EDV für Senioren - Wie alles begann
Bevor ich vor gut einem Jahr den verhängnisvollen Anruf tätigte, hatte mein Leben einige entscheidende Wendungen genommen. Beruflich sah es damals mehr als mau aus. Zwei Monate war es her, daß ich meinen Job an der Uni gekündigt hatte. Damit war die Promotion im Eimer gewesen.
Ach, dachte ich, Titel sind eh was für Doofe.
Also meldete ich frischen Mutes ein Gewerbe an; WebDesign und WebConsulting sollten fortan meinen Lebensunterhalt sichern. Anfängliche Achtungserfolge, die in der Vorstellung meiner Person bei interessierten Unternehmen ihren Ausdruck fanden, führten jedoch zu keinerlei Einkommenszuwächsen. Spätestens bei der Frage nach Referenzen mußte ich nämlich passen. Lediglich drei Websites, die ich auf meinem maroden PC zusammengefrickelt hatte, nannte ich mein Eigen. Webmaster war natürlich ich selbst. Da ich – wohl völlig zurecht – davon ausging, daß private Lyrikseiten meiner Reputation im harten Online-Business nicht gerade dienlich gewesen wären, verschwieg ich diesen Umstand geflissentlich. Marketingpolitisch ungeschickt hatte ich es zudem versäumt, eine Website für mein eigenes Online-Unternehmen zu programmieren; angesichts einer Fantastilliarde mehr oder weniger guter Konkurrenten ein entscheidender Wettbewerbsnachteil.
Es kam, wie es kommen mußte: man verabschiedete sich höflich, aber bestimmt von dem Mittdreißiger mit dem leeren DIN-A4-Block (kariert, 80 Gramm), den er anstelle einer durch Overhead und Beamer unterstützten multimedialen Präsentation seiner Fähigkeiten zu den Gesprächen mitgebracht hatte.
Angesichts finanzieller Nöte sah ich mich schnell gezwungen, neben meinem offensichtlich wenig zukunftsträchtigen Unterfangen eine weitere Einnahmequelle zu erschließen, frei nach dem Motto: Ich war nicht mehr ganz jung, und ich brauchte das Geld. So kam es, daß ich eines Tages im lokalen Käseblättchen die Annoncen für Stellenangebote durchstöberte. Tatsächlich wurde ich fündig. Zwischen halbseidenen Offerten wie „Reich durch Kugelschreiber zusammenbauen“ und „Probanden für Medikamententests gesucht (was übersetzt nichts anders als Probearsch für Zäpfchen bedeutete)“ entdeckte ich eine wahre Perle für Nebeneinkunftsmöglichkeiten: ein neugegründetes Nachhilfeinstitut suchte Dozenten sämtlicher Fachrichtungen. Flugs griff ich also zum Telefonhörer und vereinbarte mit dem frischgebackenen Unternehmerkollegen einen Termin in einem Cafe.
Wir begrüßten uns zur vereinbarten Zeit und betraten das Cafe. Herr Düsing machte auf mich einen nachhaltig schwulen Eindruck. So saß ich nun da und hoffte inständig, daß niemand der anderen Anwesenden dieses Geschäftstreffen für ein homoerotisches Stelldichein halten würde. Ich war zwar Single und sexuell ziemlich ausgehungert, aber dennoch hatte ich weder das Verlangen nach einem väterlichen Freund noch die Absicht, ihm unter dem Tisch orale Freuden zu bereiten. Ich wollte nur arbeiten.
Der bestellte Kaffee wurde von einer aparten Schwarzhaarigen gereicht. Ich lächelte sie an, aber scheinbar war ich ihr völlig schnuppe. Die Maus verzog sich, und ich schlürfte ein wenig von dem heißen Getränk.
Dann entwickelte sich ein Bewerbergespräch par excellence – so von Jungunternehmer zu Jungunternehmer.
„Schön, daß Sie die Zeit gefunden haben“, eröffnete er.
„Ja, freut mich auch, Herr Düsing.“
„Was können Sie denn so?“ Düsing nippte an seinem Kaffee, den kleinen Finger leicht abgespreizt.
„Ja, kommt drauf an. Einiges. Was machen Sie denn so?“
„Na ja, ich biete Nachhilfe für Schüler an. Alle Fäche, jedes Alter. Dann noch Erwachsenenbildung.“
„Ja, hm, und was konkret in der Erwachsenenbildung?“
„Alles!“ rief er selbstbewußt.
„Ah ja...“, lobte ich sein fundiertes Unternehmenskonzept.
„Was könnten Sie also unterrichten?“
„In Mathematik bin ich sehr gut. Wirtschaftsprüfung und Steuern habe ich studiert und jahrelang drin gearbeitet. Deutsch und Englisch sollten auch kein Problem sein. Ja, und dann noch den weiten Bereich der Telekommunikation, da hab ich schließlich auch gearbeitet.“
„Ach... was können Sie da so?“
„Wo jetzt?“
„Na, in der Telekommunikation.“
Dummkopf. Was fragst du so blöde? Drei Jahre an einem Lehrstuhl mit dem Schwerpunkt Telekommunikationswirtschaft sind nicht von Pappe. Wofür hatte ich ihm meinen wirren Lebenslauf in die Hand gedrückt? Da stand alles drin.
Es widerstrebte mir allerdings, meine natürliche Bescheidenheit mit Füßen zu treten und ihm mein einzigartiges Akademikerwissen aufzudrängen. Daher spielte ich einen anderen Trumpf aus.
„Ich kann zum Beispiel alles, was mit Webdesign zu tun hat. Bin ich ja schließlich mit selbständig. Also, konkret gesagt, unter anderem auch HTML.“ Eigentlich konnte ich gar nichts weiter, aber das mußte mein Gegenüber ja nicht wissen.
„Prima, das wird ja heute gern genommen“, sagte Herr Düsing.
Ich unterdrückte den Drang, ihm lasziv vor´s Knie zu treten.
„Ja, genau, deshalb ja auch meine Geschäftsidee“, nickte ich gequält.
„Hoffentlich haben Sie Erfolg damit. Können Sie Computer?“
Aha, auf die Frage hatte ich gewartet.
„Na klar kann ich Computer. Hardware und Software, rauf und runter. Kein Problem.“
„Fein, das möchte ich nämlich auch anbieten.“
„Äh... im Nachhilfebereich?“
„Nein, ich dachte da so eher an was für Senioren und so, wissen Sie? Ist eine große Marktlücke, habe ich letztens noch einen interessanten Artikel drüber gelesen.“
„Ja, die lieben Senioren... je oller, desto doller“, scherzte ich.
Vielleicht hätte er sich zu einer Gefühlsregung hinreißen lassen, wenn uns tatsächlich eine ausgelebte gleichgeschlechtliche Neigung verbunden hätte; so aber glotzte er mich einen Moment nur verständnislos an.
„Richtig, ein attraktives Marktsegment“, schwadronierte er dann wie weiland mein Marketingprofessor.
Yo man, that rules... du hast die Fachbegriffe drauf.
In Gedanken spielte ich Bullshit-Bingo. Bislang hatte ich zwei Begriffe durchstreichen können: Prima und attraktives Marktsegment. Eigentlich erforderten die korrekten Spielregeln, bei jeder hohlen Phrase laut BULLSHIT zu rufen, aber das verkniff ich mir dann doch. Ich überlegte, was wohl als nächstes kommen würde. Performance-Steigerung? Geschäftsfelderweiterung? Nachfrageinduzierter Personalabbau? Globalisierungsfalle? Haben Sie auch eine Visitenkarte?
Es gab so verdammt viele Möglichkeiten, aber Düsing nutzte sie nicht. Statt dessen fragte er:
„Können Sie auch Microsoft?“
„Und wie“, nickte ich eifrig, „kenne ich mich bestens mit aus. Nicht einfach so lala, sondern schon mehr.“
Geübt in der Kunst, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, begeisterte ich ihn derart von meinen sagenhaften Anwenderkenntnissen, daß er mich schlußendlich wohl für Bill Gates persönlich hielt.
„Prima. Ich denke, wir kommen ins Geschäft.“
„Das würde mich sehr freuen, Herr Düsing.“ Höflich schwätzte ich die jahrelang verinnerlichte Floskel daher.
„Hm... bleibt eigentlich nur noch eine Frage.“
Ich wußte, was jetzt kam. Ein Leben voller Vorstellungsgespräche hatte auch seine positiven Seiten. Der wölfische Ausdruck in seinen Augen machte mir klar: jetzt ging es um die Kohle.
„Und das wäre?“ tat ich unbefangen.
„Was stellen Sie sich denn so beim Verdienst vor? Ich muß aber gleich vorweg sagen, ich bin noch neu am Markt und kann keine utopischen Summen zahlen.“
Macht ja nix, Herr Düsing. Mein Bäcker bemißt die Preise seiner Waren schließlich nach den Nettoeinkünften der Kunden, nicht wahr?! Pappnase, ich bin auch noch neu am Markt, und deshalb muß ich utopische Summen verdienen.
„Ja, schwer zu sagen“, eierte ich herum. „Wo liegen denn ihre Grenzen?“
Meine Fresse, wie unbeholfen. Aber egal, jetzt war er am Zug.
„Tja, also maximal... ich meine, höchstens...“ eierte es zurück.
Alter, mach hinne. Ich hab einen Uniabschluß mit Prädikatsexamen, habe vor hunderten Studenten referiert und kann 1a rechnen. Unter 25 Euro die Stunde kriegst du mich nicht.
Schließlich brachte es Herr Düsing auf den Punkt:
„...öhm... sagen wir, zehn Euro fünfzig? Für ´ne Zeitstunde?“
„Abgemacht“, würgte ich hervor.
Zehn Euro fünfzig waren zwar eher eine Aufmerksamkeit als ein Honorar, aber von irgendwas mußte ich ja leben.
Während er seine spröden Lippen zu einer Gesichtsrosette spitzte und einen erneuten Schluck Kaffee trank, blickte ich noch einmal zum Nebentisch, an dem gerade das schwarzhaarige Schnuckelchen servierte. Allein um einen ihrer Ohrringe zu bezahlen, hätte ich aufgrund der just vereinbarten Unverschämtheit mindestens drei Wochen lang Kurse im fliegenden Wechsel durchführen müssen. Keine Chance.
Lichtjahre später hatten Herr Düsing und ich dann genug gesülzt. Ich durfte dozieren. Nur was stand noch nicht fest. Herr Düsing hatte noch keinen einzigen Kunden. Aber er würde sich dann bei mir melden, wie er mir jovial versicherte.
Die schwarze Maus brachte die Rechnung. Ich beachtete sie nicht weiter. Düsing lud mich mit einem süffisanten Lächeln ein – höhö, ich kann´s ja von der Steuer absetzen.
Gott sei Dank schien das sein einziger Beweggrund gewesen zu sein; Forderungen nach körperlichen Gefälligkeiten hat er jedenfalls nie gestellt.
So tappte ich also in die Falle. Tage später, als ich gerade durch den Park flanierte, klingelte mein Handy. Herr Düsing war´s.
„Grüß Sie, Herr Düsing.“
„Ebenso. Ich habe gute Nachrichten. In zwei Wochen beginnt ein Kurs. EDV für Senioren. Na, es bleibt doch dabei, oder?“
„Ja, ja, natürlich, ich freu mich schon“, frohlockte ich laienhaft.
„Prima, ich freu mich auch.“
Klar, daß sich der Schlingel freute. Wir vereinbarten einen Tag, an dem ich einen ersten Probeunterricht abhalten sollte. Als er aufgelegt hatte, schritt ich mit dem Gefühl, mein Fleisch und meinen Geist zum Discountpreis an eine Sklavengaleere verschachert zu haben, weiter.
Noch ahnte ich nichts von Düsing Senior oder Herrn Keil, geschweige denn von Frau Heuer oder gar Frau Müller. Das war auch besser so.