Eduards Aasgeier
Die Aufzugtüren im Büro öffneten sich vor Eduard und ein unheimlich großer grauer Vogel, mit dem gesenkten Hals eines alten Mannes, hockte im Lift und starrte ihn an. Feine Sandkörner rieselten aus seinem Federkleid und die großen Krallen tippten abwechselnd auf das Bodenblech, als ob das Tier darauf wartete, dass Eduard endlich einstieg.
Ein Aasgeier saß Im Aufzug. Keine Frage. Sein Kopf war kahl und seine Augen gelb wie die Wüste.
Eduard machte einen vorsichtigen Schritt zurück, hielt die Hände schützend vor sich, als würde er ein wildes Pferd zähmen wollen. Dann schlossen sich die Aufzugtüren wieder, der Aasgeier verschwand hinter ihnen und fuhr offensichtlich Richtung Erdgeschoss.
„Na Eddie, haben wir ein Gespenst gesehen?,“ fragte ein Kollege und fasste ihm im Vorbeigehen auf die Schultern.
„Ich glaube, ich muss wirklich nach Hause“, antwortete Eduard, rieb sich die Augen und blinzelte mehrmals. Er lockerte seine Krawatte und nahm die Treppe hinunter ins Parkhaus.
Unten im Parkhaus bemühte sich Eduard, schleunigst in seinen Wagen zu steigen und verriegelte dann von Innen die Türen.
Im Radio spielte „Deine Spuren im Sand“, von Howard Carpendale. Er drehte den Zündschlüssel um, fuhr zügig aus dem neonbeleuchteten Schlund der Kanzlei und bog dann direkt auf die Marktstraße. Sonnenlicht traf die Frontscheibe und blendete Eduard, so dass er die Augen zu schmalen Schlitzen kneifen musste.
Der Berufsverkehr regte sich heute wieder einmal rigoros rege und an der Kreuzung zum Marktplatz begann sein schwarzer Hemdkragen allmählich Feuer zu fangen. Eduard drehte die Lüftung auf. Nichts geschah. Das Belüftungssystem spuckte lediglich etwas Sand auf die Fußmatte, wie ein ausgetrockneter Wasserspeier, der sich sehr langsam von einem Dachgiebel übergab.
Sein Hintermann hupte und Eduard schreckte hoch. Die Kreuzungsampel schaltete bereits wieder von Grün auf Gelb. Er gab Gas. Schweiß lief ihm über die Stirn, und als Eduard sich mit dem Handrücken über das Gesicht fuhr, blickte er in den Rückspiegel. Seine Haut war so rot und verbrannt unter den Augen.
Und ein dürrer Hals mit kahlem Kopf beobachtete ihn von der Rückbank. Der Hals korrigierte die Schwankungen der Fahrt so aus, dass das graue Federkleid sich zwar auf und ab bewegte, der Kopf mit dem Schnabel jedoch auf einem perfekt austaxiertem Mittelpunkt zu schweben schien. Der Schnabel des Geiers erinnerte an eine spitze Fensterklinke, die Eduard hungrig angaffte.
Eduard trat auf die Bremse. Sein Hintermann ging ebenfalls in die Eisen und hupte wieder. Aber das störte Eduard kaum, denn er kletterte bereits, ohne den Gurt zu lösen, aus dem Wagen, landete mit allen Vieren auf dem Asphalt, kam wieder auf die Beine, kämpfte um Gleichgewicht, rannte dann in die nächstbeste Seitengasse.
Der Aasgeier hüpfte auf den Beifahrersitz und starrte ihm hinterher. Er plusterte die mächtigen Flügel auf.
Eduard war in einen Laden für Damenunterwäsche geflüchtet und sah sich besorgt um, ob der Geier ihm hierher gefolgt war. Die Deckenventilatoren bewegten sich nicht und er trug mittlerweile einen riesigen Schweißfleck auf dem Rücken, der vom Nacken zu den Achseln hinab gewandert war, und von den Achseln bis zum Steißbein. Es sah aus, als trüge er ein breites Kruzifix auf seinem Rücken.
Er heuchelte Interesse an der Abteilung für Büstenhalter und blickte immer wieder über die Schulter.
„Kann ich helfen?“, fragte eine Angestellte freundlich.
Eduard ließ den Büstenhalter los, den er willkürlich in die Hand genommen hatte, damit es nicht so aussah, als würde er sich nur hinter den Regalwänden verstecken.
„Helfen?“, fragte er, ein Auge auf die Eingangstür gerichtet.
„Soll es für die Frau sein oder für Frau Mama?“, fragte sie.
Eduard schüttelte den Kopf. „Ich würde gerne einen Aasgeier loswerden. Hätten sie da vielleicht etwas?“
Die Angestellte überlegte. „Wie alt ist ihre Schwiegermutter denn ungefähr?“
„Schon gut“, sagte Eduard und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Aus dem Hosenbein eines Mannequins im Schaufenster lief Sand auf das Linoleum.
Die Angestellte rief ihm hinterher, er solle doch so bald wie möglich wiederkommen. Dann winkelte sie beide Unterarme an und winkte. Sie erinnerte dabei stark an einen menschlichen Kaktus.
Sengende Hitze setzte Eduard zu. Alles tanzte vor seinen Augen. Er machte unregelmäßige Ausfallschritte, so dass andere Passanten ihm ausweichen mussten.
Er stolperte in eine ältere Frau, die daraufhin zu Boden fiel. Ihr Körper klatschte aufs Kopfsteinpflaster. Doch anstelle eines dumpfen Aufschlags, hörte man es nur prasseln. Die Haut der Frau wurde im Moment des Aufpralls zu Wüstensand und fiel in sich zusammen. Ihr leeres Kleid sank auf die Lache gelber Gesteinssedimente. Der Ehegatte der Frau war empört.
Eduard rannte weiter. Es wurde immer schwieriger, den Leuten auszuweichen.
Sein Knie streifte ein Kind, das daraufhin auseinanderfiel.
Er drohte vornüber zu kippen und hielt sich an den Schultern eines Mannes fest. Dieser sackte zu tausenden Einzelteilen auf Eduards Füßen zusammen. Nur noch seine Schultern hielt Eduard in den Händen. Sand knirschte in seinen Fäusten.
Die Leute formten eine schmale Gasse, durch die er hindurch lief. Sie feuerten ihn an, berührten ihn, flogen auseinander, klatschten ihm auf den Rücken, wehten vor sein Gesicht, warfen sich ihm um den Hals, explodierten dabei zu wirbelndem Feinstaub und blieben in seinen Haaren hängen. Eduard fiel erschöpft zu Boden.
Er erwachte in einer Umgebung, die aus endlosen Sanddünen zu bestehen schien. Ein großes Bruchstück der Boeing 747 ragte schräg aus einem Krater in den rostroten Horizont. Fußspuren führten den weiten Weg von dort bis zu Eduard und endeten an seinen am Boden liegenden Stiefeln.
„Ich bin immer noch hier“, wimmerte er und kauerte sich auf dem Wüstenboden zusammen.
Der Aasgeier hockte neben ihm und starrte in sein Gesicht hinab. Feine Sandkörner rieselten aus dem Federkleid und die großen Krallen tippelten abwechselnd auf den Boden, als ob das Tier darauf wartete, dass Eduard endlich einschlief.