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Eden
(...) Die Maßnahmen des 21. Jahrhunderts zum Schutz des Ökosystems kamen zu spät. Waren nicht weitreichend genug. Die Pflanzen haben ihr Wachstum eingestellt. Sich nicht mehr fortgepflanzt. Verschwanden. Langsam, über Jahrhunderte. Das war der Anfang vom Ende. Keine Pflanzen, kein Sauerstoff, keine Nahrung. Das Ozonloch wuchs ins Unermessliche. Die Strahlungswerte stiegen. Die Erde, einst blauer Planet, mit seinen grünen Oasen des Lebens, starb. Der Wissenschaft gelang es jedoch, einen Zufluchtsort zu schaffen: Eden. 300 km² großer Lebensraum. Umgeben von einem strahlungsbeständigen Schutzwall.
Allerdings stieß Eden an seine Grenzen. Die Ressourcen gingen zur Neige. Die Atmosphäre würde längstens weitere 500 Jahre stabil gehalten werden können. Deswegen wurde "das Programm" ins Leben gerufen. In Edens Gewölben lagerte die DNA von sämtlichen Pflanzensorten der alten Welt. Aus unerklärlichen Gründen, schlugen Nachzuchtsversuche fehl. Die Pflanzen wuchsen nicht. Als wollten sie die Menschen für die Frevel der Vergangenheit strafen. Dann entdeckten die Forscher, dass sich die menschliche DNA mit der der Pflanzen verband, wenn man das menschliche Immunsystem genügend schwächte . Die Züchtungen der Ersten Generation waren verkrüppelt und lebten nicht lange. Die humanoide DNA war zu dominant. Die Körper zu schwach für den Kampf beider Genstämme. Die Wissenschaftler waren verzweifelt. Und taten das Undenkbare. Sie nahmen die Kinder. Nicht die gesunden, kräftigen, sondern die schwachen, kranken. Sie modifizierten die DNA der Pflanzen so, dass sie nicht sofort vom Wirtskörper erkannt wurde, sondern langsam absorbiert werden konnte. Der Erfolg war verblüffend. (...)
(aus den "Chroniken des 51. Jahrhunderts")
"Alt wie ein Baum, möchte ich werden, genau, wie der Dichter es beschreibt..." Birk summt diese bekannte Weise vergangener Tage vor sich hin. Er hat sie erst neulich entdeckt, als er sich durch die Audiodateien der Bibliothek wühlte. Sie haben eine hervorragend ausgestattete Bibliothek hier, in Eden. Die Geschichte der Welt in Bild und Ton. Birk ist immer wieder fasziniert, wenn er darüber nachdenkt, welcher Wissensschatz hier lagert. Man könnte hundert Jahre in diesen Räumen verbringen und hätte doch nur einen Bruchteil gesehen. Ein Blick auf sein Chronometer sagt ihm, dass es Zeit ist, sich auf den Weg in den Behandlungstrakt zu machen.
Der Flur ist, wie alles in Eden, in einem Grünton gehalten. Birk hasst dieses Grün. Es ist unnatürlich, metallisch, falsch. Für die meisten Menschen hier, symbolisiert es jedoch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Für Birk ist es das Symbol für das Versagen der Menschheit. Es erinnert ihn daran, warum er hier ist. Warum er Teil des Programms ist.
"Ah, Birk, da bist du ja."
Die Begrüßung durch Professor Aborius fällt wie immer herzlich aus.
"Bereit, für eine weitere Injektion?"
Birk zuckt mit den Schultern.
"Habe ich denn eine Wahl?"
Der Professor sieht ihn verständnisvoll an. Bedächtig legt er Spritze und die, hellgrün leuchtende, Injektionslösung zur Seite.
"Komm mit, Junge."
Gemeinsam verlassen sie den in kühlem, sterilem Weiß gehaltenen Raum, der für Birk eine wohltuende Abwechslung zu all dem falschen Grün ist.
Lautlos schließt sich die Tür hinter ihnen. Sie durchqueren den langen, von zahllosen Kabinen gesäumten Flur.
Wortlos.
Birk weiß, was hinter den Türen geschieht.
Sein Schicksal ist nur eines von vielen.
Vor dem Aufzug bleiben sie stehen. Professer Aborius zückt seine Green-Card und hält sie vor den Scanner.
"Berechtigung für Ebene 12 erteilt", sagt die neutrale, aber angenehme Computerstimme. Birk blickt den Professor fragend an, aber dieser nickt nur und macht eine einladende Geste Richtung Aufzug. Dann drückt er die Taste mit der Aufschrift "Garten".
Einige Sekunden später gleiten die Türen des Aufzuges auseinander und Birk verschlägt es fast den Atem.
Vor ihm steht das bezaubernste Wesen, welches seine Augen je erblickt haben.
"Das ist Rose, meine Tochter", sagt Professor Arborius. "Rose, das ist Birk, einer meiner Schützlinge".
Rose drückt ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und nickt Birk freundlich zu.
"Freut mich, dich kennenzulernen". Ihre Stimme ist sanft, voller Wärme.
"Ja, mich auch", erwidert Birk. Ohne darüber nachzudenken, streckt er ihr seine Hand entgegen.
"Oh", haucht Rose, "du bist schon auf Stufe 7".
Birk zuckt zusammen. Will seine Hand zurück ziehen. Doch Rose ist schneller.
"Ich bin auf Stufe 6", sagt sie und legt ihre zart grünen, mit feinen Dornen geschmückten Finger auf die glatte, zartweiße, von dunklen Lentizellen durchzogene Borke seines Armes.
"Rose ist auch Teil des Programms", die Stimme des Professors erscheint Birk meilenweit entfernt. "Sie wird dir den Garten zeigen".
Dann wendet er sich an seine Tochter: "Ihr habt eine halbe Stunde. Länger kann ich die Injektion nicht aufschieben."
Ohne ein weiteres Wort wendet er sich ab, betritt den Fahrstuhl und ist verschwunden.
Rose nimmt Birk bei der Hand. "Los, komm, wir haben nicht viel Zeit."
Sie stehen vor einer weiteren Tür. Auch für diesen Raum ist eine besondere Berechtigung erforderlich. Rose tippt zum Öffnen einen Code in das unscheinbare Terminal ein und zum zweiten Mal an diesem Tag muss Birk nach Atem ringen.
"Das... ist..."
"Wunderschön, nicht wahr?", beendet Rose seinen Satz.
Vor ihnen liegt eine Welt, die Birk bislang nur aus Büchern kannte. Leuchtendes, fröhliches Grün lacht ihm entgegen. Das ist das Grün der Hoffnung, des Lebens. Birk saugt diesen Anblick in sich auf. Bäume wiegen ihre Kronen im Wind. Wiesen, saftig grün, sind bedeckt mit Blumen, deren bunte Blüten einen berauschenden Duft verströmen. Während sie durch die prachtvolle Schönheit des Gartens wandeln, überkommt Birk ein merkwürdiges Gefühl.
"Du fühlst es auch, oder?", fragt Rose leise.
Birk nickt. "Es ist, als würde ich nach Hause kommen."
Schweigend gehen sie weiter, bis sie auf eine Lichtung kommen. In der Mitte befindet sich eine gigantische Steintafel. Mit Namen. Einige dieser Namen kennt Birk. Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft, wird auch sein Name hier eingemeißelt werden. Als Mahnung für die folgenden Generationen. Zum Gedenken der Helden von Eden.
"Also ist es wahr. Wir werden Teil des Gartens.", flüstert er ehrfurchtsvoll. Er lässt seine Hand durch das Gras gleiten. Tränen rollen über seine Wangen. Er merkt es nicht.
(...)
Zwischenbericht:
Wie befürchtet zeigte Objekt 8IR-K, Reihe 97, Generation 5.3 kurz vor Eintritt in Stufe 8 des Programms Zweifel an der Fortführung der Prozedur. Dieses Verhalten kam nicht überraschend. Es ist bekannt, dass 34% aller Auserwählten in dieser Phase unbewusst an einen Abbruch denken. Für den erfolgreichen Abschluss ist es jedoch essentiell, dass das Objekt eine positive Einstellung gegenüber dem Programm behält, da die humane Genstruktur anderenfalls in dieser kritischen Phase dazu neigt Antikörper gegen die modifizierte Desoxyribonucleinsäure Typ Chlorophyllis florales 5.3 beta zu bilden, was in 92% der Fälle zu einer Autoimmunreaktion mit letalem Ausgang führt. Dies muss unter allen Umständen verhindert werden. Alleine in der vergangenen Periode haben wir durch diese Komplikation ein gutes Dutzend Objekte verloren. Ein Schaden von mehr als 2 Millionen Credits.
Im Fall von Objekt 8IR-K konnten wir die drohende Komplikation erfolgreich mit Hilfe der TLH-Methode* abwenden. Die emotionale Bindung zu Objekt R0S-3, Reihe 98, Generation 5.3 erfolgte in erstaunlich kurzer Zeit. Die Initialinjektion für Stufe 8 konnte wie geplant verabreicht werden. Mit weiteren Komplikationen ist nicht mehr zu rechnen. Die Wahrscheinlichkeit für das Erreichen der finalen Stufe 10 beträgt zum aktuellen Zeitpunkt 99,5%.
(...)
*TLH-Methode: Trust, Love, Hope-Methode - soll dem Objekt den Glauben an die Notwendigkeit des Programmes durch emotionale Bindung zu einem Objekt, bei welchem die Hoffnung auf eine bessere Zukunft stark ausgeprägt ist, zurückgeben.
(Auszug aus Zuchtprogramm R97G53)
3 Jahre später:
Raum Gamma-Zero-5. Birks Habitat. Es ist der Abend vor der letzten Injektion. Stufe 10. Sein letzter Abend im Habitat. Danach wartet der Garten auf ihn. Das lebendige, hoffnungsfrohe Grün des Gartens. Birk und Rose liegen eng umschlungen auf dem Boden. Sanft lässt Birk seine Triebe über Roses Blüten gleiten. Ihr Duft ist betörend.
"Morgen ist es so weit.", sagt er. "Wirst du mich besuchen?" Er sieht ihr tief in die Augen. "Jeden Tag, Liebster. Und in einem Jahr, werde ich dir folgen. Vater hat mir versprochen, dass mein Platz in deiner unmittelbaren Nähe sein wird. Wir werden für immer zusammen sein. In unserem Garten."
Es dauert lange bis Birk in dieser Nacht Ruhe findet. Rose liegt in seinen Armen. Oder dem, was einmal seine Arme waren. Mit etwas Phantasie erkennt man die ursprüngliche, menschliche Anatomie unter der Borke, die in den letzten Monaten immer dicker geworden ist. Birks ganzer Körper ist von ihr bedeckt.
Rose. Seine Rose. Liebevoll sieht er auf sie hinab. Zart, zerbrechlich, wunderschön.
Wäre Rose nicht gewesen, er hätte die Umwandlung nicht durchgestanden. Hätte auf Abbruch gedrängt. Den Rest seines Lebens als "Mischling" verbracht. Als Labordiener des Professors. Der Umgang mit Rose wäre ihm verboten worden.
Aber am meisten hätte seine Familie zu leiden gehabt. Die Schande, dass der eigene Sohn seinen Beitrag zum Wohle Edens nicht leisten wollte. Birk wusste, was das für die Familien der Abbrecher hieß. Professor Aborius hatte ihm bei einem gemeinsamen Abendessen vom Schicksal dieser Familien erzählt. Ruhig und sachlich und ohne Druck auszuüben. Trotzdem hatte diese Information ihre Wirkung nicht verfehlt.
Die letzten Zweifel hatte jedoch Rose ausgeräumt. Die sanfte Rose, die mit unumstößlicher Gewissheit an den Erfolg des Gartens glaubte. Die es als ihre Pflicht ansah, ihren Beitrag für die Zukunft Edens zu leisten. Mit ganzem Herzen, voller Vertrauen, sich der Konsequenzen bewusst.
Am nächsten Morgen ist es soweit. Stufe 10.
Birk liegt ganz ruhig in seinem Modul. Wie Schneewittchen in ihrem gläsernen Sarg.
Für einen Augenblick amüsiert ihn dieser Gedanke. Er muss sich zusammenreißen, um nicht in hysterisches Gelächter auszubrechen.
Durch die Glaswand sieht er den verzerrten Umriss von Professor Arborius.
Das Licht ist heute gar nicht so kalt wie sonst. Es ist gedämpft und warm.
Langsam füllt sich die Kammer mit Nährlösung.
Sie ist angenehm temperiert.
Als ihm die letzte Injektion verabreicht wird, fährt ein brennender Schmerz durch seinen Körper.
Das letzte was er sieht ist das Gesicht von Rose.
"Ich liebe dich", formen ihre Lippen.
Dann wird alles ganz ruhig.
Epilog:
Eine junge Frau streift durch den Garten. Hope. Auf ihrem blassen Gesicht haben sich Sommersprossen gebildet. Ein Resultat der Arbeit bei - wenn auch stark gefiltertem - Sonnenlicht. Unkraut jäten und die Gemüsebeete wässern. Jeden Tag kommt sie hierher. Ein Privileg.
Wenn Birk sie jetzt nur sehen könnte. Ohne Atemmaske. Im Sonnenschein.
Sie hatte ihm so viel zu verdanken. Ihm und den anderen. Sie alle hatten das.
Jedes Mal wenn Hope den Garten betritt, erinnert sie sich an Birks letzten Besuch zu Hause bei ihr und den Eltern. Sie war damals zehn Jahre alt und hätte ihren großen Bruder beinahe nicht wiedererkannt. Kein Wunder, Birks Therapie hatte begonnen als sie gerade vier geworden war.
Der anfängliche Schock der Eltern ob seiner körperlichen Veränderung war schnell großem Stolz und Bewunderung gewichen. Spätestens als das bildhübsche Blumenmädchen an seiner Seite ihnen erklärte, was es mit diesen Veränderungen auf sich hatte.
An diesem Abend hatte sie, Hope, zum ersten Mal ohne Hilfe der Sauerstoffmaske atmen können. Denn Birks Anwesenheit hatte dafür gesorgt, dass die Luft sauber, klar, atembar war.
Ein Wunder. Ein Ausblick darauf, wie das Leben in Eden sein könnte.
Und heute, etwa 16 Jahre später, sind sie dem Ziel so nah wie noch nie zuvor:
Die Pflanzen gedeihen prächtig. Schon bald will man versuchen, die ersten Ableger außerhalb von Edens Glaskuppel anzusiedeln.
Ihre Arbeit für heute ist getan. Bevor sie den Garten verlässt, besucht Hope noch kurz ihren Lieblingsplatz: Die kleine Lichtung, die Birks neue Heimat geworden ist.
Und da steht er, ein junger, kräftiger Baum mit saftig-grünen Blättern, die im Sonnenschein funkeln wie Smaragde. Um den schwarz-weißen Stamm rankt sich, einer zärtlichen Umarmung gleich, eine einzelne Rose. Ihre rubinroten Blüten verströmen einen bezaubernden Duft.