Eduard und der Fisch
Eduard setzte sich auf den alten Klappstuhl und sah über den See hinaus. Es hatte leicht zu nieseln begonnen, doch er war noch nie der Typ gewesen, der sich über solche Naturgegebenheiten aufregte. Auf seinen nackten Unterarmen hatte sich eine dünne Wasserschicht gebildet, die er jetzt sanft wegwischte. Es dämmerte und er beobachtete, wie die Silhouetten der Buchen neben ihm nach und nach immer mehr verschwanden.
Er betrachtete seine Ausrüstung und kontrollierte, ob er alles dabeihatte. Dann knüpfte er die Teile der Angelschnur aneinander und fädelte die Schnur an die Route. Schließlich befestigte er einen Regenwurm am Haken. Die Vorbereitungen gingen ihm leicht von der Hand und das überraschte ihn nicht. Angeln war für ihn immer etwas Selbstverständliches gewesen, es hatte bereits in seiner Kindheit dazugehört.
Er warf die Angel aus, lehnte sich zurück und hörte den Vögeln zu. Er erkannte die Amseln mit ihrem hohen Gesang, dazwischen ein paar Buchfinken.
Lange passierte nichts. Es machte ihm nichts aus, doch nach einer Weile beschloss er dennoch, mit Zählen anzufangen. Er zählte auf vierzig, erst vorwärts, dann rückwärts.
Dana hatte sich immer über sein Zählen lustig gemacht, wenn sie beim Angeln dabei gewesen war. Was allerdings nur einmal vorgekommen war. Sie wippte hektisch auf ihrem Stuhl hin- und her, fragte immer zu, wie lang das denn noch dauerte. Dann fragt sie, was denn dieses blödsinnige Zählen solle. Er war überrascht, nicht von dem, was sie gefragt hatte, sondern von dem, was es bei ihm ausgelöst hatte. Es fühlte sich an, wie wenn sie eine Kerbe in sein Herz geschnitten hatte. Gleich darauf hasste er sich für diesen Gedanken. Er antwortete ehrlich, denn er war immer ein ehrlicher Typ gewesen: „Das Zählen erleichtert mir das Warten. Und es macht mich immer ein bisschen traurig, denn eigentlich bin ich niemals ungeduldig.“ „Ich weiß“, hatte sie leise geantwortet. Danach hatten sie beide geschwiegen.
Wenn er an diesen Abend zurückdachte, schmerzte die Kerbe in seinem Herzen. Doch er musste es akzeptieren. Sie war eben anders, ein anderer Typ. Einmal hatte sie ihm gesagt, dass er das Leben an sich vorbeiziehen lasse. Es hatte ihn getroffen, doch er hatte es hingenommen, ohne es zu kommentieren.
Dann, heute waren es genau acht Wochen und drei Tage her, hatte Dana ihn verlassen. Einen Grund hatte sie nicht genannt. Für einen Moment hatte er damals den Gedanken, sie wolle nur überredet werden, doch bei ihm zu bleiben. Natürlich verwarf er den Gedanken wieder, es war ihre Entscheidung, es war der Lauf der Dinge. Er spürte kurz einen Schmerz, doch dann fand er zu seiner alten Stärke zurück. Er hatte ihr hinterhergeschaut, als sie mit ihrem Koffer die Straße entlanggelaufen war. Und er hatte gewunken. Das gehörte sich doch.
Er spürte eine Bewegung in seiner Hand und fing an, die Angel vorsichtig aus dem Wasser zu ziehen. Nur leicht enttäuscht stellte er fest, dass der Fisch entkommen war. Das gehörte zum Angeln dazu, so wie der Regen zum Herbst gehörte.
Der Regen war inzwischen stärker geworden und Eduard lauschte lange Zeit dem heftigen Prasseln. Es war fast ein bisschen gespenstisch zwischen den Bäumen in der dunklen Regennacht zu sitzen und vermutlich waren all die anderen Fischer inzwischen gegangen. Doch er kannte diesen Ort wie seine Westentasche und Angst war nie etwas gewesen, was eine große Bedeutung in seinem Leben hatte.
Plötzlich ein heftiges Zucken, das musste jetzt wirklich ein dicker Fisch sein, dachte er. Er zog das Tier aus dem Wasser und umschloss es mit der rechten Hand.
Schon die Schönheit des Fisches brachte ihn aus der Fassung. Es war für ihn immer klar gewesen, dass diese Tiere nicht besonders schön waren. Einige gewöhnlich, mache sogar hässlich. Doch dieser Fisch hatte etwas Majestätisches, mit seinem silbrigen Schimmer. Doch dann sah er in die Augen des Tieres. Schwarz und unergründlich schauten sie zu ihm herauf wie zwei dunkle Murmeln aus Glas. Der Blick nicht unterwürfig, eher kämpferisch und stolz. Der Fisch zappelte so sehr und Eduard konnte in seinen Augen sehen, dass dieser Fisch nicht bereit war, aufzugeben. Dieses Wesen kämpfte. Bis zum Schluss.
Eduard nahm nur noch wahr, wie sich das Licht veränderte, plötzlich schien das Ufer an der anderen Seite des Sees zu glitzern und der Himmel rötlich zu werden. Doch das, was ihn am meisten überwältigte, war das Gefühl, intensive Zuneigung zu spüren. Die Zuneigung galt nicht nur dem Fisch, es war eher, dass sich eine Wärme in ihm ausbreitete und er von der Intensität seines Gefühls überflutet wurde. Er glaubte im Nachhinein, dass es ein schönes Überfluten war, doch er konnte er es nicht genau sagen.
In Zeitlupentempo nahm er den Fisch legte ihn behutsam zurück ins Wasser.
Danach saß er stundenlang auf seinem Stuhl, während die Angel neben ihm auf dem Boden lag. Er konnte nicht begreifen, was geschehen war. Er konnte nicht begreifen, was er getan hatte. Er hatte sich gegen den Lauf der Dinge aufgelehnt. Anders gehandelt, als er von sich erwartet hatte. War das Intuition? Fühlten sich so Menschen, die große Entscheidungen trafen?
Eduard schüttelte sich am ganzen Körper, um das soeben Erlebte abzulegen. Dann traf er eine zweite Entscheidung, dieses Mal bewusst, durchdacht. Es waren nur ein paar Momente gewesen und inzwischen fühlte er sich wieder wie der alte Eduard. Er würde sich niemals von intensiven Gefühlen leiten lassen. Gefühle war eine innere Regung, doch er glaubte an etwas viel Größeres. Er vertraute auf das Leben. Er nahm es, wie es kam und er hatte nicht das Recht, sich dagegen aufzulehnen. Er war nur einer von über sieben Milliarden.
Und vielleicht war es für andere Menschen das Richtige, ihre Bedürfnisse zu vertreten, ihr Ding durchzuziehen. Doch seine Stärke war schon immer gewesen, loszulassen und eine Entwicklung zuzulassen. Eine Entwicklung, die nicht er in der Hand hatte. Heute war etwas Seltsames mit ihm geschehen, doch jetzt war alles beim Alten. Er konnte sich wieder zurücklehnen.
Er machte einen neuen Regenwurm an den Haken und warf die Angel aus. Summte leise vor sich hin. Und wartete auf das, was das Leben ihm brachte.