wenig zögerlich. "Was gibt es Neues?", das fragt er jedes Mal. Was es wirklich gibt, kann sie ihm kaum erzählen. Gehaltserhöhung, renoviert, zwei Mal ein Wochenendurlaub. Die neuen Kleider. Nichts besonderes. Das ganz Normale eben. Immerhin ist er seit fast zwei Jahren hier, und sie sehen sich nur einmal im Monat. Für eine Stunde. Hier dreht die Welt sich anders.
Also erzählt sie ihm von Kleinigkeiten. Vom Ärger auf der Arbeit, ach ja, und mit der Nachbarin aus dem Dritten. Von der Beförderung, die vielleicht bald kommt. Nichts von Richard natürlich. Den lässt sie sauber aus. Das mit Richard ist auch nichts ernstes. Das geht vorbei. Im Grunde nutzt er sie ja doch bloß aus. Das ist ihr jetzt so langsam klar. Aber im Moment läuft es eben noch. Nach ihm wird ein anderer kommen. Ein neuer Mann, der ist, wie alle vor ihm. Einer, der sie nicht ernst nimmt, der ihr nicht zuhört. Der sie links liegen lässt, wenn sie auf ihn zählt. Genau wie Richard war Michael früher auch. Keinen Deut besser. Keinen Respekt, keine Achtung. Jetzt hat sich das geändert, natürlich. Jetzt ist er hier drin. Und jetzt braucht er sie. Sie kümmert sich. Erledigt, macht, ist da, kommt her. Bringt Dinge mit. Vor allem Bücher. Denn plötzlich liest er. Naja, jeder kann sich ändern.
Er versuchte, ihr in die Augen zu sehen, wich aber ihrem Blick immer wieder aus. Das Veilchen ist gut verheilt. Aber sie sieht es trotzdem. Nein, dazu sagt sie nichts. Hier drin ist es hart für ihn. und da passiert sowas schon mal. Aber da darf sie sich eben nicht einmischen. Ein paar der Regeln musste sie erst lernen.
"Letzte Woche hab ich mit meinem Anwalt gesprochen", seine Stimme war jetzt ganz leise. "Er hat gesagt, es sieht schlecht aus, mit der vorzeitigen Entlassung. Die Schlägerei im letzten Winter, damit hab ich mir wohl was versaut. Dabei war ich doch gar nicht...", er brach ab. Sie beide kannten die Geschichte. Er hatte nicht angefangen. Die anderen waren zu fünft. Und da hatte er den Stuhl genommen, und ihm einen von ihnen über den Kopf geschlagen. Nur hatte das ganze für alle Zuschauer wohl anders ausgesehen. Sie hatten ihn reingerissen, deshalb war sogar ein Besuchstermin ausgefallen. Und er hatte es jetzt hier noch ein wenig schwerer.
Und jetzt schon wieder das Veilchen. Den Rest konnte sie sich denken. Schläge waren nicht alles. Aber ihn kriegten sie klein. So wie er sie damals. Nur ein wenig härter vielleicht. So, wie es mit Richard noch werden würde, wenn sie nicht aufpasste. Aber das würde sie, diesmal würde sie die Kurve kriegen.
"Warum werde immer ich reingerissen?", ein paar Sätze hatte sie offenbar verpasst. "Ich weiß nicht, Liebling", ihre Hand wanderte über den Tisch und legte sich auf seine. "Ich tu doch gar nichts. Und am Ende bin ich der Dumme! Jedenfalls hat mein Anwalt gesagt, dass ich nicht rauskommen werde. Baby, das tut mir so leid. Ich wollte doch zu Dir zurück kommen. Nach Hause. Schon im Herbst. Und jetzt wird es noch dauern." Seine Stimme kippte ab und er räusperte sich umständlich, um es zu verbergen. "Immer hängt mir einer was an, und nie hat einer was gesehen!" Der Faustschlag auf die verkratzte Tischplatte ließ den Beamten an der Tür ein paar Schritte näher kommen, aber sie hob abwehrend die Hand. Nach einem strafenden Blick zog er sich zurück, ließ aber die Augen nicht mehr von ihnen. Sie freute sich auf den nächsten Monat. Da stand ihnen wieder das kleine Besucherzimmer zu. Der Vorteil für Verheiratete. Ein Mal im halben Jahr. Ganz allein, für ein paar Stunden. Jetzt war er anders, als vor der ganzen Sache. Entgleiste nicht mehr so schnell.
"Immer hängt mir einer was an, und nie hat einer was gesehen!", wiederholte er, leiser diesmal und ohne Faustschlag. "Ja, Baby, tut mir so leid. Ich weiß nicht, was ich tun kann, um Dir zu helfen!"
"Da kannst Du nichts für, Süße!", er lächelte ihr zögerlich zu. "Naja, so einwenig schon", unsicher fixierte sie die Resopalplatte. "Nein! Hör auf damit. Du hast getan, was Du konntest. Dass Du nichts gesehen hast, da kannst Du doch nichts zu. Hast ja alles versucht." In seinen Augen sammelten sich verstohlene Tränen. Er putze sich umständlich die Nase, um sie wegzuwischen.
"Ja", sie sah immer noch nach unten. "Aber jetzt lass uns mal von was Schönerem reden!", die gespielte Fröhlichkeit stand einen Moment zwischen ihnen, bis auch er sie aufnahm. "Ja, erzähl mal, wie geht es den Kindern?" Sie zögerten das Thema immer heraus. Damit verbrachten sie die letzte halbe Stunde. Dann noch ein paar Dinge, die sie besprechen mussten, bis schließlich der Beamte neben ihnen stand, und auf die Uhr deutete.
"Bis zum nächsten Mal", flüsterte sie. "Tust Du mir einen Gefallen?", er sah sie fast ein wenig scheu an – wie sehr er sich verändert hatte, in den zwei Jahren. "Jeden! Ich würde alles für Dich tun!" "Gib den Kindern einen Kuss von mir, ja? Ich würd’ sie so gern wiedersehen!", schnell drehte er sich um. Wohl, damit sie die Tränen nicht sehen konnte. Die Antwort blieb sie ihm schuldig. Schluckte schwer.
Schweigend ging sie zur Tür, nachdem er aus dem Raum geführt worden war. Die Prozedur zum Ausgang war nicht weniger belastend. Nicht weniger langwierig. Aber es war Gewohnheit. Und so, wie es aussah, würde es noch eine Weile dabei bleiben. Unter Umständen noch über zwei Jahre. Sie seufzte. Warum hatte er das vorhin sagen müssen. Darüber was damals passiert war, sprach sie nicht gern.
Das mit der Aussage hatte sie damals mit Absicht gemacht. Aber sie hatte nicht gewusst, wohin das führen würde. An das hier hatte sie nicht im Traum gedacht. Sie hatte ihn gehasst, wollte nicht mehr sein, wie sie gewesen war. Und da war sie, die Brücke in die Freiheit. Nur eine Aussage, und er wäre für immer aus ihrem Leben verschwunden. Weg. Und sie frei.
Dann hatte es begonnen, sich zu entwickeln. Besser, als sie je gewagt hätte, zu hoffen. Die Haft hatte ihn verändert. Er schien ein neuer Mensch zu sein. Ein wenig zumindest.
Einen Moment lang dachte sie daran, heute mit seinem Anwalt zu sprechen. Ihn jetzt rauszuholen. Aber dann verdrängte sie den Gedanken schnell wieder. Es lief gut. War nie besser gewesen. Es konnte nicht besser werden, wenn er rauskam.
Sie stieg in den Wagen, zog ihr Make-up nach und fuhr vom Parkplatz. Bis zum nächsten Besuch in vier Wochen. Sie würde wohl kommen. Ja, wahrscheinlich. Mal sehen.
[ 19.06.2002, 22:31: Beitrag editiert von: arc en ciel ]